Treibjagd

Veza Canetti erinnert sich in "Die Schildkröten" an die Vertreibung aus der Heimat

Von Ute BaumeisterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ute Baumeister

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf die Frage, ob sie Wertobjekte bei sich habe, antwortet Eva an der Grenze mit zitternden Lippen: "Wir haben ein Wertobjekt. Ja. Die Asche unseres Bruders!" Damit setzt sie alles aufs Spiel.

Unter dem Pseudonym Veza Magd hat die wenig bekannte, hochbegabte Frau von Elias Canetti einen autobiographisch gefärbten Roman geschrieben. 1938 gelang dem jüdischen Paar die Flucht vor dem Naziterror nach England. Das Buch entstand kurz nach der Flucht, noch ganz im Bann des erlebten Schreckens. Unter dem Titel "Die Schildkröten" wurde der Roman jetzt erstmals veröffentlicht.

Veza Canetti schildert die erlittenen Demütigungen und die absurde Willkür, denen die Juden in Österreich nach dem Einmarsch der Nazis ausgesetzt waren. Der Dichter Andreas Kain lebt mit seiner Frau Eva in einem herrschaftlichen Haus in Wien. Das Klima in der Stadt gleicht immer mehr einer Treibjagd ("seinesgleichen rangiert noch weit hinter den Hunden"), daher läßt sich Kain zu der Unterschrift nötigen, daß er mit seiner Frau emigrieren werde. Nun wartet er auf das gleichzeitig in England beantragte, unerläßliche Visum.

Kain, so wird er von Eva immer genannt, ist ein gutmütiger, sensibler Mensch - einmal rettet er sogar Schildkröten, denen das Hakenkreuz in den Panzer gebrannt werden soll. Die Schildkröten haben, wie vieles in dem Buch, Symbolcharakter. In Japan gelten sie als Sinnbild der Glückseligkeit. Wegen ihrer Zähigkeit sind sie nicht auszurotten. Doch selbst sie verschwinden, wie die Juden, nach und nach von der Bildfläche. Im Gegensatz zur biblischen Vorlage hat Kain ganz und gar nicht die Absicht, den Bruder zu töten; dennoch muß dieser seinetwegen sterben. Kain will das Land nur zusammen mit dem Bruder verlassen, aber Werner, der Geologe, hängt so sehr an den Steinen seiner Heimat, daß er unter keinen Umständen gehen möchte. Währenddessen spitzt sich die Situation bedrohlich zu: Jüdische Güter werden enteignet, die zunehmenden Schikanen durch die neuen Herrscher in brauner Uniform sorgen für Angst und Ungewißheit. Den Juden werden die Rechte genommen, die Häuser geplündert, ihre Tempel angezündet - die Heimat wird ihnen fremd. Was nach dem Einmarsch der Nazis noch zählt, ist, ob man eine "römische Nase" hat oder ob man klein- oder groß gewachsen ist. In Veza Canettis Darstellung erscheint die Rassentheorie als lächerlich, aberwitzig und absurd. Ein SA-Mann namens Pilz zieht in Eva und Kains Wohnung, streicht die Wände und verdrängt die beiden in ein Zimmer. Sie werden geächtet und vertrieben, noch ehe sie reisen dürfen und müssen schließlich in die kleine Wohnung zu Werner ziehen.

Veza Canetti hält zu ihren Figuren eine seltsam starre Distanz, erst ganz zum Schluß gewinnen sie Kontur. Doch gerade durch diese zurückhaltende, fast unpersönliche und spröde Schilderung wirkt das Geschehen noch beklemmender. Die Autorin reflektiert auch ihr Schreiben, Evas "verlorenen Ton", den sie ganz bewußt anschlägt. Die sperrigen Dialoge entfalten oft erst im nachhinein ihre Wirkung. Dies ist kein schnell konsumierbares Buch, vielmehr eines, das viel Konzentration verlangt.

Titelbild

Veza Canetti: Die Schildkröten. Ein literarisches Ereignis - Veza Canettis unveröffentlichter Exil-Roman, das Gegenstück zur Blendg.
Carl Hanser Verlag, München 1999.
291 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3446194789

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