Hongkong-Zigeuner

In seiner literarischen Reportage "Die Hundeesser von Svinia" erkundet Karl-Markus Gauß das Leben der slowakischen Roma

Von Mathias SchnitzlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mathias Schnitzler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Investor's paradise" nennt man in neoliberalen Kreisen die Slowakei, eines der jüngsten EU-Beitrittsländer. Vor allem die für unsere Verhältnisse lächerlich geringen Löhne lassen die Herzen der westlichen Firmenbosse höher schlagen. VW und Peugeot haben hier große Werke errichtet, jetzt folgen die Japaner. "Die Slowakische Republik wird der Welt nächstes Hongkong. Ihre Arbeitskraft ist qualifiziert, gebildet und ruhig", kann man auf der Homepage der amerikanischen Botschaft in Bratislava lesen. In der boomenden Hauptstadt liegt die Wirtschaftsleistung pro Kopf inzwischen über dem der fünfzehn alten EU-Mitgliedsstaaten.

Weniger gern spricht man über den durch Armut und horrende Arbeitslosenzahlen geplagten Osten des Landes mit seinen zahllosen Roma-Siedlungen. Ungefähr 400.000 Roma leben in der jungen Republik, in Slums und heruntergekommenen Plattenbausiedlungen, an zugemüllten Dorfrändern, auf dem verseuchten Gelände ehemaliger Kupferminen, oft ohne Strom und fließendes Wasser. Sie gelten, kaum anders als ihre Brüder und Schwestern bei uns, als arbeitsunwillig, renitent und kriminell. Nachdem die slowakische Regierung zu Beginn des Jahres einen einheitlichen Steuersatz von 19% einführte, die Mehrwertsteuer anhob und die Sozialhilfe drastisch kürzte, kam es zu Protesten und Unruhen unter den Roma, die an einigen Orten zur Plünderung von Lebensmittelläden führten. Der Sozialhilferichtsatz für eine Einzelperson beträgt nun 1.450 Kronen (ca. 35 Euro), für eine Familie 4.210 Kronen (ca. 100 Euro). Damit kann man selbst in der Slowakei kaum überleben.

Nachwuchs ist der einzige Reichtum, den die Roma besitzen, deren Durchschnittsalter 15 Jahre beträgt. Die Lebensumstände lassen sie zehn Jahre früher sterben als den Rest der Bevölkerung. Die Arbeitslosenquote liegt bei nahezu 100 %. Verachtung, Hass und Angst bestimmen das Verhältnis vieler Slowaken gegenüber den Roma. Vitazoslav Moric, einer der Köpfe der Slowakischen Nationalpartei (SNS), forderte vor einigen Jahren sogar die Errichtung von so genannten Schutzbezirken: "Wenn wir jetzt nicht Reservate für die Zigeuner schaffen, werden sie in 20 Jahren Reservate für uns einrichten."

Wer sind diese Roma, die Ärmsten unter den armen Osteuropäern eigentlich, vor deren Invasion nach Westen man sich in Brüssel fürchtet? Deren Kinder der Botschafter der EU-Kommission in Bratislava mit finanziellen Anreizen den Eltern entreißen und in Internate stecken lassen will? Welches Schicksal, welche Geschichte und welche Kultur lassen sich hinter dieser stigmatisierten, von anderen Minderheitsgruppen, von sozialdemokratischen Lehrern und rechtskonservativen Stammtischlern gleichermaßen verachteten Bevölkerungsgruppe entdecken?

Karl-Markus Gauß, Kulturjournalist und Schriftsteller aus Salzburg, der sich mit den großartigen Büchern "Die Vernichtung Mitteleuropas" und "Die sterbenden Europäer" bereits auf literarisch-topografische Entdeckungsreise gen Osten begeben hatte, hat die Roma in der Slowakei besucht. "Die Hundeesser von Svinia" ist das Ergebnis eines Unterfangens, das sich der bösen Nachrede vom Elendstourismus nicht gänzlich entziehen kann. Der Zwiespalt, geboren aus dem Bedürfnis nach notwendiger Information und Aufklärung einerseits und wohlfeiler Sympathie des Gastes aus dem Westen anderseits, überträgt sich schnell auf den Leser. Dennoch ist hier eine atemberaubende, eine im positiven Sinne verstörende Reportage entstanden, die ein wichtiges Korrektiv zu den ökonomischen Europa-Visionen vieler Politiker bietet.

