Ungedeckte Schecks

Winfried Schröder stellt Typen radikaler Moralkritik auf den Prüfstand

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der eine, seit langen Jahren verheiratet, verleugnete das mit der Haushälterin gezeugte Kind. Der andere bekannte sich an dessen Stelle zur Vaterschaft. Offenbar ein wahrer Freundschaftsdienst, den Engels Marx damit leistete. Nun nimmt zwar das Lob der Freundschaft bereits in den Ethiken antiker Philosophen wie etwa Epikur, Platon, Aristoteles, oder bei den Kyrenaiker breiten Raum ein, doch dürften sie dabei kaum an die zwielichtige Art der Männerkumpanei gedacht haben, wie sie die Begründer des Wissenschaftlichen Sozialismus hier an den Tag legten.

Nicht für das tugendhafte oder verwerfliche Privatleben von Marx und Engels interessiert sich Winfried Schröder, doch umso mehr für ihre theoretisch-philosophisch begründete Moralkritik, deren Stichhaltigkeit er in seiner Studie über "[m]oralische[n] Nihilismus" überprüft. Schröders Kritik der Kritik, gilt nicht nur dem Autor des "Kapitals" und seinem Finanzier, sondern reicht von Nietzsche, der einen "erheblichen Teil der bis dahin entwickelten moralkritischen Argumente" versammelte und eine "nichtmoralische Handlungsorientierung" entwarf, über Kierkegaard, der die "keineswegs abwegige Überzeugung" vertrat, "man müsse, als Christ bereit sein, die Moral zu suspendieren", und Marquis de Sade", einer "exzentrische[n] Figur der Religionsgeschichte", deren "bizarre" Moralkritik die Frage nach der "Herkunft der moralischen Nihilismus aus der Traditionskritik der Aufklärung" aufwerfe, bis hin zu den Sophisten, die bereits in vorchristlicher Zeit die damals üblichen Moralvorstellungen in Frage stellten. Sie alle wollten jegliche Moral ad absurdum führen, indem sie mit dem Verletzungsverbot und dem Verbot willkürlicher Ungleichbehandlung die beiden fundamentalen Elemente der "Minimalmoral" "außer Kraft setzen". Keine dieser Moralkritiken hat Bestand, wie der Autor in seinem angesichts der Schwierigkeiten des Gegenstandes mit erstaunlich leichter Feder geschriebenen Buch überzeugend darzulegen versteht.

Was etwa Marx und Engels betrifft, denen die Moral "nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse" war, so weist er ihnen ohne größeren Aufwand eine "sorglose Argumentation" und eine "pauschale Simplifizität" nach, die im Ideologievorwurf an sämtliche Moral münden. Schröders Kritik der Moralkritik von Marx und Engels bezieht sich neben dem "Kapital" vorrangig auf die "Deutsche Ideologie", die von den späteren Klassikern des Marxismus in den Jahren 1845 und 1846 verfasst wurde und somit fast noch als Jugendwerk gelten kann. Keine der darin vertretenen Positionen, so betont der Autor, haben sie später "modifiziert oder gar zurückgenommen". Allerdings mag ihnen das auch nicht sonderlich dringlich erschienen sein, wurde das Werk doch zu ihren Lebzeiten nicht publiziert, sondern erschien erst postum im Jahre 1932. Dies schwächt Schröders Kritik allerdings nicht, denn tatsächlich haben Marx und Engels in anderen, selbst publizierten Werken ganz ähnlich argumentiert. Sowohl in den ökonomischen Analysen als auch in der Geschichtsphilosophie und der Revolutionstheorie von Marx und Engels spielen moralische Überlegungen "überhaupt keine Rolle". Wie sie in dem gemeinsamen, "[g]egen Bruno Bauer und Konsorten" gerichteten Werk "Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik" unterstreichen, handelt es sich nicht etwa darum, "was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt", sondern vielmehr darum, "was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird." Denn "[s]ein Ziel und seine geschichtliche Aktion" ist in "der ganzen Organisation der heutigen bürgerlichen Gesellschaft sinnfällig, unwiderruflich vorgezeichnet". Eine die metaphysische Geschichtsauffassung der beiden Theoretiker ebenso bezeichnende wie entlarvende Stelle, auf die Schröder erstaunlicherweise nicht Bezug nimmt. Doch auch ohne sie führt er den Nachweis, dass Moral den Begründern des Wissenschaftlichen Sozialismus zufolge "eine (obendrein schädliche) Illusion ist - und dies aus Gründen, die sich aus tragenden Elementen ihres Lehrgebäudes ergeben".

