Dialogisches Denken

Rahel Varnhagens Briefwechsel mit dem Bruder Ludwig Robert

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rahel Levin Varnhagen repräsentiert als Briefschreiberin und Saloniere die jüdische Emanzipation im 19. Jahrhundert, wobei ihre umfangreichen Briefe lange Jahre überwiegend als Ausdruck einer großen Persönlichkeit ("die Rahel") gelesen wurden, die sich in ihren schriftlichen Äußerungen rein und unverstellt zeige. Die Verknüpfung dieser beiden Überlieferungsstränge ist allerdings problematisch: Entweder erscheint der Diskursort 'Salon' als Widerspiegelung der Briefkultur, oder der Brief gilt umgekehrt als Fortsetzung des Salongesprächs mit anderen Mitteln. Dabei wird jedoch vernachlässigt, dass 'Salon' und 'Brief' eher unvergleichlich sind, wenn man deren fundamentalen Unterschied zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit bedenkt. Erst Barbara Hahns verdienstvolle Arbeiten konnten verdeutlichen, dass die besondere schriftstellerische Leistung Rahel Varnhagens dadurch verdeckt bleibe: Indem man ihre Briefe isoliert und ohne die 'Gegen-Stimmen' las, übersah man das Neue und Ungewöhnliche an ihrer Schreibweise - ihre Fähigkeit und ihren Wunsch, in Dialogen zu denken. Folgerichtig stellte Hahn nicht einzelne Briefe, sondern Brief-Wechsel, das Netz von Korrespondenten und vor allem Korrespondentinnen in das Zentrum ihrer Betrachtung. Im scheinbar nebensächlichen Text-Geplaudere über Alltägliches und - auf den zweiten Blick - Epochales werden Ideen- und Gedankenkonstrukte ansichtig, die so außergewöhnlich sind, dass sie in keine der damals üblichen literarischen Genres gepasst hätten. Die bisher zum Teil edierten Briefwechsel mit Friedrich Gentz, Pauline Wiesel, Karl August Varnhagen, Alexander von der Marwitz, Auguste Brede und Minna von Zielinski sind relativ umfangreich und bilden ein Gewebe aus Brief und Gegen-Brief; gemeinsam ergeben sie ein kommunikatives Netz und kommentieren sich gegenseitig. Kontinuierliches Schreiben gibt es nur mit denen, die zusammen mit Rahel Varnhagen einen gemeinsamen Text - einen Brief-Wechsel - produzieren, der von keiner Autorschaft und keinem Namen von Bedeutung tangiert wird.

Indem man den Blick dezidiert auf Brief-Wechsel richtet, zerfallen die Kontexte, in denen Rahel Varnhagen bis ins 20. Jahrhundert überliefert wurde. In den bisher vorliegenden Lektüren war die jüdische Intellektuelle entsprechend der Präsentationsformen ihrer Briefe einfach zu verorten: als Frau, die gemeinsam mit anderen Frauen der Goethezeit oder der Romantik in schlecht edierten Anthologien überliefert und meist biographisch bearbeitet wurde und eben als Jüdin, die - je nach Lektürerichtung - entweder zum Vorbild oder zum abschreckenden Beispiel für die Geschichte jüdischer Deutscher stilisiert wurde. In diesem Kontext signalisiert das Signum "Rahel" einen Bruch in der Schreib- und Überlieferungspraxis. Statt den labilen Part in Korrespondenzen mit berühmten Autoren der Zeit zu bezeichnen, ist ihr Name das Zeichen eines Korrespondentennetzes, in dem die hierarchischen Anordnungen von Lesen und Schreiben durchquert werden. Die unter der Leitung von Barbara Hahn und Ursula Isselstein herausgegebene außerordentlich verdienstvolle "Edition Rahel Levin Varnhagen" beansprucht daher als Dekonstruktion dessen gelesen zu werden, was bisher unter der Fixierung "Rahel" zu verstehen war: ein Produkt der Überlieferung, auf dem sich die Sedimente einer turbulenten und symptomatischen Geschichte abgelagert haben. Rahel, der jüdische Vorname, mit dem keine Autobiographie im 18. oder 19. Jahrhundert unterzeichnet werden konnte, ist nie das Signum eines Textes. Erst nachdem Rahel als Antonie Friederike Varnhagen von Ense ihr Leben abgeschlossen hatte, wird aus diesem Namen ein Buchtitel ("Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde", hg. von Karl August Varnhagen von Ense, Berlin 1833). "Rahel" ist also das Zentrum eines gewissermaßen 'merkwürdigen' Textes. Auch wenn er an der Chronologie als Korsett des autobiographischen Schreibens orientiert ist, fehlt im die Instanz des Autors. Zwar hat Rahel Varnhagen ihr "Buch Rahel" selbst geschrieben, als ob es eine Autobiographie wäre, aber sie kannte es nicht und konnte es nicht durch ihre Signatur autorisieren. Die einzelnen Textmosaiken, die im Nachhinein "das Buch Rahel" ergaben, waren zu ihren Lebzeiten in alle Richtungen zerstreut.

