Die Janusköpfigkeit des sokratischen Judentums

Anmerkungen zu neueren Arbeiten der Mendelssohn-Forschung

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Es ist wahrlich nicht zuviel von ihm gesagt, daß er der Sokrates seines Zeitalters war", bemerkte Karl Philipp Moritz 1786 über den kurz zuvor verstorbenen Moses Mendelssohn. Mendelssohn engagierte sich wie kein zweiter im 18. Jahrhundert für die Belange der Juden, publizierte auf philosophischem und literarischem Gebiet und war berühmt für einen Zirkel von Intellektuellen, der sich regelmäßig bei ihm zu Hause traf, um allgemeine wie jüdische Themen zu diskutieren. In der Regel sieht man in ihm den ersten modernen Juden, und im jüdischen kulturellen Gedächtnis repräsentiert er die Möglichkeit, dass eine kreative Teilnahme der Juden an der modernen säkularen Kultur nicht mit der Verleugnung des traditionellen jüdischen Glaubens und seiner Praxis einhergehen muss. Die Würdigung als deutscher Sokrates von Seiten der meisten Zeitgenossen, der jüdischen ebenso wie der christlichen, wird auch durch die Nachrufe und Biographien belegt, die nach 1786 erschienen. Und fast immer wird dieser Ruf mit Mendelssohns populärstem und meistverkauftem Text in Verbindung gebracht, dem Buch "Phaedon oder über die Unsterblichkeit der Seele", das 1767 im Verlag von Friedrich Nicolai in Berlin erschienen war und danach noch viele Auflagen und Übersetzungen erlebte.

Vor allem durch die Wahl von Titel und Thematik des "Phaedon" hatte sich Mendelssohn selbst in die Tradition des antiken Philosophen und des sokratischen Philosophierens gestellt. Der Sokratismus war im 18. Jahrhundert allerdings kein geschlossenes System. Wollte man Mendelssohns philosophisches Denken einer zeitgenössischen philosophischen Richtung zuordnen, so müsste man in seinem Fall vielmehr von einem "leibniz-wolffischen" und einem "rousseauistischen" Judentum sprechen. Der von Daniel Krochmalnik in seinem Mendelssohn-Beitrag zum Sammelband "Die philosophische Aktualität der jüdischen Tradition" eingeführte Begriff des "sokratischen Judentums" bezeichnet dagegen eine Verschmelzung allgemeiner, jüdischer und aufklärerischer Horizonte. Der Signifikant "Sokrates" verweist auf eine philosophische Utopie, die zwar durchaus auch dem historischen Sokrates gerecht werden soll, aber vor allem eine Projektionsfläche für die widersprüchlichsten zeitgenössischen Entwürfe war. "Sokrates" stand in der Imagologie der Aufklärung für den mutigen Wahrheitssucher, der alle religiösen Dogmen und alle scholastischen Systeme in Frage stellte und für den Lehrer, der mit der Kunst der mündlichen Disputation nicht nur sklavische Ignoranz, sondern sogar den Tod siegreich bekämpfte. Krochmalnik hat überzeugend nachgewiesen, dass Sokrates' Kampf gegen die fraglosen Dogmen der Vorsokratik in Mendelssohns Konzeption die Dogmenlosigkeit des Judentums entsprach, "seinem mündlichen Lehrgespräch und der Schriftkritik die mündliche Lehre und das Schriftverbot der Rabbinen, seiner erotematischen Mäeutik die Kultsemiotik der jüdischen Zeremonialgesetze, dem Problem der sokratischen Ethik die Lösung der jüdischen Religionsästhetik und schließlich seinem philosophischen Heil die religiöse Eschatologie".

