Theaterguru und Flugzeugbauer

Zum 90. Geburtstag von George Tabori

Von Stephan LandshuterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Landshuter

Am 24. Mai feiert einer der zweifellos wichtigsten Theatermacher der letzten dreieinhalb Dekaden seinen 90. Geburtstag. Dass man George Tabori heute so bezeichnen kann und muss, ist eigentlich erstaunlich. Denn Tabori kam erst als Mittfünfziger Anfang der 70er Jahre aus Amerika nach Deutschland, um auch hier zu Lande seine radikale Vorstellung von Theater durchzusetzen, die er in den 60er Jahren in Lee Strasbergs "Actor's Studio" kennengelernt hatte. Diese Art der kompromisslosen Extremkunst, bei der die Schauspieler ihre Rollen so lange mit sich herumtragen und entwickeln, bis sie die Rolle gewissermaßen "sind" und nicht mehr "spielen", stieß lange Zeit auf Unverständnis. Anfangs weigerten sich etablierte Schauspieler, mit dem für seine unkonventionellen Übungen und Psychospiele gefürchteten Szeneneuling zu arbeiten. Junge, zu allem bereite Schauspieler jedoch, die Wege aus dem Theatermief suchten, empfingen ihn mit offenen Armen: Im Bremer Theaterlabor beispielsweise, das Tabori von 1975 bis 1978 leitete, hungerte das gesamte Ensemble bei den Proben einige Wochen exzessiv, bevor es, gewissermaßen werkgetreu ausgemergelt, eine Adaptation von Kafkas "Hungerkünstler" aufführte.

Diese Art von künstlerischem Extremismus verschreckte den bürgerlichen Theaterbesucher naturgemäß, manch anderer belächelte diese Art von Theater, und Tabori geriet ein wenig in den Ruf eines Gurus, der mit ein paar ihm hörigen halbverrückten Schauspielern Steuergelder vergeude. Das war zwar blanker Unsinn, zeigt aber, wie schwer es Tabori lange Zeit hatte, Anerkennung zu finden außerhalb eingeweihter Insider-Kreise. In den Jahren 1987 bis 1990 versuchte sich Tabori noch einmal als Leiter einer kleinen eingeschworenen, experimentellen Theatergruppe, dem "Wiener Kreis". Dieses Experiment scheiterte jedoch vor allem daran, dass Tabori zwar ein inspirierender Spielleiter, aber gewiss kein talentierter Intendant war. Tabori wechselte peu à peu und zunächst ein bisschen widerwillig an die Wiener "Burg", an der er schließlich seine größten Erfolge feiern sollte. Unter Claus Peymann genießt er seitdem, auch nach dem Wechsel ans Berliner Ensemble, völlige Narrenfreiheit.

Der Durchbruch als Dramatiker gelang Tabori eigentlich erst im Alter von 68 Jahren, als er 1983, zum 50. Jahrestag der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, das Stück "Jubiläum" schrieb und in Bochum inszenierte. In dieser verstörenden Szenencollage kommen die Opfer des NS-Regimes wieder aus ihren Gräbern, weil die Wiederkehr des faschistischen Denkens sie nicht in Frieden ruhen lässt. Wie schon das surreale KZ-Drama "Die Kannibalen", mit dem Tabori 1969 seinen ersten großen Erfolg in Deutschland hatte, greift auch dieses Stück das Thema die Greueltaten der Faschisten auf und versucht - in wohltuend anti-hochhuthscher Manier - keine moralinsaure, rührselige "Aufarbeitung" der Vergangenheit und ebenso keine ritualisierte Gedächtnisfeier, sondern eine wahrhaftige Auseinandersetzung jenseits aller Konventionen. Niemand anders als ein Jude, dessen Vater im KZ umkam, hätte diese Dramen schreiben können und dürfen.

Von nun an wurde Tabori mit Preisen und Anerkennung überschüttet, und mit seinem dritten großen Erfolg, der hochnotkomischen farce en noire mit dem provokanten Titel "Mein Kampf", die er 1987 in Wien urinszenierte, war er endgültig zu den wichtigsten Dramatikern der Zeit aufgestiegen. Dieses Stück, in dem ein junger Kunstmaler namens Adolf Hitler im Jahre 1908 in einem Wiener Asyl auf den Juden Schlomo Herzl trifft, leider nicht auf der Kunstakademie zugelassen wird und danach erst zu dem wird, als den wir ihn kennen, wurde eines der meistgespielten zeitgenössischen Stücke an deutschen und österreichischen Theatern. Tabori hatte sein Stilgemisch aus Grausamkeit und Komik endgültig als Markenzeichen etabliert.

Sein opus maximum, das wundervolle Stück "Goldberg-Variationen", inszenierte Tabori als 78-Jähriger im Sommer 1992, dem Jahr, in dem er, als wohl wichtigste Auszeichnung überhaupt, den Georg-Büchner-Preis zugesprochen bekam. In den Hauptrollen glänzten Gert Voss als Gott/Regisseur und Ignaz Kirchner als Regieassistent beziehungsweise Gottes alttestamentarischer Dauerlaufbursche in wechselnden Rollen von Jonah bis Jesus. Tabori verschränkt die beiden Ebenen "Theater" und "Altes Testament" so gekonnt, dass sie sich an keiner Stelle des Textes trennen lassen: So wird gleichzeitig das Alte Testament zur Inszenierung eines monomanischen Gottes und der Raum des Theaters zum Kosmos eines egozentrischen Regisseurs.

Was danach folgte an Stücken, war Variation der bisherigen Themen: "Requiem für einen Spion" (1993) und "Die Ballade vom Wiener Schnitzel" (1996) beispielsweise waren schon nicht mehr ganz so großartige Dramen, die aber vor allem aufgrund der Phantasie und des Einsatzes von Gert Voss bei ihren Urinszenierungen dennoch Erfolge wurden.

Unvergesslich bleiben auch viele von Taboris Beckett- oder Shakespeare-Inszenierungen: "Warten auf Godot" (1984) mit Thomas Holtzmann und Peter Lühr oder "Fin de partie" (1998) mit Gert Voss und Ignaz Kirchner. Beide Abende begannen jeweils mit einer Art Probensituation, bei der die Schauspieler nach und nach in das Stück hineinrutschten. Die beiden letztgenannten Schauspieler hatten auch im Wiener "Othello" von 1990 Publikum und Kritik zu Ovationen hingerissen. Tabori machte aus Shakespeares Tragödie ein mit viel Körperlichkeit angereichertes Kammerspiel in einem in den Zuschauerraum hineinragenden Boxring. Gert Voss schwärmt über die Zusammenarbeit mit George Tabori: "Es war, als würden zwei Leute gemeinsam ein Flugzeug bauen. Die Begegnung mit George Tabori war für mich, als würde ich fliegen lernen."

Seit gut zehn Jahren ist es zum Topos geworden, dass Tabori mit dem Theater aufhören möchte, er es aber nicht schafft - und das ist gut so. Denn immer wieder gelingen ihm wunderbar leichtfüßige Inszenierungen, wie diejenige von Lessings Einakter "Die Juden" (2003) am Berliner Ensemble, in denen man nichts von Altersschwäche spürt; zudem schreibt er weiter fleißig an seinen spielerisch-leichten autobiographischen Fragmenten, deren zweiter Teil im Herbst bei Wagenbach erscheint. Wollen wir hoffen, dass Tabori auch die nächsten zehn Jahre nur davon redet, am Theater aufzuhören, es aber nicht tut.