Ähnlich wie Marx und Engels, so zeigt Schröder, bedient sich auch Nietzsche, der ansonsten denkbar wenig mit den sozialistischen Revolutionstheoretikern gemein hat, "[g]enealogische[r] Großthesen", um seine moralfeindlichen Thesen zu plausibilisieren, und ähnlich wie deren Thesen gleichen auch die seinen "ungedeckten Schecks".

Dabei bündelt sich in Nietzsches Werken ein "erhebliche[r] Teil" der bis dahin evolvierten moralkritischen Beweisführungen. Angesichts der "argumentative[n] Haltlosigkeit" von Nietzsches Moralkritik, die erst in dessen Spätwerk bis "zur äußersten Konsequenz vorangetrieben" sei, kann sich der Autor durchaus "dankbarere Aufgaben" als deren Darstellung und Kritik vorstellen und antizipiert die "verdrießliche Rückfrage distanzierter Beobachter", ob deren Widerlegung wirklich des "umständlichen Nachweises" bedurfte. Dennoch unterzieht er sich der ungeliebten Aufgaben, und zwar mit durchschlagendem Erfolg. Auch bleibt die von ihm erwartete Rückfrage aus. Dazu ist das Buch - neben allem Erkenntnisgewinn, den es bereit hält - einfach zu unterhaltend geschrieben.

Zwar seien Nietzsches "spektakulärste Gedanken, die er mit dem für ihn charakteristischen Gestus des 'Fluches' ausstieß", philosophisch meist die "unerheblichsten", und die Begründungen seiner "donnernd auftrumpfenden Ungeheuerlichkeiten" kämen "auf dünnen Beinchen" daher; selbst das Wort "Kritik" mag Schröder auf den "Hauptexponenten der modernen Moralkritik, als der Nietzsche gilt", kaum anwenden, sollte damit mehr gemeint sein als "beliebige Formen des Widerspruchs, der Ablehnung oder des Unbehagens". Denn Nietzsche, stellt Schröder zurecht fest, "predigt" statt "sorgfältig entwickelte These[n]" zu bieten. Auch werde sich mit anderen Standpunkten kaum gründlich auseinandergesetzt. Dennoch habe Nietzsche Einwände vorgebracht, "die sich nicht schon aufgrund ihrer Präsentationsform einfach vom Tisch wischen" ließen.

Schröder präpariert zwei zentrale Argumente aus Nietzsches Kondemnation der Moral heraus: zum einen beruhe das geläufige Moralverständnis auf falschen Tatsachen, und zum anderen werde es "durch einen höheren, nicht-moralischen Wert - das Leben - gebrochen". Darüber hinaus konfrontiere Nietzsche die Moral mit einen vermeintlich "überlegenem Gegenmodell", das von Nietzsche als "Ethik der Vornehmheit" oder als "vornehme Moral" bezeichnet wird.

Nietzsche glaubt die Moral widerlegt zu haben, indem er ihre Genealogie bloßlegt, doch Schröder rechnet ihm vor, dass diese Genealogie hierzu Sachverhalte vor- und belegen müsste, die zeigen, dass die Moral in einer bestimmten historischen Situation geschaffen wurde, um Funktionen zu erfüllen, "in deren Licht man ihr die Anerkennung versagen muß", und es müsse klar sein, dass diese Funktionen nach wie vor das Wesen dieser Moral ausmachen. Doch ist Nietzsches historisch-genetischer Einwand, wie Schröder minutiös nachweist, "weit davon entfernt", dies zu leisten.