Die Zeitgenossen haben diese erfolgreiche Selbstpositionierung Mendelssohns so entgegenkommend aufgenommen, dass sogar der Schweizer Geistliche Johann Caspar Lavater, als er Mendelssohn 1769 zur Taufe aufforderte, in seiner gedruckten Zueignung an denselben schrieb, er solle tun, "was Socrates gethan hätte", wenn er die Argumente von Charles Bonnets "Untersuchung der Beweise für das Christenthum" nicht hätte widerlegen können: nämlich sich taufen lassen. Selbst in der skandalträchtigen Zumutung des Bekehrungsansinnens bei einem Gegner wie Lavater wird also die Parallele von Mendelssohn und Sokrates hergestellt. Anfänglich berief sich Mendelssohn entschieden auf das Toleranzprinzip, wenn er im "Schreiben an den Herrn Diaconus Lavater zu Zürich" 1770 bemerkt: "Die verächtliche Meinung, die man von einem Juden habet, wünsche ich durch Tugend, und nicht durch Streitschriften widerlegen zu können. Er habe seine Religion seit frühester Jugend und auch als Philosoph geprüft und keinen Anlass gehabt, ihr den Rücken zu kehren. Die jüdische Religion kenne keine Mission Andersgläubiger, ihre Gesetze gelten nur für Juden, sie erkenne aber die Gerechten und Tugendhaften aller Völker an und halte sie des ewigen Heils für fähig. Diese öffentliche Entgegnung an Lavater ist für Mendelssohn Programm seiner Philosophie und seiner Stellung im öffentlichen Leben nicht nur Berlins geblieben: Mendelssohn war die Verkörperung des Philosophen als Bürger. Gesetze und Gemeinwohl, allgemeine Wahrheiten und bürgerliche Tugenden waren theoretisch und im Alltagsleben feste Bezugsgrößen seiner Existenz. Und das, obwohl er anders als der Athener Sokrates nie Bürgerrechte besaß. Die anerkannte Existenz als Bürger und Philosoph war zeit seines Lebens Mendelssohns Ideal und Bezugsrahmen seines Denkens, trotz der alltäglichen Diskriminierung als Jude in Berlin. Mendelssohn wünschte sich, wie er in seinem "Sendschreiben an den Herrn Magister Lessing in Leipzig" schreibt, in ein Vaterland geboren zu sein, "wo ich Socrates zum Muster und Leßing zum Freund haben könnte". In Mendelssohns Denkkosmos enthüllt sich das, was er für eine adäquate Erfassung des ursprünglichen Judentums hielt und mit einer Collage und Montage traditioneller Autoritäten bekräftigte, als Konstruktion und getreues jüdisches Echo der zeitgenössischen Ideen und Ideale. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass Mendelssohn einer der ganz wenigen modernen jüdischen Denker war, der die Frage nach dem Wesen des Judentums völlig offen gelassen und das Judentum stattdessen als Prozess kultisch initiierter Selbstverständigung dargestellt hat. Dieser sokratische Entwurf des Judentums hat Mendelssohns Ruf als weiser Nachkomme des Sokrates bei den Zeitgenossen insgesamt nur gestärkt. Bis zu seinem Tod wuchs dieser Ruf beständig, wovon noch die Nachrufe, Biographien und Eulogien anlässlich seines Todes Zeugnis ablegen.

