Literatur in Stichwörtern

Gerhard Schmitts eigenwilliger Zettelkasten zur Literaturgeschichte vom Barock bis zur Gegenwart

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon bei Studierenden der Germanistik an deutschen Universitäten kann man nicht mehr allzu viel voraussetzen. So wurde ich im letzten Semester gefragt, wer Martin Walser sei, und eine Studentin, die Lehrerin werden und auch Deutsch unterrichten möchte, wollte bei mir eine Examensprüfung über eine dänische Pferdebuchserie ablegen, denn an andere Bücher, die sie gelesen hatte, konnte sie sich nicht erinnern. Im Ausland stehen die German Studies noch mehr unter Druck, die Sprache ist schwierig zu lernen und die Literatur macht es ihren Lesern auch nicht gerade einfach, setzt oftmals historisches und kulturelles Wissen voraus. Da ist jedes Werk zu begrüßen, das Grundlagen der Literaturgeschichte vermittelt. Weil grundlegend, muss es dann auch beim Einfachsten anfangen, darf nichts oder nur soviel voraussetzen, dass sich die studentischen Leser nicht langweilen. Gerhard Schmitt, der an einer finnischen Universität lehrt, hat sich der Aufgabe unterzogen, ein solches Büchlein für seine Studierenden - und potenziell andere - zu erarbeiten. Jüngst ist eine zweite, überarbeitete Auflage seines Büchleins erschienen, ein neues Standardwerk also?

Schmitt spricht nicht von Literaturgeschichte und Epochen. Vielmehr schickt er seinen Kapiteln, die als Bezeichnung Epochenbegriffe von "Barock" bis "Faschismus" tragen, eine Erklärung voraus, was er unter der titelgebenden Bezeichnung "Literarische Stile" versteht. Die Erklärung umfasst eine Seite und beginnt wie folgt: "Der Begriff 'Stil' kann als eine Übereinstimmung verschiedener Elemente im Ganzen eines Kunstwerks verstanden werden." Damit sind Stoffe, Motive, Symbole, "Stimmungen", aber auch - man sehe und höre gut zu - Farben und Töne gemeint. Die Frage "stilvoll oder stillos" wird kurz angerissen und kurzerhand als Frage des "Geschmacks" abgetan. Bereits Lessing hätte da widersprochen. "Dieser Geschmack wird von einem Weltverständnis gebildet" - halt, ist hier der Hegelsche Weltgeist am Werk?

Im Werk ist er jedenfalls nicht aufzufinden. Als Ordnungsprinzip regiert das Stichwort, es kann zwischen zwei und acht Zeilen umfassen. Es soll gleich einmal ausprobiert werden, ob sich das Stichwortprinzip auch für Rezensionen eignet:

- Immerhin kommen Autoren zu Wort. Unter "Aufklärung" darf Winckelmann über barocke Künstler sprechen. Ein geschickter Schachzug, den Wegbereiter des Kunstideals der Weimarer Klassik einmal anders zu präsentieren. (Im Abschnitt "Klassik" kommt er aber auch noch mal.)

- Unter "Sturm und Drang" folgt ein langes Zitat aus Goethes "Werther" mit dem Fazit: "In diesem Erlebnis der Natur wird der empfindsame Mensch zum Künstler. Der junge Werther begreift sie als die alleinige Lehrmeisterin." Ob er wegen seiner Naturverbundenheit Lotte ständig küssen wollte? (Über andere Möglichkeiten der zweisamen Naturverehrung sei züchtig geschwiegen.)

- Moment, ist dann die Natur eine Autorität? Dabei soll doch gelten: "Das Genie braucht keine Regeln und Vorschriften mehr - weder in der Kunst, noch im Alltagsleben. Es trägt alle Regeln in sich, die durch Erziehung und Bildung nur verdorben werden könnten." Genau, deshalb hat Goethe ja auch auf die antike Prometheus-Figur zurückgegriffen und im "Werther" den Selbstmord als höchste Form der Selbstverwirklichung gefeiert. Schmitt sei dank ist das nun endlich geklärt.

- Leichter nachvollziehbar ist die Feststellung, es handele sich bei Schillers "Lied von der Glocke" um ein "in hohem Maße symbolisches Gedicht". Schließlich werde die titelgebende Glocke "als Symbol für die Lebenszeit eines Menschen" verwendet. Wer hätte das gedacht.

- Aus seinem reichhaltigen Fundus schöpft der Literaturexperte noch weiteres Grundlagenwissen: "Eichendorffs Gedicht 'Die Nachtblume' ist eines der schönsten Texte der deutschen Lyrik." Eines der ... So habe ich das Text noch nie gelesen. "Mondnacht" oder "Sehnsucht" werden in ihrer Qualität und die Romantik betreffenden Aussagekraft sicher überschätzt.