Karl August Varnhagens Editionsvorbereitungen wurden erst im nationalsozialistischen Deutschland überschritten. In merkwürdiger Parallelität entstanden zwei Projekte die symptomatisch für die Überlieferungsbemühungen der Rahel-Forschung in dieser Zeit waren. Aus dem riesigen Fundus der Rahel-Sammlung wurden ausgerechnet zwei Briefwechsel ausgewählt, die eine ähnliche Problematik signalisieren. Die Briefe Friedrich de la Motte Fouqués an Rahel und die Korrespondenz mit ihrem Bruder Ludwig Robert; beide sind kontrapunktisch um die Problematik "Deutsche Dichter und Jüdinnen" gruppiert. Während Hans Karl Krüger entsprechend dem Ton der Zeit in Rahel eine Gefahr für den Dichter Fouqué sah, die seine Produktivität lähmte, überlieferte Erich Loewenthal, der 1944 in Auschwitz ermordet wurde, die produktive Freundschaft der schriftstellernden Geschwister und das Leben einer wichtigen jüdischen Berliner Familie. Während Krüger von der Notwendigkeit schreibt, "den eigenen Lebensraum gegen jeden fremdrassigen Eindringling unerbittlich zu verteidigen", wird Loewenthal Opfer eben dieser furchtbaren Selektion. Die weiteren großen und verdienstvollen Briefausgaben Friedhelm Kemps und die zehnbändige Rahel-Bibliothek von Konrad Feilchenfeldt, Uwe Schweikert und Rahel E. Steiner machen einen großen Bogen um die umfangreichen Briefwechsel mit der Familie, das heißt mit ihren drei Brüdern und deren Frauen und Kindern, mit Mutter und Schwester sowie Cousinen und anderen Angehörigen. Dabei sind diese Konvolute (insgesamt etwa 1.200 Briefe) mit die umfangreichsten von Rahels Korrespondent. Für die Rekonstruktion der Geschichte des deutschen Judentums im 18. und 19. Jahrhundert findet sich hier ein einzigartiges Material, das in seinem Umfang und der ansichtig werdenden Qualität sonst wohl nur von den großen und berühmten jüdischen Familien wie den Mendelssohns überliefert ist.

Der Brief-Wechsel Rahels mit ihrem Bruder Ludwig Robert, mit Intervallen über beinahe vierzig Jahre geführt, liegt jetzt mit Hilfe der Handschriften der Jagiellonischen Bibliothek Krakau von der Turiner Germanistin Consolina Vigliero im Rahmen der "Edition Rahel Levin Varnhagen" erstmals so vollständig wie möglich ediert und kommentiert vor. Diese Texte sind weit mehr als ein Berliner Familiengemälde in einem jüdischen Haus, spiegeln sich in ihnen doch die Themen der Zeit: Kunst und Wissenschaft, Literatur, Musik und Theater, Privates und Öffentliches sind die Themen, die sich in den Briefen abwechseln und eine außergewöhnliche Darstellung der gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Diskurse der damaligen Zeit bieten. Der Brief-Wechsel spiegelt die Geschichte einer verzweifelten Assimilation zweier jüdischer Intellektueller an die deutsche Bildungsgeschichte. Folgerichtig ist im letzten Brief Rahels vom 9. Juli 1832 die Rede vom "Sich selbst erschaffen"; konsequenter lässt sich die Emanzipation aus der jüdischen Herkunft, dem "Geburtsfehler", wie beide Geschwister betonen, wohl nicht denken. Im Status jäher Verzweiflung über die "Schmach" erklärt die "falschgeborene" Rahel unmissverständlich: "Der Jude aus uns, muß ausgerottet werden; das ist heilig wahr, und sollte das Leben mit gehen." Dementsprechend vollzieht sich in diesem Brief-Wechsel, wie Consolina Vigliero in ihrem Nachwort hervorhebt, "die literarisch-publizistische Initiation und Karriere Ludwigs unter der Führung seiner Schwester wie in einem Bildungsroman". Liepmann Levi wählt den Namen Ludwig Robert und den Weg des Literaten im Zeichen des gerade erschienenen "Wilhelm Meister", der den beiden Geschwistern rasch zum Lebensbuch wird. Die mühselige Laufbahn des Schriftsteller-Bruders durchzieht folgerichtig den Brief-Wechsel in den Extremen bodenloser Selbstüberschätzung und qualvoller Depression. Der "Polterabend- und Geburtstagsdichter von ganz Berlin" erwirbt er zwar ein wenig Theaterruhm und bringt es zu reger publizistisch-kritischer Produktion, seiner ironischen Selbsteinschätzung, er sei "ein ausgebrannter Krater, der nie gebrannt habe", wird man jedoch kaum widersprechen wollen.