Mehrere Bände der Jubiläumsausgabe der Werke Mendelssohns sind der Person des Philosophen und ihrer Wirkung bei den Zeitgenossen gewidmet. 1995 hat Michael Albrecht in Band 22 "entlegene zeitgenössische Texte zu Mendelssohns Leben und Wirken" herausgebracht. Es handelt sich dabei - im besten Sinne des Wortes - um einen Ergänzungsband, der zwar nichts grundlegend Neues über die geistige Gestalt Mendelssohns bietet, dennoch mehrere Texte präsentiert, die Alexander Altmann in seiner bahnbrechenden Mendelssohn-Biographie von 1973 erschlossen hat und die dort nur in Übersetzung geboten werden. Auch wurden Texte und Dokumente aufgenommen, die durch die Forschung der letzten Jahre neu entdeckt oder erschlossen worden sind. Zwei Jahre später folgte der von Gisbert Porstmann edierte Band mit Porträts und Bilddokumenten, der nicht nur die Mendelssohn-Bildnisse, sondern auch Porträts und Kurzbiographien der Zeitgenossen enthält, die als Schüler, Freunde, Verehrer oder auch als Gegner eine Rolle in seinem Leben gespielt haben, und führt selbst den nicht mit seiner Person und seinen Texten Vertrauten ein in seine Denk-Welt. Ansichtig werden zum einen die Bedeutung Mendelssohns nicht nur als Philosoph, sondern auch, was leider häufig missachtet wird, als Mitbegründer einer konstruktiven Literaturkritik und als hervorragender Stilist der deutschen Sprache, andererseits auch die Fülle seiner Stellungnahmen zu Philosophie, Judentum, Literatur und Naturwissenschaften. Stehen die übrigen Bände der Jubiläumsausgabe in einem dichten intratextuellen Geflecht zueinander, weil sie sich gegenseitig ergänzen oder kommentieren, so kann man Porstmanns Band wahlweise als diesem Netz zugehörig oder als separate, Bild und Text auf luzide Art miteinander verbindende Einführung in das Denken Mendelssohns lesen, da die präsentierten Texte, wie Porstmann unterstreicht, "nicht nur den Gedankenaustausch und die religionsphilosophischen Kämpfe des jüdischen Aufklärers" dokumentieren; "sie verdeutlichen den immensen Umfang seines Wirkens, spiegeln die Vielzahl der behandelten Themen, und sie geben die Reaktion Mendelssohns auf die politisch-sozialen Konstellationen seines Daseins wieder". Interessant ist vor allem die Fülle der Porträts. Bedenkt man, dass die sich entwickelnde bürgerliche Porträtkunst eng mit dem Aufstieg des deutschen Bürgers zu sozialer Gleichstellung verknüpft ist, so ist der Casus Mendelssohn doch anders geartet. Mendelssohn war eben kein normaler Staatsbürger, sondern Jude, deren Geschichte im Zeitalter der Aufklärung, wie der Konflikt mit Lavater überdeutlich belegt, in erster Linie Unfreiheit und Ausgrenzung zeigt. Dass nun aber seit 1767 Gemälde, Kupferstiche und Büsten von Mendelssohn in einer Vielzahl von Variationen entstanden, verdeutlicht das Besondere dieses Menschen, das Ungewöhnliche seiner Biographie und die Kraft und Dauer seines Wirkens. Hier findet sich eine nicht zu ignorierende, gleichwohl aber schwer einzuordnende Parallele zu den Prozessen der Solidierung des deutschen Bürgertums.

Schließlich legte Michael Albrecht, einer der besten Kenner der Texte Mendelssohns, 1999 den dritten der Dokumenten-Bände vor. Die hier versammelten frühen Biographien des Philosophen zeigen eine Vielfalt an Möglichkeiten, das Leben und die Texte Mendelssohns und besonders seine Persönlichkeit darzustellen, einzuordnen, zu deuten und zu würdigen. Was sie nicht mehr bieten können, sind neue Informationen über Mendelssohn - diesbezüglich sind sie durch die großen biographischen Arbeiten von Meyer Kayserling und Alexander Altmann überholt. Dennoch kommt man auch hier an einer wichtigen Beobachtung nicht vorbei: Nur wenige Intellektuelle im Deutschland des 18. Jahrhunderts sind in so vielen Biographien und biographischen Skizzen gewürdigt worden. Es handelt sich dabei allerdings um keine endgültigen Porträts, wie sie auf imagologischer Ebene im Band 24 vorliegen, sondern um unterschiedliche, zum Teil äußerst divergente Skizzen, Entwürfe und Bilder, die durch ihre Polyphonie sowohl interessante Facetten des intellektuellen Blicks auf Mendelssohn bieten als auch den unterschiedlichen Lektürevorlieben und Zielsetzungen ihrer Verfasser Ausdruck geben.