"Das Wesentliche an einem Slum ist nicht die Armut, nicht die Gewalt, nicht die Arbeitslosigkeit, nicht der Verfall. Das Wesentliche an einem Slum ist seine Unsichtbarkeit", weiß Gauß zu berichten. "Der Slum bleibt unsichtbar, auch wenn man jeden Tag an ihm vorbeifährt, der Slum ist von einer unsichtbaren Mauer umgeben, und diese Mauer trennt Welten voneinander. Hinter den Mauern leben andere Menschen, die von manchen, die sich sonst zivilisiert zu gebärden wissen, unverhohlen gar nicht für richtige Menschen gehalten werden. 'Du siehst aus der Weite einen Menschen näher kommen', sagte einer, der sich mir gegenüber zuvor höchst liebenswürdig erwiesen hatte, 'und wenn er da ist, siehst du, es ist doch nur ein Zigeuner.'"

Gauß mischt konkrete Informationen und Fakten mit höchst subjektiven, gelegentlich emotionalen Urteilen. Dabei scheut er vor drastischen Worten nicht zurück, wenn er das Verhältnis der Roma zu den anderen Bevölkerungsgruppen wiederholt als "Apartheid" bezeichnet. In vielen Dörfern gibt es getrennte Schulen, Kantinen, sogar Messen für Roma und Nicht-Roma. Die Kinder der Roma, deren Schulschwänzerei und mangelhafte Ausbildung nicht von der Hand zu weisen sind, werden oft in Anstalten für geistig Behinderte gesteckt. Niemand will mit den Roma, deren Name in ihrer Sprache, dem Romanes, übrigens 'Mensch' bedeutet, zu tun haben.

In Svinia, tief im Osten der Slowakei, ist durch die Abschottung ein "geradezu exterritorialer Raum" entstanden, eine aus der Zeit gefallene Roma-Siedlung, die Jahrzehnte praktisch ohne Verbindung zur Außenwelt war. Gauß erlebt hier, mitten in Europa, soziale Bedingungen, wie man sie aus Berichten über indische Slums kennt. Gleichzeitig entdeckt er aber einen unbändigen Lebenswillen und Rudimente einer faszinierenden Jahrhunderte alten Kultur. Gauß, das spürt man in jeder Zeile des Buches, steht auf der Seite der Unterdrückten und Minderheiten. Manchmal schießt er allerdings über das Ziel hinaus, so, wenn er eine dynamisch-junge, den Roma nicht zugetane Bürgermeisterin als "Typus Kraft durch Freude [...] in Stöckelschuhen" bezeichnet.

Dennoch verschweigt der Autor nicht die hausgemachten Probleme, die für uns schwer verständlichen Normen der "Schwarzen", wie sie in der Slowakei auch genannt werden. Es gibt ein regelrechtes Kastensystem unter den Zigeunern, von denen die "Degesi", die sogenannten "Hundeesser", am meisten zu leiden haben. Sie gelten, obwohl der kulturelle Ritus des Hundeessens seit mindestens 40 Jahren nicht mehr vollzogen worden sein soll, als unrein, als Unberührbare. Vom Faktum des Zinswuchers und der Lohnsklaverei einiger Roma-Paten, die ihr Geld durch erzwungene Betteltouren der Schuldner und ihrer Kinder quer durch Europa verdienen, hat man bereits gehört.

"Im großen mörderischen Stil machen Weltbank und Internationaler Währungsfond das mit den Hungerländern der Dritten Welt nicht anders, warum sich also empören, dass im Kleinen Roma so mit Roma verfahren?" Gauß sieht die Roma nicht als Schuldige ihres Schicksals. 1958 wurden sie von den Kommunisten als gleichberechtigte Bürger anerkannt, verloren aber ihren Status als spezifische Bevölkerungsgruppe. Ihre Sprache wurde als Dialekt abgetan und verboten. Als Hufschmiede, Erntehelfer, Kesselflicker und Keramiker, als Sänger und ländliche Entertainer waren sie früher über die Dörfer gezogen und von den Bauern, die noch ihre eigenen Felder bestellten, dringend erwartet worden.

Planwirtschaft und Kolchosen zerstörten dieses funktionierende System, keiner brauchte und erwartete die umherziehenden Roma mehr. Sie verloren ihre Arbeit, ihre Würde, ihre Kultur. Heute ist ihre einzige Erwerbstätigkeit der Bezug von Sozialhilfe. Zumindest in diesem Punkt sind die Roma längst keine Außenseitergruppe mehr. "Als ich in der Slowakei war, lernte ich durchaus zu verstehen, dass jemand lieber nicht in der Nachbarschaft einer Roma-Siedlung leben wollte" gesteht Gauß ein. "Doch zugleich ist mir nirgendwo die Notwendigkeit, auch andere als die eigenen Lebensformen akzeptieren zu lernen, so dramatisch vor Augen gestanden wie dort."

Titelbild

Karl-Markus Gauß: Die Hundeesser von Svinia. Roman.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2004.
114 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3552052925

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