Das Lichtbild als neues Medium

Eva-Monika Turck über Thomas Manns Verhältnis zur Fotografie

Von Gerhard MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerhard Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Autorin widmet sich einem bisher vernachlässigten Aspekt, einem "vermeintlichen Randthema" des Werks von Thomas Mann, und untersucht sein "Verhältnis zur Fotografie". "Der Fotoapparat, der am Schluss der Novelle 'Der Tod in Venedig' fremd und unterwartet auftaucht, war der Auslöser [...], um den fotografischen Bildern im Werk von Thomas Mann nachzuspüren."

Zum einen hat Eva-Monika Turck versucht, Bildvorlagen aufzuspüren und darzustellen, die Thomas Mann gekannt, vor Augen gehabt und als Materialien für seine literarischen Schöpfungen sich angeeignet hat. Zum anderen ging sie den Abbildungen seiner Person nach ("Durch die Fotografie wurde sein Gesicht öffentlich") und versammelt zahlreiche Hinweise darauf, wie der Autor Fotografien von sich und seiner Familie einschätzte und behandelte. Sie zeigt auch, inwiefern sich Thomas Manns Beurteilung des neuen - technischen - Mediums Fotografie gewandelt hat.

In diesem Zusammenhang reproduziert sie Manns Beitrag für die "Berliner Illustrirte Zeitung" "Die Welt ist schön", den Mann im Zuge einer Ausstellung der Neuen Sachlichkeit 1928 geschrieben hatte. War er zuvor der Fotografie gegenüber skeptisch, so heißt es nun, indem er sich mit Lichtbildern Albert Renger-Patzschs befasst: "Lichtbild-Aufnahmen, in denen Fertigkeit und Gefühl eine solche Verbindung eingehen, daß der Versuchung, sie als Werke eines Künstlers, als Kunstwerke anzusehen, schwerlich zu widerstehen sein wird. - Photographien - ich kenne die Widerstände humanistischer Prüderie, die sich bei diesem Wort erheben, aber ich teile sie nicht. [...] Es gibt heute viele Photographien in der Welt, die den Namen des Künstlers schweigend, aber nachdrücklich durch ihre Leistungen in Anspruch nehmen."

Schließlich geht Eva-Monika Turck den Reflexen nach, die Fotografien in ausgewählten Werken Thomas Manns spielen, indem sie insbesondere "Gladius Dei", "Tonio Kröger" und den "Tod in Venedig" heranzieht. Die diesbezüglichen Passagen aber befriedigen nicht. Der Impetus der Verfasserin, die von ihr gefundenen Momente interpretatorisch produktiv zu machen, kann nicht überzeugen; das Ziel, eine Wechselwirkung zwischen Fotografie und Literatur darzulegen, wird nicht erreicht. Dem hohen Anspruch, den das Vorwort formuliert, dass "erstaunliche neue Einsichten in sein Werk gewonnen werden" könnten, wird diese Veröffentlichung nicht gerecht. Ich teile die Meinung der Rezensentin des Deutschlandfunks, Andrea Gnam: "So ansprechend der Band auf den ersten Blick erscheinen mag, so enttäuschend ist leider der Inhalt." (Gesendet am 5. April 2004, siehe unter www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/255055/.) So ist denn auch die Formulierung des Titels - "Fotografie wird Literatur" - heikel, überzogen - und irreführend; eher zutreffend wäre die (sicherlich traditionell-langweilige) Version "Fotografie und Literatur".

Dies sei an drei einschlägigen Beispielen belegt, bezogen auf drei wichtige Texte Thomas Manns, den genannten Erzählungen, die in Turcks Abhandlung an prominenter Stelle stehen. Zuerst "Tonio Kröger". Eingeleitet wird dieser Abschnitt mit der Aussage: "Die künstlerische Inspiration durch ein technisches Medium kann Thomas Mann bisher nicht eingestehen. Seine Bedenken teilt er in der Novelle 'Tonio Kröger' mit." Danach heißt es: "Im Wettstreit von Fotografie und Sprache fühlt sich der Poet Tonio Kröger dem Naturwissenschaftler Hans Hansen [...] überlegen." Man ist verwundert, denn in der Novelle werden zwar Bücher mit Pferdebildern erwähnt, doch dem "Don Carlos" gegenübergestellt; und nur bezogen aufs einfache Leben, auf die "Wonnen der Gewöhnlichkeit", sind sie sinnvoll zu interpretieren. Dass zudem hinter Hans Hansen Thomas Manns Schulfreund Armin Martens steht, ja dass auch sein Bekannter Paul Ehrenberg, der Pferdebilder malte (!), ihn angeregt hat, kommt leider nicht zur Sprache. Womöglich wären auch hier Fotos zu eruieren gewesen?

Anlässlich von "Gladius Dei" werden ausführlich Anmerkungen zum Piktoralismus der Jahrhundertwende gemacht, bis hin zu Erörterungen über Fotografie allgemein und speziell Aktfotografie. Leider kein Wort davon, dass es in jener Novelle überhaupt um die Reproduktion geht, häufen sich in ihr doch Hinweise auf Nachgebildetes, Imitiertes. Dass das heikle und anstößige Madonnenbild als Fotografie existiert, kann nicht als maßgeblich angesehen werden. Verdienstvoll ist freilich, dass Turck zwei Madonnenbildnisse Murillos wiedergibt und sie dem bisher als alleiniges Vorbild angesehenen Werk Franz von Stucks, "Die Sünde", kontrastiert.

