"Wozu Freud lesen, wenn Butler ihn für uns gelesen hat?"

Thomas Meineckes fröhlich-lapidarer Gender-Musik-Text "Tomboy"

Von Christine KanzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Kanz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Tomboys sind kleine Mädchen, die lieber große Jungen sein wollen. Bereits der Titel von Meineckes Buch suggeriert, daß der Autor etwas von der Gender-Materie verstehen muß. Die geschlechtertheoretisch interessierte Kulturwissenschaftlerin der späten 90er freut sich denn auch, wenn sie gleich auf den ersten Seiten auf das gesamte, seit einigen Jahren auch in Deutschland zirkulierende Gendervokabular stößt. Von Natur, Schein, konstruierter Natürlichkeit und im weiteren dann von Drag Queens, Schwulen, Lesben, Transsexuellen, Female Impersonators oder Cyborgs ist hier die Rede, und Thomas Meinecke schlägt mit fast all den Autorinnennamen und Titeln verschiedenster feministischer Provenienz um sich, auf die es ankommt. Sämtliche Women-, Men-, Gender-, Queer-, Cyber- und Cross-dressing-Strömungen laufen hier zusammen. Neben dem des kalifornischen Gender-Theorie-Stars Judith Butler tummeln sich Namen wie Majorie Garber, Donna Haraway, Nancy Fraser, Carolyn Walker Bynum, Barbara Vinken, Barbara Duden, Silvia Bovenschen oder Luce Irigaray. Und natürlich werden der von Meinecke als Philosoph titulierte französische Poststrukturalist und Psychoanalytiker Jacques Lacan, der Diskursanalytiker Michel Foucault oder der alte Misogyn Weininger in den Ring geworfen. Auch der allerorts vertretene und überall besprochene Medienguru und Lacanianer Slavoj Zizek darf nicht fehlen. Überraschend ist da schon die seitenlange Abhandlung über den heute weit weniger bekannten Freud-Schüler, Revolutionär und Matriarchatsverfechter Otto Gross (den Meinecke allerdings etwas später in der Gosse verenden läßt, als es tatsächlich der Fall war).

Sollten wir es hier wirklich mit einer literarischen Aufarbeitung des, hauptsächlich amerikanischen, Gendertheorie-Diskurses zu tun haben? Ist es ein Vorurteil, daran zu zweifeln, ein Mann, zumal ein Musiker, ein Radio-DJ aus Oberbayern, Mitglied der Insider-Popgruppe FSK (= "Freiwillige Selbstkontrolle") und offensichtlicher Fan der im Text viel erwähnten Kultband Sleater Kinney, könne sich für solch einen komplexen wissenschaftlichen Diskurs interessieren, wie es der über Gender nun einmal ist, sich gar intensiv mit ihm auseinandersetzen und dann auch noch locker-flockig aufbereiten? Zumindest muß man ihm wohl zugestehen, geschlechtertheoretisch oder gar feministisch äußerst wißbegierig zu sein, obgleich die zunächst so erfreute Genderforscherin häufig bemerken kann, daß es nicht selten beim bloßen Nennen all dieser Namen bleibt, der Text sich also nur mehr als bloßer namedropper geriert und zum Theorie-Fast-Food für Medien-Enthusiasten verkommt.

Der Roman reproduziert damit vielfach nur, was er darstellt. Gelegentlich mutet er wie ein wenig überzeugender Versuch an, Rainald Goetz' genialen, den etablierten Kulturbetrieb karikierenden Roman "Irre" zu kopieren und ihm auch sprachlich nachzueifern: "Nee, Willi Winkler, behalt mal deine beschissene Meinung für dich". Mehr noch ist der Roman jedoch letztlich ein Text über Medien bzw. über die Medialisierung von Gender. Vorgeführt wird, daß und wie Gendertheorien und Geschlechtsrollenwechsel derzeit in allen Medien Hochkonjunktur haben: im Radio, auf der Platte, auf CDs, auf der Kinoleinwand, im Videofilm, in Büchern, in Zeitungen, am Telefon, auf der Mattscheibe, an der Uni. Alle reden, singen, schreiben in dem Text überall und immerzu über Gender.

