Zwischen Zweckoptimismus und Aufbruchsstimmung

Wozu Geisteswissenschaften? fragen Fachleute aus Wissenschaft, Politik, Medien und ein Schriftsteller

Von Walter WagnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Wagner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kürzungen und Umstrukturierungen im Bereich der Geisteswissenschaften sorgen an den deutschen Universitäten für eine gedrückte Stimmung. Mehr denn je wird ihre hochqualifizierte Arbeit von der Öffentlichkeit, zumal der Politik, in Frage gestellt. An einem ökonomistisch orientierten Nützlichkeitsdenken gemessen, schneiden die so genannten "Kultur- und Sozialwissenschaften" oder humanities, wie sie im angelsächsischen Raum heißen, eher schlecht ab. Vielfach wird ihnen die Kompetenz abgesprochen, an der Lösung soziökonomischer Problemstellungen fruchtbar partizipieren zu können. Viel eher traut man den Natur- und Ingenieurwissenschaften, deren Forschungen in der Tat tangible Ergebnisse hervorbringen, die Fähigkeit zu, über technologische Innovationen den gesellschaftlichen Fortschritt zum Wohle der Gemeinschaft voranzutreiben. Braucht es also die bewahrende, reflektierende und naturgemäß bewertende Funktion der Geisteswissenschaften im 21. Jahrhundert nicht mehr? Experten aus Wissenschaft, Medien und Politik haben sich dieser Problematik gestellt und versucht, Argumente zugunsten der Geisteswissenschaften zu formulieren, und die Ursachen der gegenwärtigen Krise zu erörtern.

Jürgen Kaube, Kulturredakteur der "F. A. Z.", eröffnet die Diskussion mit seinem Essay "Das Unbehagen in den Geisteswissenschaften" und vermutet hinter dem Tief der gar nicht so fröhlichen Humanwissenschaften "eine ebenso festliche wie überempirische Formel für den sonntäglichen Außenverkehr und die Begegnung mit Massenmedien". Von einer Krise in der einschlägigen Forschung könne allerdings keine Rede sein, stellt man die hohe Zahl von Promotionen und Habilitationen in Rechnung. Ebenso wenig mangle es an Studienanfängern, die im Vergleich zu den Natur- und Technikwissenschaften indessen länger brauchten, um einen Abschluss zu erwerben. Bedauerlicherweise legt der Autor die statistischen Quellen nicht offen, so dass nicht nachvollzogen werden kann, wie er zu dieser Einschätzung gelangt.

Kaube bemängelt ferner, "dass die säkulare Ausdehnung des Prozesses 'Erwachsenwerden'" sowie ein geringer Leistungsdruck zu einer Verzögerung des Abschlusses führten. Hinzu komme, dass geisteswissenschaftliche Fächer schlichtweg einfacher seien als naturwissenschaftliche. Schließlich moniert Kaube, dass zu wenig praxisorientiert gelehrt und geforscht werde. Mit diesem Hinweis gerät indessen der Begriff von Wissenschaft per se ins Wanken, denn diese ist und bleibt nun einmal bis zu einem gewissen Grad von der Alltagskultur abgehoben.

Dieter Langewiesche reflektiert in seinem Beitrag "Wozu braucht die Gesellschaft Geisteswissenschaften? Wieviel Geisteswissenschaften braucht die Universität?" über die Ziele und Stärken der humanwissenschaftlichen Disziplinen und hebt vor allem die Förderung vernetzten Denkens sowie die Fähigkeit zum Dialog bzw. zur Integration in einer zunehmend globalisierten Welt hervor. Gerade weil Absolventen auf kein bestimmtes Berufsbild vorbereitet würden, erwiesen sie sich auf einem immer flexibleren Arbeitsmarkt als die qualifizierteren Bewerber.

Peter Glotz untersucht "Die drei Dimensionen der geisteswissenschaftlichen Krise", die er an den Begriffen Politisierung, Obskurantismus und übertriebene Spezialisierung festmacht. Dabei übersieht er, dass die erwähnten Schwächen auch auf die Naturwissenschaften zutreffen. Alles in allem bescheinigt er den Geisteswissenschaften größere Robustheit, als sie sich selbst zuschreiben würden. Ihre Zersetzung könne mithin nur von innen erfolgen.

Ernst-Wolfgang Böckenförde unterzieht "Die Bedeutung der Geisteswissenschaften im politischen Leben" einer kritischen Betrachtung und unterstreicht ihre befreiende Wirkung - mit andern Worten, sie überführten den Menschen vom Zustand der Kritiklosigkeit und Emotionalität in einen des aufgeklärten Humanismus. So könnten kritikfähige Bürger (will die Politik solche?) politische Diskurse leichter auf ihren Wahrheits- und Plausibilitätscharakter hin überprüfen. Laut Böckenförde müssten die Geisteswissenschaften von quantifizierbaren Effizienzkriterien abgekoppelt und sozusagen nur um ihrer selbst willen betrieben werden.

