Gelehrte Mikrologie des Wahrheitssuchers

Michel Henri Kowalewicz untersucht "Lessing und die Kultur des Mittelalters"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Religion und Kultur, Kultur und Religion - bei kaum einem anderen Literaten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeitigt diese Verbindung interessantere Ansätze als bei dem Universalgelehrten Gotthold Ephraim Lessing. Initialpunkt für diesen 'fruchtbaren Augenblick' der Koinzidenz ist Lessings Amtsantritt als Bibliothekar in Wolfenbüttel im Frühjahr 1770. Unmittelbar vor Aufnahme der Tätigkeit an der Herzog August Bibliothek trifft Lessing im April desselben Jahres in Braunschweig den dortigen Professor der Theologie, Konrad Arnold Schmid, der ihn mit einem Editionsvorhaben vertraut macht, das den frisch ernannten Bibliothekar sofort anziehen muss. Schmid hat in der herzoglichen Bibliothek ein Manuskript des Theologen Adelmann aus dem 11. Jahrhundert gefunden und gibt es im Frühjahr unter dem Titel "De veritate corporis et sanguinis Domini ad Berengarium epistola" (Von der Wahrheit des Leibes und des Blutes des Herrn, ein Brief an Berengar) heraus. Angeregt durch die Diskussionen mit Schmid und wohl auch durch seine ständige Suche nach gelehrten Trouvaillen, ist Lessing auf eine Fährte gestoßen, die er in Wolfenbüttel weiterverfolgen und die ihn tief in den Abendmahlsstreit des 11. Jahrhunderts verwickeln wird. Lessing, der Autor des ersten bürgerlichen Trauerspiels in deutscher Sprache, des Fabelbuchs, antiquarischer Schriften, des "Laokoon" oder auch des Theaterprospekts der "Hamburgischen Dramaturgie" - was treibt einen wie ihn in die Mikrologie des Mittelalters?

Diesem seit Jahrzehnten zu beklagenden Forschungsdesiderat geht Michel Henri Kowalewicz in seiner Arbeit über "Lessing et la culture du Moyen Age" mit Akribie und einem erstaunlichen Gespür für die latenten Paradoxien des Lessingschen Denkens nach. Ansichtig wird auch in der Beschäftigung mit mediävistischen Themen die Janusköpfigkeit Lessings: Aufklärer und skeptischer Melancholiker, sachlicher Kritiker und Polemiker, Liebhaber der Vernunft, der stets auf der Suche nach der Sprache des Gefühls ist und zuweilen die Bereiche jenseits von Vernunft und Sprache interessanter zu finden scheint, Verteidiger des Theodizeegedankens mit stets offenkundig-verborgener Todessehnsucht. Kowalewicz bezeichnet Lessings Beschäftigung mit dem Mittelalter als die eines "Gelehrten", ähnlich wie sich dies auch für dessen Auseinandersetzung mit altertumswissenschaftlichen Themen konstatieren lässt. Aber auch Lessings gelehrte Feldzüge auf mediävistischem Terrain sind von einer interdisziplinären Begegnung zwischen Sprache, Literatur, Kunst, Philosophie und Geschichte bzw. ihren Hilfswissenschaften bestimmt. Im Zentrum der Auseinandersetzung mit dem Mittelalter steht fraglos die Entdeckung der Ideen des Berengar von Tours, auch wenn Lessings Beschäftigung mit dem mediävistischen Text eine weit über den in ihm verhandelten Abendmahlsstreit hinausgehende Tragweite zukommt.

Lessings "Berengarius" ist der erste umfangreiche Text nach der "Hamburgischen Dramaturgie", seinem - neben dem "Laokoon" - literaturkritischem Hauptwerk, und der Schrift "Wie die Alten den Tod gebildet", seiner philologisch-antiquarischen Empfehlung für die Stelle des Wolfenbütteler Bibliothekars. Beider Grundzüge, rhetorische Brillanz und gelehrte Mikrologie, verbinden sich in der kirchengeschichtlichen Studie über den Philosophen Berengar von Tours, der in seinen Texten den Vorzug der Vernunft vor der Autorität verfocht und sich damit in Lessings Augen als ein Geistesverwandter präsentierte. Lessing ist sich sehr wohl über die theologische Brisanz seines "Berengarius" im Klaren, aber die Dramaturgie dieser Schrift führt die Adressaten auf ein Gleis, das den dogmatischen Inhalt elegant umschifft und statt dessen den Blick für einen Mann schärft, der allen Anfeindungen herrschender Institutionen stand gehalten und so der Aufklärungsarbeit an der 'Wahrheit' einen unschätzbaren Dienst erwiesen hat. Lessings Engagement ist unverkennbar und schlägt sich in sehr persönlich gehaltenen Formulierungen nieder, die weder dem Gegenstand noch einer gelehrten Abhandlung darüber angemessen erscheinen. Zugleich aber führt er seine ganze Belesenheit und philologische Scharfsinnigkeit ins Feld, die den Leser und Adressaten seiner "Briefe", als den man unschwer seinen Mitstreiter in Sachen Berengar, Konrad Arnold Schmid, ausmachen kann, in detektivischer Beweisführung überzeugen sollen. Dramaturgisch geschickte 'Rhetorik' und trockene 'Buchgelehrsamkeit', diese für Lessing überhaupt so kennzeichnende Verbindung, die Wilfried Barner einmal treffend "Theater-Philologie" genannt hat, zeigen sich hier mit einem Raffinement, das sich in der Folge noch verfeinern wird und schon deutlich auf die theologiekritischen Schriften der kommenden Wolfenbütteler Jahre vorausweist.