Die Dokumentation setzt ein mit einem Brief des Berliner Freundes Friedrich Nicolai an Johann Peter Uz vom 26. 3. 1759, der in nuce all das enthält, was die Koordinaten der biographie intellectuelle eines jüdischen Denkers im 18. Jahrhundert bestimmt. Nicolai schließt folgerichtig: "Hn Moses beispiel macht daß sich viele hiesige Juden nicht allein auf die Litteratur, sondern auch auf die höhern Wissenschaften legen. Einer von diesen sagte mir einst, da ich mit ihm von der Übersetzung des Talmud sprach: der Ubersetzer müste ein sehr müssiger Mann sein. Ich, sagte er, bedaure alle Stunden, die ich nicht im Newton lesen kan, und da dieser Christ Freyheit hat, Newton zu lesen, so begreife ich nicht, wie er auf den Talmud kommen kan." Nicolais Brief belegt zudem, dass Mendelssohns Beispiel schon damals Wirkungen freisetzte, die auf die Schwierigkeiten der jüdischen Akkulturation hinweisen: Die Alternative Talmud-Newton war gewiss nicht die Alternative Mendelssohns, beleuchtet aber die Problematik seines Einflusses.

Der Endpunkt der Dokumentation liegt im Jahre 1827 und ist gut begründet, markiert die Feier des hundertsten Geburtstags Mendelssohns doch eine Zäsur in der Beschäftigung mit dem jüdischen Philosophen. Viele Zeugnisse stammen von bekannten Autoren, wie dem eingangs zitierten Moritz, dem Grafen Mirabeau oder Salomon Maimon, aber auch von Verfassern, die heute kaum noch bekannt sind. In der Verehrung für Mendelssohn sind sie sich aber nahezu alle einig. Grob gesagt, lassen sich die Dokumente in zwei Kategorien sortieren: in die Aufzeichnungen jüdischer Biographen und die ihrer christlichen Zeitgenossen. Die jüdischen Stimmen heben vor allem die Bedeutung Mendelssohns für die jüdische Gemeinschaft hervor. Für sie ist er der große Reformer des Judentums, nach dem Moses primus, dem Befreier Israels aus der ägyptischen Gefangenschaft und dem Moses secundus, dem mittelalterlichen Philosophen Mose ben Maimon der dritte Moses, derjenige, der sie hineingeführt hat in die europäische Aufklärung. Diese Deutung findet sich vor allem in der Biographie des Mendelssohn-Schülers Isaac Abraham Euchel und den Mitteilungen seines Verehrers David Friedländer. Euchels "Geschichte des Lebens unseres weisen Lehrers" aus dem Jahre 1788 lag bisher nur auf Hebräisch vor; sie wurde für den vorliegenden Band erstmals ins Deutsche übersetzt, versehen mit einem Nachwort des Übersetzers Reuven Michael. Nach Albrecht war es nicht Euchels Anliegen, "biographische Informationen mitzuteilen"; er wollte vielmehr "Mendelssohns Lebensleistung und seine Botschaft an das Judentum einem Lesepublikum vermitteln, das von der traditionellen jüdischen Bildung geprägt war: Euchel wollte Talmud-Schüler, die nur Hebräisch verstanden, dazu bringen, denselben Weg einzuschlagen, den Mendelssohn und er selbst gegangen waren, den Weg zur modernen Bildung und zur bewußten Einordnung in die Umwelt aufgrund eines erneuerten Selbstverständnisses". Euchels Arbeit ist eine der bedeutendsten Leistungen der Haskala, der jüdischen Aufklärung, weil sie verdeutlicht, wie und in welchem Ausmaß dieser Modernisierungsprozess seine spezifischen Adressaten berücksichtigte, sich ihrer Sprache und Denkweise anpassen musste, um verstanden zu werden und um wirksam werden zu können. Mendelssohns Festhalten an den religiösen Gesetzen des Judentums nimmt Euchel als Beweis dafür, dass Treue zum Judentum und Aufklärung sich miteinander versöhnen lassen. Mit Shulamit Volkov lässt sich sagen, dass hier der Initialpunkt der "Erfindung einer Tradition" vorliegt, die das hervorragendste, kollektive jüdische "Projekt der Moderne" war. Im Gegensatz zu anderen Aspekten der Modernisierung war sie nicht das Ergebnis individueller Entscheidungen und Handlungen, sondern eine mehr oder weniger bewusste, gemeinsame Bemühung, die Selbst-Konstituierung der Haskala als Bewegung. Die jüdische Aufklärung sollte dieses immer präsente, aber schwer fassbare Judentum umgestalten. Seit Ende des 18. Jahrhunderts hat, wie die jüdischen Dokumente über Mendelssohn eindrucksvoll belegen, innerhalb dieser Kultur ein kollektives Bemühen um eine kulturelle Verjüngung stattgefunden.