In einem Interview mit dem SPD-Funktionär Thomas Oppermann kommt auch die Politik zu Wort. Der ehemalige Minister für Wissenschaft und Kultur in Niedersachsen bedauert, dass sich die Geisteswissenschaften unter ihrem Wert verkauften, weil sie über zu wenig Selbstvertrauen verfügten. Dieser Umstand ist freilich zum Teil durch das hohe Selbstreflexionspotenzial der humanwissenschaftlichen Disziplinen zu klären, die in der Folge zu vermehrter Selbstkritik führt.

Oppermann ortet zudem eine "Förderungsresistenz der Geisteswissenschaften" und würde sich von ihrer Seite ein stärkeres Engagement beim Anwerben von Fördermitteln wünschen. Eine weniger elitäre Wissenschaft, die gesellschaftsrelevanter forscht und ihre Erkenntnisse einer breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung stellt, würde zudem zu einer höheren Akzeptanz der jeweiligen Fachrichtungen führen. Insgesamt prognostiziert er eine Rückkehr der Geisteswissenschaften, deren Intervention in gesellschaftspolitischen Belangen über kurz oder lang unentbehrlich werde.

Die Journalistin Christine Pries stellt mit dem "Forum Humanwissenschaften" der "Frankfurter Rundschau" "Ein emphatisches Konzept von Öffentlichkeit" vor. Gemeint ist die seit 1989 erscheinende Wissenschaftsbeilage in einer der führenden deutschen Tageszeitungen. Wissenschaftler berichten in diesem Feuilleton themenbezogen über den letzten Stand der Forschung und vermitteln auf diese Weise dem interessierten Publikum einen Einblick in die verschiedenen Bereiche der Wissenschaft. Der positive Effekt dieses Forums besteht jenseits der universitären Informationspolitik in einem verstärkten inner- und interdisziplinären Austausch, den der reguläre Forschungsbetrieb nicht zu leisten vermag.

Unter dem Titel "Geisteswissenschaftler in der Wirtschaft - das ist kein Widerspruch" bricht Jürgen Kluge, der in Deutschland die Leitung der Unternehmensberatung McKinsey innehat, eine Lanze für die humanities, deren soft skills von der Wirtschaft mehr und mehr begehrt würden. Er untermauert seine These, indem er auf Geisteswissenschaftler verweist, die außerhalb von Forschung und Politik Karriere gemacht haben und betont, dass die Unternehmen in Zukunft nicht mehr auf die Kompetenz der Geisteswissenschaften verzichten könnten. Roland Berger, der neben seiner Tätigkeit als Unternehmensberater auch an der Universität lehrt, ergreift in seinem Beitrag "Kreative Positionen durch kommunikative Interaktion" ebenfalls für die Geisteswissenschaften und ihre Absolventen Partei, deren Stärken "in der Fähigkeit zu Analyse und Konzeption, in Prozessen der Verständnisgewinnung und der Vermittlung" lägen.

"Die Wissenschaft des Geistes" überschreibt der freie Schriftsteller Günter Kunert seinen Essay, in dem er assoziativ die Aufgaben und Ziele der Geisteswissenschaften umkreist, ohne allerdings neue Aspekte vorzubringen.

Im folgenden Abschnitt referieren Vertreter verschiedener geisteswissenschaftlicher Fächer ihre Argumente im Hinblick auf ihren je spezifischen Wert und Nutzen. Den Auftakt bildet Christof Rapp, der auf die Bedeutung der Philosophie als Lebenskunst und Leitfaden ethischen Handelns in Wirtschaft, Technik und Medizin abhebt. Paul Nolte vertritt die Geschichtswissenschaft, die seit den 80er-Jahren zunehmend in den Blickwinkel der Öffentlichkeit rückt. Diesen Konjunkturaufschwung führt er auf die im Zuge der Vergangenheitsbewältigung unternommenen Anstrengungen und den damit verbundenen Bedarf an Historikern zurück. In der Wirtschaft sei indessen noch keine verstärkte Nachfrage nach Absolventen der Geschichte bemerkbar. Die Universitäten trügen laut Nolte dieser Zurückhaltung durch die Einrichtung praxisorientierter Studiengänge Rechnung.