Reicht das Wissen des Autors selbst über das bloße Gender-Gerede hinaus? Immer wieder läßt Meinecke relativ konkretes gendertheoretisches Wissen einfließen. Wie etwa die These, daß Männlichkeit und Weiblichkeit lediglich soziokulturelle Diskursprodukte sind, daß auch sex, das biologische Geschlecht, dem kulturell konstruierten gender nicht vorgängig sein kann, da es selbst nur mehr ein diskursives Konstrukt ist, und daß Lacan den Begriff "Phallus" lediglich metaphorisch verwendet wissen will. Es zeigt sich auch dann noch, wenn traditionelle Geschlechterrollen ganz offensichtlich vertauscht werden oder wenn Geschlechterklischees - für jede/s/n erkennbar - auf die Spitze getrieben und dadurch wohl parodiert werden sollen. Fast so, wie es Judith Butler in ihrem Theorie-Bestseller "Gender Trouble" eingefordert hat. Ob Thomas Meinecke wirklich Texte von Lacan gelesen hat? Oder von Freud? Im Text heißt es einmal lakonisch: "Wozu Freud lesen, wenn Butler ihn für uns gelesen hat?" Wer hier Zweifel an Meineckes Belesenheit bekommt, wird gleich auf der nächsten Seite eines besseren belehrt! Etwa wenn der Autor die kuriosen Thesen der amerikanischen Mediävistin Carolyn Walker Bynum aus "Fragmentation and Redemption" kenntnisreich und ausführlichst paraphrasiert. Oder - geradezu "authentisch"- von Judith Butlers leibhaftigem Vortrag am 12. Juni 1997 in München berichtet.

Die am Gender-Diskurs Interessierte kann der intellektuellen Lust des Namen- und Theoriewiedererkennens frönen und fühlt sich für kurze Zeit in ihrem Wissensreichtum bestätigt. Und sehr wahrscheinlich - denn wir alle haben doch Humor! - muß sie sogar gelegentlich in spontaner Selbstbespiegelung über die im Text beschriebene Doktorandin oder auch die Magistrandin lachen, die sich da mit den diffizilen Formulierungen Butlers abmühen: "Die von Drag Queens so genannte Realness, wie soll ich das übersetzen, und wie übersetze ich überhaupt Drag Queen, in Judith Butlers Koordinatenkreuz von performativ dematerialisierender Wiederholung, Parodie und Ironie?" Lächerlich wirken all die verkopften, blutleeren, heterophobischen Gender-Theorie-Adeptinnen, wenn sie sich selbst und die gerade zirkulierenden Theorien so wichtig nehmen: die lesbische Frauke Stöver, die seit Jahren über die "Vorhaut Jesu" promoviert und darüber "zu der katholischen Sängerin Madonna Ciccone als postmoderner Verkörperung der phallischen Mutter Sigmund Freuds" gestoßen ist und dann die Transvestitin Angela, vormals Angelo, heiratet - ebenso wie die ständig Kaffee kochende Korinna Kohn, die, zuletzt schwanger von einem chauvinistischen Drogendealer in einem Odenwald-Kaff im Einfamilienhaus sitzend, über der "Kolonialisierung von Leibesinseln" schwitzt und darüber nachsinnt, ob, vor dem Hintergrund postkolonialer Theorien, eine Ananas auf dem Wohnzimmertisch nicht bereits problematisch ist.

Es scheint so, als habe hier jemand, umgeben von zahllosen Verfechterinnen des intellektuellen Geschlechter-Diskurses, langsam die Nase voll von dem ganzen Gerede über Weiblichkeit, Männlichkeit, queer, sex, gender, kulturelle Konstruiertheit, Performativität und so fort. All die bis zum Überdruß aufgeschnappten Vokabeln und teilweise auch selbst gelesenen Texte will er nun ein für allemal sammeln, aufschütteln, einmal kurz durcheinander wirbeln, um sie dann endlich, endlich fallen zu lassen...

Damit könnte der Roman jedoch zum gefundenen Fressen für jene Zeitgeist-Backlashers werden, die sich insgeheim (oder lautstark im Feuilleton wie etwa der unsägliche Elmar Krekeler in der "Welt") über diesen Roman freuen, weil sie hier reichlich neues Futter für ihre Verbalattacken gegen den wissenschaftlichen Feminismus serviert bekommen!

Bleibt die Frage, was all jene glücklichen, unbehelligt von jeglichem gender trouble lebenden Naturen mit dem Text anfangen, die von den daraus resultierenden Theorien keinen blassen Schimmer haben und - womöglich? - gar nicht haben wollen? Das sollen gar nicht so wenige sein. Da der Lustgewinn des intellektuellen Wiedererkennens letztlich der feministischen Interpretationsgemeinschaft vorbehalten ist, bleibt ihnen, neben der auf fast jeder Seite thematisierten Kleidermode ("Mode und Verzweiflung" lautet ein anderer Buchtitel des Autors im selben Verlag), nur eines: die Musik. Möglicherweise können sie sich an den zahlreichen Anspielungen auf die zeitgenössische Pop- und Rockszene erfreuen, die der DJ kennerhaft auf ebenfalls fast jeder Seite einbringt.

Denen aber, die sich weder im Gender-Theorie-Diskurs noch in der Pop-Culture-Szene zu Hause fühlen, entgeht ein Vergnügen, das dieser Roman den Eingeweihten bisweilen zu bieten hat.

Titelbild

Thomas Meinecke: Tomboy. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1998.
251 Seiten, 0,00 EUR.
ISBN-10: 3518409956

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