Schließlich "Der Tod in Venedig". "Unübersehbar ist der Fotoapparat, der unvermittelt am Ende der Novelle [...] auftaucht. Auch andere Leser haben ihn entdeckt und sich über die scheinbar herrenlose Kamera gewundert." Den zweiten Satz liest man irritiert, er suggeriert eine große Entdeckung. Wo bleibt sie? Turck will hinaus auf die "Verschmelzung zweier Medien", "Licht-Bild und Sprache", doch zur Plausibilisierung kommt es nicht.

Die triftigen Hinweise der bisherigen Sekundärliteratur aber, hiermit verweise der Autor auf den Dreifuß, den Tripodos der Seherin von Delphi, und auf Apollo, den Gott des Lichtes, des Maßes und der Form, werden beiseite geschoben und in eine Fußnote verbannt. Man vergleiche nur Werner Frizen, "Thomas Mann. Der Tod in Venedig" (1993). Frizens illustrierender Materialanhang bringt übrigens ausgezeichnete und in manchem Punkt bessere Reproduktionen als Turck, so vor allem Hermes, einen Satyr sowie den Totentanzfries aus dem Beichthaus St. Marien in Lübeck. Ein eklatanter Irrtum Turcks dürfte sein, dass Gustav Mahler als leibliches Vorbild für den Todesboten, den Wanderer im Portikus des Münchner Friedhofs, gedient habe. Mahler vielmehr hat dem Helden der Novelle, Gustav Aschenbach, sogar der Vorname ist derselbe!, die äußere Gestalt geliehen. Thomas Mann selbst hat dies geschildert. Kein Hinweis auch auf das leibhaftige Vorbild für den schönen polnischen Knaben, auch kein Foto - was dem ureigenen Zweck von Turcks Publikation doch entsprochen hätte! Dass es Wladyslaw Moes war, ist seit vielen Jahren bekannt. Ein Foto findet sich so in dem hervorragenden - und in manchen Stücken viel wichtigeren und instruktiveren - Band Jürgen Kolbes: "Heller Zauber. Thomas Mann in München 1894-1933" (1987); etliche Fotos, die Turck wiedergibt, finden sich hier (etwa L. v. Hofmann, "Die Quelle", und Aufnahmen aus Nidden), dazu viele andere, die im vorliegenden Zusammenhang essentiell sind, so etwa die Portraitserie Thomas Manns.

Was im Formalen sehr irritiert, ist der Umgang mit der neuen Rechtschreibung. Turck zitiert die traditionellen Brief- und Werkausgaben der vierziger bis siebziger Jahre, aber sie verzerrt Thomas Manns Texte, indem sie sie ohne Umschweife der heiklen reformierten Orthographie unterwirft, ein schlimmer und ärgerlicher Fauxpas (unverständlich auch im Hinblick auf den S. Fischer Verlag, der das Buch in Lizenz von Prestel übernommen hat). Mann schrieb doch niemals "dass"; "Aufsehen erregendes Stück" oder "Fotografie" usw.; nein, nach den zugrunde gelegten Ausgaben jedenfalls muss es lauten "daß", "Photographie" (im Plural "Photographieen"), "aufsehenerregendes Stück" usf. Gleiches gilt für seine Briefpartner und andere Zitierte. Hin und wieder stimmen die Zitate auch im Wortlaut nicht.

Thomas Mann und die Fotografie also. Hat er sich nicht auch mit dem Telefon und mit dem Grammophon befasst? Sprach er nicht im Rundfunk? Er fuhr wohl auch mit dem Automobil und stieg ins Flugzeug. Erwarten uns jetzt auch beflissene Spezialabhandlungen (vielleicht existieren sie schon) zu jenen seinerzeit neuen Medien und Technologien? Andererseits: Eva-Monika Turcks Buch ist gut lesbar, verfällt in keinen Fachjargon und ist elegant und interessant gestaltet. Es hält sich fern von der unübersehbaren Thomas-Mann-Sekundärliteratur - doch verbirgt sich hier zugleich ein Dilemma (wie anlässlich der Novellendiskussion wohl auch deutlich geworden ist).

So legt man diese Untersuchung unbefriedigt-resignierend zur Seite. In den Bann der Mann'schen Prosa gerät man aber doch wieder. Bei der erneuten Lektüre stieß ich auf eine Stelle, die mir unter dem Aspekt der Vorlagen, die er für seine Literatur schöpferisch nutzte, ergänzend-kritisch wichtig scheint - Photographie ..., nun gut. Sie stehe hier am Ende. Unter dem Titel "Erlebnisse, die zu Werken wurden" steht in den "Nachträgen": "[d]aß mir der Begriff der Erfindung künstlerisch niemals sehr hoch gestanden hat und daß ich die Deutung des Erlebnisses immer für die eigentliche produktive Leistung gehalten habe. Ich darf oder muß von mir sagen, daß ich niemals etwas erfunden habe. [...] So ist z. B. die offenbar symbolische Verhaftungsszene im 'Tonio Kröger' und so sind sämtliche Erscheinungen des 'Tod in Venedig' genau der Reisewirklichkeit nachgeschrieben."

Titelbild

Eva-Monika Turck: Thomas Mann. Fotografie wird Literatur.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
112 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3596161398

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