Friedrich Wilhelm Graf von der Theologie sieht im 21. Jahrhundert eine neue Chance für die akademische Theologie, da es "in modernen Wissensgesellschaften einen höheren Bedarf an Ethosproduktion und Moraldiskurs" gebe. Der Altertumswissenschaftler Jörg Röpke unterstreicht den Zusammenhang zwischen dem mittelmeerischen Altertum und der modernen europäischen Kultur und hält sie für befähigt, Probleme der Gegenwart exemplarisch zu erhellen. Lutz Richter-Bernburg, der die Islamwissenschaft vertritt, sieht sein Fach als Brücke zwischen Orient und Okzident und verteidigt den Elfenbeinturm, von dem aus wichtige Fragen der Zeit mit der nötigen Distanz zu beobachten und kritisch zu beleuchten seien. Jürgen Wertheimer tritt als Fürsprecher der Germanisten auf und fordert interdisziplinäre Zusammenarbeit, zumal mit den anderen Literaturen, um die Germanistik im Kontext laufender Globalisierungsprozesse als Orientierungswissenschaft zu positionieren. Der Linguist Peter Koch warnt vor einer utilitaristischen Vereinnahmung der Geisteswissenschaft und sieht seine Disziplin im Zuge vermehrter internationaler Kommunikation besonders gefordert. Der Vormarsch des Englischen als Globalesisch, aber auch der Spracherwerb im Zeitalter großräumiger Migrationsbewegungen ließen keinen Zweifel am Stellenwert der Linguistik.

Klaus Prange schließt sich der Debatte aus der Sicht der Pädagogik an, die nach wie vor "als Subunternehmer anderer Disziplinen erscheint" und deren Sinnhaftigkeit in den Augen der Öffentlichkeit erst Gutachten vom Kaliber einer PISA-Studie belegen. Aus der Volkskunde und Europäischen Ethnologie weiß Wolfgang Kaschuba von einer "ideologischen Sanierung unseres Geschichtshorizontes" dank der beharrlichen Aufklärungsarbeit seines Faches zu berichten. Dazu trägt zweifellos die außeruniversitäre Verankerung der Volkskunde in Museen bei.

Stimmen der praxisorientierten Handlungs- und Naturwissenschaften runden diesen Band ab. Walter Sprondel schreibt "Über das Verhältnis der Soziologie zu den Geisteswissenschaften" und führt den Rechtfertigungsdruck, den die Geisteswissenschaft gegenwärtig spürt, auf die Demokratisierung der Medien zurück, in denen sich viele unabhängig von ihrer fachlichen Zuständigkeit berufen fühlten, ihre Meinung kundzutun. Das besondere Geschäft der gewiss auch empirischen Soziologie bestehe laut dem Verfasser darin, "die Zerstörung von öffentlichen Mythen" zu betreiben, womit sie sich aber ähnlich wie die Geisteswissenschaft der Kritik aussetze.

Der Volksökonom Joachim Starbatty postuliert "Geistesgeschichte als Korrelat zur Ökonomik". Die Symbiose zwischen Ökonomie und Ethik sei unabdingbar - man denke nur an Adam Smith -, gerate aber im gegenwärtigen neokapitalistischen Diskurs ins Hintertreffen. Eine Versöhnung zwischen Mensch und Wirtschaft könne aber nur über diese Einheit erreicht werden.

Silke Schicktanz, die im Bereich der Molekularmedizin forscht, streicht die Relevanz geisteswissenschaftlicher Themen für die Biowissenschaften heraus, wenngleich diese von der "Hybridisierung der Wissenschaften nichts wissen" wollten. Am Beispiel des Faches Bioethik zeigt sich indessen, wie eine Verschmelzung der Geistes- und Naturwissenschaften in die Praxis umgesetzt werden kann.

Gregor Markl, Inhaber einer Professur für Petrologie, hält die von Politik und Gesellschaft betriebene Polarisierung der Geistes- und Naturwissenschaften für schädlich. Angesichts eingefrorener Forschungsetats sollten beide gemeinsam auftreten und ihre eminente Bedeutung bei der Lösung der großen Fragen der Gegenwart und Zukunft verdeutlichen. Insofern müsste der Titel dieser Aufsatzsammlung wohl eher "Wozu Wissenschaft?" lauten.

So wichtig die Anregungen und Standpunkte jener erscheinen mögen, aus denen sich "Wozu Geistenswissenschaften?" kaleidoskopisch zusammensetzt, sie werden doch ungehört verhallen, solange Lobbyismus und kurzfristiges politisches Denken den Ton angeben. Die Zukunft der Geisteswissenschaft wird sicherlich davon abhängen, ob es ihr gelingt, sich aus der finanziellen Abhängigkeit zusehends ökonomisch gegängelter Regierungen zu lösen und die Nachfrage nach Humankapital in der Gesellschaft zu wecken. Der Weg dorthin dürfte allerdings steinig werden.

Titelbild

Florian Keisinger (Hg.): Wozu Geisteswissenschaften? Kontroverse Argumente für eine überfällige Debatte.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
197 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-10: 359337336X

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