Erheblichen Anteil an diesen Misserfolgen hat der kritische Furor, mit dem Ludwig Robert gegen die literarischen Größen der Zeit zu Felde zog, darunter interessanterweise viele Gäste des schwesterlichen Salon-Diskurses, wie die Schlegels, Arnim, Schleiermacher, Jacobi und Hegel. Den Gegen-Kanon zu den befehdeten Literaten bilden Fichte, Pestalozzi und - natürlich Goethe: die "drei größten Deutschen", allesamt Propheten einer neuen "evangelischen Erziehung der Menschen zur Freiheit", so dass die "Wanderjahre, Linhart und Gertrud und die Staatslehre, drei Theile Eines und desselben Buches sind", das Psychopharmakon gegen die "Weltkrankheit" und die jüdische Variante des Weltschmerzes ist. Auch für Rahel ist Goethe-Kult das entscheidende Remedium: "Es ist nie Jemand in meiner Seele gestanden wie Goethe; was ich liebte mein Lebenlang waren nur Formen für das wie ich mir dem seine Seele dachte. Zeitlebens schmachtete ich nach ihm: so lang ich schmachtete." Im Unterschied zur Mehrheit ihrer schreibenden Zeitgenossen unterhielt Rahel Varnhagen nie einen direkten Briefwechsel mit Goethe; sie schrieb ihm in Zeitschriften und Büchern, und seine Antworten erreichten sie auf demselben Weg oder in Briefen an ihren Ehemann Karl August. Da das Schreiben über/an Goethe immer den Umweg über den Druck nahm, bezeichnet sein Name einen ungewöhnlichen Ort im kommunikativen Netz ihrer Briefe: "Goethe" ist der, der niemals antwortet - ein Zeichen dafür, dass jede Adressierung auch ein Verfehlen bedeutet. Doch gerade dies scheint wiederum eine Bedingung für Rahels Brief-Wechsel insgesamt zu sein: Die Texte über Goethe sind Dialoge, von denen einige sogar von einer ganzen Gruppe von Schreibern gemeinsam produziert wurden. Goethe ist daher in dem Brief-Wechsel Rahels mit ihrem Bruder (und nicht nur dort) ein Schrift- bzw. Lektüreeffekt, der die Rahel-Forschung zu unterschiedlichen Deutungen nötigte. Bekanntlich sah Hannah Arendt darin die bewusste Flucht aus der eigenen Geschichte und Existenz in die emphatische Assimilation, während Käte Hamburger das eine "Irreführung, ja Verfälschung" nannte und auf der genuinen Formation von Rahels Lebensentwurf durch das Goethesche "Gedenke zu leben" bestand.

Auch und gerade in der Goethe-Adoration wird die Unmittelbarkeit der Kommunikation, der Witz, die (Selbst-)Persiflage der literarischen und publizistischen Stellungnahmen der Geschwister erkennbar, die diesen Brief-Wechsel auch für den heutigen Leser lebendig erscheinen lassen. Dazu trägt in nicht unerheblichem Maß auch der kenntnisreiche, fundierte und mit viel Geduld erstellte Kommentar Consolina Viglieros bei, der die Vielfalt an Familiennachrichten, Gesellschaftsklatsch, Theater- und Konzertberichten, Ratschlägen, literarischen Diskursen und eigenen Ängsten ob der Positionierung im deutschen Gesellschafts- und Bildungsleben überhaupt erst zu erschließen vermag. Auch wenn die Heterogenität von Rahels mündlichen und schriftlichen Aktivitäten in keinen einheitlichen Diskurs zu transformieren ist, ermöglicht dieser hervorragend edierte und kommentierte Brief-Wechsel Rahel Varnhagens mit Ludwig Robert, ebenso wie der 1997 von Barbara Hahn herausgegebene Brief-Wechsel mit Pauline Wiesel, eine Neu-Lektüre der Texte Rahels und ihrer Fähigkeit, in Dialogen zu denken.

Titelbild

Rahel Levin Varnhagen: Briefwechsel mit Ludwig Robert.
Herausgegeben von Consolina Vigliero.
Verlag C.H.Beck, München 2001.
1014 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3406482562

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