- Dafür darf man sich über ein langes Zitat aus E.T.A. Hoffmanns "Der goldne Topf" freuen. Zum besseren Verständnis wird es damit eingeleitet, dass der Student Anselmus verliebt sei, in Veronika und Serpentina, die jedoch verschiedenen Welten angehören. Der folgende Textausschnitt sei ein "Abenteuer" aus der neunten Vigilie. Auf sieben Zeilen Kommentar folgen vier Seiten Primärtext. Da weiß man doch Bescheid und fühlt sich nicht bei der Lektüre allein gelassen.

- Eine neue Gewichtung verrät auch das Kapitel zum "Realismus", in dem die Lebensdaten Theodor Fontanes in aller nötigen Knappheit referiert werden. Ein ganzer Absatz (an der Länge wollen wir hier nicht herummäkeln) geht auf sein Werk ein: "Bekannt geworden ist Fontane vor allem durch seine Gesellschaftsromane, in denen er den niederen preußischen Landadel ('Schach von Wuthenow' u. a.) und das aufstrebende Industriebürgertum ('Frau Jenny Treibel') darstellte." Nun ja, eigentlich waren es ja die "Wanderungen durch die Mark Brandenburg", die ihn bekannt machten, und "Effi Briest" gilt als Hauptwerk, auch wenn manche den "Stechlin" für mindestens genauso wichtig halten.

- Was solls, dafür darf sich der Leser an einem vierseitigen Auszug aus Kellers "Pankraz, der Schmoller" erfreuen. "Romeo und Julia auf dem Dorfe" und "Kleider machen Leute" sind natürlich bekannter und waren erfolgreicher, aber wie sagte schon Döblin, dessen "Berlin Alexanderplatz" mutig als "expressionistischer Großstadt-Roman" bezeichnet wird: Ein Kerl muss eine Meinung haben.

- Die deutschsprachige Literaturgeschichte geht vom Expressionismus direkt zum Faschismus über und endet damit. Wozu sich mit der Weimarer Republik aufhalten, das war doch nur ein Intermezzo.

- Der Faschismus als Ende der deutschen Literatur: Gäbe es eine Begründung, wer möchte widersprechen. Da es keine gibt, darf kein Konzept vermutet werden. Es sei denn, die als "Exkurs" nachgestellte Klärung des Begriffs "Moderne" ist ein Hinweis darauf, dass die Literatur mit Beginn der Nachkriegsliteratur und Postmoderne der Bedeutungslosigkeit anheim gefallen ist.

- Diese ewigen Aufarbeitungsversuche des Nationalsozialismus müssen ja nicht auch noch behandelt werden.

- Die Wiedervereinigung ist sowieso entweder vorbei oder gescheitert, wer will noch etwas über nationale Fragen hören und lesen.

- Süskinds "Parfum" ist sicher zu unterhaltsam, um als deutsch durchzugehen.

- Vielleicht sollte Grass den Nobelpreis zurückgeben?

Seinen praktischen Nutzen möchte das Buch durch die Angabe von "Internet-Adressen" zur deutschsprachigen Literatur unter Beweis stellen. Freilich steht hier als Quelle lediglich die Edition Gutenberg im Zentrum. Auch das Literaturverzeichnis bemüht sich, lernunwilligen Lesern nicht zuviel zuzumuten - eineinhalb Seiten, so wird sich Schmitt gedacht haben, müssen reichen. Die Angaben der Primärliteratur umfassen eine Auswahl, die man freundlich als eigenwillig bezeichnen kann: Bahr, Benn, Eiselein (hier wird Winckelmann indirekt zitiert), George, Huch, Hauptmann, Pinthus, Mach, Merbach, Nietzsche, Platon. Aha. Die vier Angaben von Titeln der Forschungsliteratur sind ähnlich zentral. Dafür gibt es aber - der Trend zum Visuellen wird nicht verschlafen - acht Angaben von Bildergalerien. Ein Personenregister wird nicht vermisst, es hätte den Band angesichts der vielen Namensnennungen sicher nur unnötig aufgebläht. Und es wäre vielleicht - es gibt doch noch etwas zu loben, deutsche Verlage aufgepasst - der Preis von wenig mehr als sechs Euro nicht zu halten gewesen. Dieses Buch, soviel sei also abschließend festgestellt, kann sich jeder leisten. Und so mündet diese Besprechung doch noch in ein versöhnliches Ende.

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Gerhard Schmitt: Literarische Stile in Deutschland (1600-1945). Ein Überblick. 2., erweiterte und durchgesehene Auflage.
Oulun Yliopistopaino, Oulu 2004.
133 Seiten, 6,10 EUR.
ISBN-10: 9514272781

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