Was nun die Höherwertigkeit des Lebens gegenüber der Moral betrifft, so wird diese, wie Schröder zeigt, von Nietzsche bloß deklariert, nicht aber argumentativ belegt. Der Moralkritiker Nietzsche kommt also "mit vollem Mund" daher, hat wohl auch einige - Schröder konzediert gar, es seien "nicht wenige" - ethikgeschichtliche und psychologische Erkenntnisse zu bieten, "aber er steht, was triftige Gründe für seinen Immoralismus angeht, mit leeren Händen da".

So überzeugend Schröders Ausführung zu Nietzsches Moralkritik auch ausfallen, so bleibt dennoch das eine oder andere Detail zu kritisieren. Dass etwa Kants moralphilosophischer Ansatz zu Fall käme, wenn Nietzsches These vom Sklavenaufstand in der Moral die Genesis moralischer Begriffe zutreffend beschriebe, weil den moralischen Werten und Normen dann eine "ontologische Selbständigkeit" nicht länger zuzusprechen wäre, ist nicht nachzuvollziehen. Kants Kategorischem Imperativ ontologischen Status zusprechen zu wollen, scheint mir einem Kategorienfehler zu entspringen. Auch Schröders weitere Argumentation, dass Kants Moralphilosophie getroffen wäre, falls Nietzsches Kritik des "objektivistischen Verständnisses moralischer Werte" Stich halten würde, da - so zitiert er Kant - die "Lossagung von allem Interesse" das "specifische Unterscheidungszeichen" zwischen moralischen Imperativen und nicht-moralischen Klugheitsregeln ist, überzeugt nicht. Denn sich in seinem moralischen Handeln von jeglichem Interesses lossagen, heißt nicht, dieses Interesse nicht zu haben, sondern nicht um dieses Interesse willen zu handeln. Denn dann wäre es nicht länger moralisch, sondern nurmehr moralgemäß. Das entscheidende Kriterium für moralisches Handeln im Unterschied zu bloß moralgemäßem Handeln ist, dass nicht das eigene Interesse das Motiv dieses Handelns ist, sondern die Achtung vor dem moralischen Gesetz. Ob die Handlung dem Interesse des Handelnden tatsächlich dienlich ist oder nicht, spielt dabei keine Rolle und muss auch dem Handelnden ganz gleichgültig sein. Ein Gläubiger etwa darf durchaus davon überzeugt sein, dass der moralischen Tat Gottes Lohn zwar nicht auf dem Fuße, aber doch postum folgt. Nur darf er sie nicht um dieses Lohnes Willen ausführen, sonst verweigert Gott die Zahlung, und er geht leer aus, denn die Tat war nicht moralisch, sondern bloß moralgemäß. Nur Gleichgültigkeit gegenüber Gottes Lohn sichert dem Gläubigen diesen zu.

Schröders Durchgang durch die Geschichte der Moralkritik schließt mit einem Blick auf die gegenwärtige Moralphilosophie. Heute, so konstatiert er, sucht man vergeblich nach radikal-destruktiven Ansätze eines moralischen Nihilismus vom Schlage Marxens oder Nietzsches, de Sades oder Kierkegaards, die allerdings sämtlich unter demselben "Rechtfertigungsnotstand" litten: sie "dekretieren bloß, daß die von ihnen propagierten nichtmoralischen Werte einen Vorrang vor Moralprinzipien genießen".

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Winfried Schröder: Moralischer Nihilismus. Typen radikaler Moralkritik von den Sophisten bis Nietzsche.
Frommann-Holzboog Verlag, Hamburg 2002.
284 Seiten, 56,00 EUR.
ISBN-10: 3772822320

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