Die christlichen Stimmen heben - im Unterschied zu den Aufzeichnungen der jüdischen Intellektuellen - Mendelssohns Beitrag zur deutschen und europäischen Aufklärung hervor und bezeugen immer wieder den Zauber seiner Persönlichkeit: die Toleranz, die Bescheidenheit, die Würde, die jedermann Respekt abnötigte. Ob auch ihre Berichte ähnlich instrumentalisiert waren wie die der jüdischen Beiträger ist eine - hier nicht zu entscheidende - Anschlussfrage von nicht unerheblicher Bedeutung. Denkbar wäre, dass einige von ihnen den Zwang spürten, ihren persönlichen, wissenschaftlichen oder kulturellen Umgang mit dem Juden Mendelssohn zu rechtfertigen, ohne dass ihnen das möglicherweise überhaupt bewusst gewesen wäre. Die von Michael Albrecht blendend eingeleiteten und vortrefflich kommentierten Bände gehören neben Altmanns großer und auch in Zukunft wohl kaum zu ersetzender Mendelssohn-Biographie zu den wichtigsten Beiträgen der Kartierung des mit Mendelssohns Person und Texten einsetzenden jüdischen "Projekts der Moderne".

Abschließend soll noch die wichtige Schließung einer weiteren, über Jahrzehnte offen gehaltenen Baustelle der Mendelssohn-Forschung zumindest kurz gewürdigt werden. Mendelssohn betrachtete die Haskala nicht als einen Vorwand, um europäisches Denken in das Judentum einzuschleusen. Vielmehr war er der Auffassung, dass es eine grundsätzliche Verwandtschaft zwischen der Aufklärung und den klassischen Quellen des Judentums gebe, besonders zwischen den hebräischen Schriften und der mittelalterlichen jüdischen Philosophie. Dementsprechend unternahm es Mendelssohn, das Denken des Maimonides neu zu bewerten und auch das Studium der hebräischen zu rehabilitieren, das von der rabbinischen Exegese des göttlichen Gesetzes überschatten wurde. Daher veröffentlichte er Kommentare zu verschiedenen Büchern der Bibel (Kohelet, Psalmen), Anstrengungen, die mit der Übersetzung des Pentateuch ins Deutsche und seinem Kommentar ihren Höhepunkt erreichten. In Anbetracht der Tatsache, dass die meisten Juden die lateinische Schrift erst noch lernen mussten, war die Übersetzung in hebräischen Buchstaben geschrieben, der Kommentar jedoch, bekannt als Bi'ur ("Erklärung"), war auf Hebräisch abgefasst. Während Mendelssohn sich bemühte, seinen jüdischen Glaubensgenossen das Deutsche mit seiner Schönheit und Ausdruckskraft nahe zu bringen, versuchte er auf der anderen Seite in der Übersetzung auch das, was er als theologisch voreingenommene Auslegungen in den christlichen Übersetzungen der Heiligen Schrift wahrnahm, zu korrigieren. Der Kommentar verknüpfte auf kongeniale Weise traditionelle rabbinische Exegese mit modernen Vorstellungen und der ästhetischen Empfänglichkeit für die biblischen Texte.

