Notizen am Rand

Ein Tagebuch aus dem Ghetto von Lódz

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Tagebuch aus dem Ghetto Lódz gehört zu den erschütterndsten Dokumenten des Holocaust. Da es verboten war, im Ghetto Tagebuch zu führen, wurden die Eintragungen im Verborgenen geführt - auf den Rändern und Leerseiten eines Romans von François Copée. Das Buch, "Les Vrais Riches" - "Die wahrhaft Reichen", liegt heute im Archiv der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem.

Am 8. September 1939 wird Lódz, das Zentrum der polnischen Textilindustrie, von deutschen Truppen besetzt. Zehn Tage später wird den Juden der Stadt untersagt, ihr Neujahrsfest zu begehen. Weitere Verbote, Verordnungen und Maßnahmen folgen. Am 11. November brennen die Deutschen die Lódzer Synagogen nieder, am 10. Dezember wird die Bildung eines Ghettos angeordnet, am 30. April 1940 wird das Ghetto hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt. Am 7. Juni 1941 besucht Himmler das Ghetto. Am 16. Juli 1941 empfiehlt ein Aktenvermerk aus der "Umwandererzentrale" in Posen die Tötung aller nicht arbeitsfähigen Juden "durch irgendein schnell wirkendes Mittel" als "humanste Lösung". Dezember 1941: Im Ghetto leben noch 160.000 Menschen, alle Menschen unter zehn und über 65 Jahren werden zusammengetrieben, die Deportationen in die Vernichtungslager beginnen. Das Lódzer Ghetto wird ein reines Zwangsarbeitslager. In den Monaten Juli bis August 1944 schließlich werden die restlichen circa 68.000 Überlebenden nach Auschwitz-Birkenau verschleppt.

Die Eintragungen des Lódzer Tagebuchs sind sorgsam an die Ränder geschrieben, die den Text von François Copée umgeben. Ihr Verfasser, ein junger Mann, über den wir weiter nichts wissen, als daß er am 3. August 1944 selbst nach Birkenau verbracht worden und vermutlich dort umgekommen ist, vermeidet es, den Originaltext von "Les Vrais Riches" zu überschreiben. Seine Aufzeichnungen in vier Sprachen (englisch, jiddisch, hebräisch, polnisch) umfassen den Zeitraum vom Mai 1944 bis zum Tag der Deportation.

1997 wurden die "Notizen am Rand" von Hanno Loewy und Andrzej Bodek herausgegeben. 1999 hat Jan Philipp Reemtsma den Text für den Rundfunk bearbeitet und kommentiert: Für die Hörfassung wurden nur einige Partien des Gesamttextes verwendet und aus ihrem chronologischen Zusammenhang gelöst. Die Geschichte von Lódz und seinem Ghetto wird in Texten von Jan Philipp Reemtsma aufbereitet. Man erfährt sie nicht aus dem Tagebuch des unbekannten Diaristen. Sechs Sprecher sind an dieser Produktion beteiligt: Während im Vordergrund die deutsche Version verlesen wird, läuft im Hintergrund das französische, englische, jiddische, hebräische oder polnische Echo. Stimmen einer ungewissen Identität.

Titelbild

Jan Philipp Reemtsma (Hg.): Les Vrais Riches. 1 Cassette: Ein Tagebuch aus den Ghetto Lodz (Audio Books; Literatur).
Der Hörverlag, München 1999.
55 Min, 1 Cassette, 13,20 EUR.
ISBN-10: 3895846805
ISBN-13: 9783895846809

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