Lessings Verdienst in der Beschäftigung mit Berengar von Tours besteht vor allem darin, das Bild einer Zeit im theologischen und machtpolitischen Umbruch zu zeichnen und einen philologischen Kampfplatz zu konturieren, auf dem er wenige Jahre später - wenn auch mit weniger Gefahr für Leib und Leben - selbst stehen wird. Einen "Begriff von dem Ganzen" geben zu wollen, wie es in der Vorrede heißt, bedeutet für ihn vor allem, Strukturen und Verfahrensweisen eines theologischen Streits zu kontextualisieren und zugleich in seiner intellektuellen Unsinnigkeit zu erweisen. Dabei nimmt er, ähnlich wie zuvor schon in den frühen 'Rettungen' (1753/54), Partei für den einzelnen, der sich ohne andere Macht-Mittel als das Gewicht seines Denkens und seiner Argumente gegen den Macht-Apparat einer sich selbst kritisch befragenden Institution stemmt und dafür die Gefahr auf sich nimmt, seine Texte als Teile eines 'häretischen Diskurses' verdammt zu sehen und als "Ketzer" gebrandmarkt zu werden. Für Lessing ist dies erkennbar mehr als nur ein historischer Problemfall, wenn er bemerkt: "Das Ding, was man Ketzer nennt, hat eine sehr gute Seite. Es ist ein Mensch, der mit seinen eigenen Augen wenigstens sehen wollen [...] Ja, in gewissen Jahrhunderten ist der Name Ketzer die größte Empfehlung, die von einem Gelehrten auf die Nachwelt gebracht werden können". Als eine solche "Empfehlung" stellt Lessing seinen Zeitgenossen Berengar von Tours vor Augen, indem er einmal mehr mit seiner 'Rettung' nach dem Vorbild Pierre Bayles verfährt. Ähnlich wie dieser unterzieht Lessing sein Material der kritischen Prüfung, korrigiert Fehler der Überlieferung, räumt Vorurteile weg und erprobt neue Sichtweisen. So bringt er nicht allein die Bedeutung der Tatsachen zur Geltung, gewinnt nicht allein den Boden der empirischen Wirklichkeit, sondern demonstriert darüber hinaus die Abhängigkeit der Tatsachen von den Prämissen der bis dahin betriebenen gelehrten Betrachtungen - ein Verfahren, dass Ernst Cassirer nicht zu Unrecht als die "Geburtsstunde der Geisteswissenschaften" bezeichnet hat.

Mit seinem "Berengarius" betritt Lessing jedoch in sehr viel entschiedener Weise als mit seinen frühen 'Rettungen' die Arena des theologischen Disputs, die von 1770 an seine philologischen und psychischen Kräfte absorbieren sollte. Darüber hinaus ist der "Berengarius" im übergeordneten Sinne ein vehementes, sehr persönliches und pathetisch vorgetragenes Plädoyer für die "Schätze der Wahrheit", die sich der Mensch in der Abgrenzung von den Vorurteilen seiner Kindheit erworben hat und die zu behaupten und zu verteidigen eine Grundfrage einer intellektuellen Geste geworden ist: "Denn wozu diese fruchtlosen Untersuchungen, wenn sich über die Vorurteile unserer ersten Erziehung doch kein dauerhafter Sieg erhalten läßt? wenn diese nie auszurotten, sondern höchstens nur in eine kürzere oder längere Flucht zu bringen sind, aus welcher sie wiederum auf uns zurück stürzen, eben wenn uns ein andrer Feind die Waffen entrissen oder unbrauchbar gemacht hat, deren wir uns ehedem gegen sie bedienten? Nein, nein; einen so grausamen Spott treibet der Schöpfer mit uns nicht. Wer daher in Bestreitung aller Arten von Vorurteilen niemals schüchtern, niemals laß zu werden wünschet, der besiege ja dieses Vorurteil zuerst, daß die Eindrücke unserer Kindheit nicht zu vernichten wären".

Es ist das unbestrittene Verdienst von Kowalewicz' Arbeit, diesen für Lessings letztes Lebensdrittel so entscheidenden Text aus seiner Isolation befreit zu haben und damit zeigen zu können, dass er nachfolgende Texte bis hin zum "Nathan" stärker beeinflusst hat, als dies in der Forschung mitunter wahrgenommen wird. Kowalewicz hebt hervor, dass Lessings Ansatz ausschließlich von intellektuellen Gesten geprägt war und jede Begeisterung für das Mittelalter - ganz im Gegensatz zur griechischen und römischen Antike - dezidiert ausschloss. Umso mehr ist diese Studie zu loben, vermag sie doch Lessings Entdeckung des Mittelalters nicht nur in umfassender Weise darzustellen und dabei insbesondere den Reichtum seiner Arbeiten als herzoglicher Bibliothekar in Wolfenbüttel deutlich zu machen, sondern auch als wesentliches Mosaikteilchen der biographie intellectuelle dieses einzigartigen Gelehrten des 18. Jahrhunderts herauszustreichen.

Titelbild

Michel Henri Kowalewicz: Lessing et la culture du Moyen Age.
Georg Olms e.K. Verlagsbuchhandlung, Hildesheim 2003.
452 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-10: 3615002806

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