Diesen Spuren geht der amerikanische Judaist David Sorkin in seiner Neuinterpretation von Mendelssohns Texten nach. Sorkin stützt sich dabei auf die bisher kaum beachteten hebräischen Schriften des jüdischen Philosophen, die er noch unter dem Namen Moses Dessau veröffentlichte und die, so Sorkin, zusammen mit den anderen, deutschsprachigen Texten erstmals ein geschlossenes Bild von Mendelssohns Denken und Schreiben und von seiner eminenten - auch kulturpolitischen - Bedeutung ergeben. Sorkin gelingt es zu zeigen, dass Mendelssohn nicht nach einer umfassenden jüdischen Philosophie strebte, da er die menschliche Vernunft als begrenzt ansah, aber er meinte, das jüdische "Projekt der Moderne" sei vereinbar mit Toleranz und bürgerlichen Rechten. Auch Sorkin rekurriert auf den Mendelssohn mit den zwei Gesichtern. Das eine zeigt den Philosophen der deutschen Aufklärung, der 1767, nach seiner Veröffentlichung der Sokratischen Dialoge - dem "Phaedon" - als "Sokrates von Berlin" unsterblich gemacht wurde. Das andere Gesicht zeigt den Juden Moses Dessau, wie er viele seiner Briefe und Arbeiten auf Hebräisch unterschrieb. Immer wieder wurde in den zahllosen Beschreibungen und Analysen der zwei Gesichter seit Mendelssohns Tod die unausweichliche Frage nach der Beziehung zwischen beiden gestellt. Die Antworten auf diese zentrale Frage in der Wahrnehmung Mendelssohns sind gleichzeitig der Schlüssel zum modernen jüdischen Denken, seit diese Frage mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert Bestandteil nahezu aller modernen jüdischen Philosophie und Ideologie geworden ist. Das eine Extrem konstatiert, Mendelssohns Janusköpfigkeit sei aus einem Stück, da er mit seiner Begabung, europäische Kultur mit jüdischem Glauben zu harmonisieren, der moderne Jude gewesen sei (so vor allem Euchel). Das führte dazu, dass Mendelssohn in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Schöpfer der deutsch-jüdischen Symbiose gefeiert wurde, als der Mann, der "Judentum und deutsche Bildung gleichsam stärken wollte" und der als "ernsthafter religiöser Jude und deutscher Schriftsteller" ein "ehrwürdiges Vorbild für die Nachwelt" war (Kayserling). Das andere Extrem sieht Mendelssohns Janusköpfigkeit als von zwei unangemessenen und widersprüchlichen Bildern bestimmt, die ihn zum falschen Propheten der Akkulturation und Denationalisierung machen. So bemerkte Franz Rosenzweig kritisch, "seit Mendelssohn [...] windet sich das Jüdischsein jedes einzelnen auf der Nadelspitze des 'Warum'". Trotz oder gerade wegen der nicht genug zu feiernden Meilensteine der jüngeren Mendelssohn-Forschung bleibt die schwer zu handhabende Janusköpfigkeit Mendelssohn, die Beziehung zwischen dem deutschen Philosophen und dem jüdischen Denker, als intellektuelles Problem virulent.

Titelbild

Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Band 22. Dokumente I.
Herausgeben von Michael Albrecht.
Frommann-Holzboog Verlag, Stuttgart 1995.
374 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3772815197

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Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Band 24. Porträts und Bilddokumente.
Herausgegeben von Gisela Postmann.
Frommann-Holzboog Verlag, Stuttgart 1997.
401 Seiten, 81,00 EUR.
ISBN-10: 3772815219

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Titelbild

Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Band 23. Dokumente II.
Herausgeben von Michael Albrecht.
Frommann-Holzboog Verlag, Stuttgart 1998.
444 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3772815200

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Titelbild

David Sorkin: Moses Mendelssohn und die theologische Aufklärung.
Übersetzt aus dem Englischen von Peter van Suntum.
Werner Eichbauer Verlag, Wien 1999.
263 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-10: 3901699023

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Titelbild

Werner Stegmaier (Hg.): Die philosophische Aktualität der jüdischen Tradition.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
516 Seiten, 16,50 EUR.
ISBN-10: 3518290991

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Titelbild

Michael Albrecht / Eva Engel (Hg.): Moses Mendelssohn im Spannungsfeld der Aufklärung.
Frommann-Holzboog Verlag, Stuttgart 2000.
284 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-10: 3772819567

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