Sekundäre Zeugenschaft

Claudia Brunner und Uwe von Seltmann - zwei Nachkommen von Tätern brechen ihr Schweigen

Von Hanna ChristiansenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hanna Christiansen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alois Brunner organisierte 1939 und 1941 die Deportation von Juden aus Wien und Mähren zur Ermordung in den Lagern in Polen. Ende 1942 war Brunner zum gleichen Zweck mit seinen Mitarbeitern in Berlin stationiert. Im Februar 1943 wurde Brunner nach Griechenland geschickt, wo er die Deportation der Juden Salonikis leitete. Im Juni 1943 ging er nach Frankreich, wo er zunächst dem Lager Drancy vorstand, um dann nach dem Umsturz in Italien im September 1943 den Abtransport der Juden aus Nizza und Umgebung über Drancy nach Auschwitz zu beaufsichtigen. Ende September 1944 kam er nach Pressburg, um die Deportation der Juden der inzwischen deutsch besetzten Slowakei abzuschließen. Brunner werden zahlreiche eigenhändige Morde vorgeworfen - so nachzulesen in der Enzyklopädie des Holocaust.

Claudia Brunner ist seine Großnichte. In ihrer Familie wird über den Großonkel nicht gesprochen. Sein Bild auf der Titelseite einer Zeitschrift wird für Claudia Brunner zum Anlass, sich mit ihm zu beschäftigen. Dies ist der Ausgangspunkt ihres Beitrags in dem gemeinsam mit Uwe von Seltmann veröffentlichten Buch "Schweigen die Täter, reden die Enkel".

Die damalige Studentin der Politikwissenschaft übernimmt an der Universität ein biografisches Referat über Alois Brunner, macht ihn zu ihrem "Forschungsobjekt". Belanglos wäre dies, bliebe sie allein bei den bekannten historischen Fakten. Zwar endet der historische Faktenbericht auf Seite 28, doch berichtet sie auf den folgenden 60 Seiten auch nichts Gehaltvolleres. Stattdessen verfasst sie im Betroffenheitsjargon einen Text, bei dem völlig unklar bleibt, was er dem Leser eigentlich mitteilen soll. Brunner schildert ihr Gefühl, "etwas wieder gutmachen zu wollen, das nie wieder gutzumachen sein kann". Offen bleibt, ob es dieses Gefühl ist, das sie dazu bringt, an einem Austausch österreichischer und israelischer Jugendlicher der dritten Generation teilzunehmen, anlässlich des 55. Jahrestages der Befreiung des Lagers Mauthausen eine Rede zu halten sowie im März 2001 nach Paris zu fahren, um dem in Abwesenheit geführten Prozess gegen Alois Brunner beizuwohnen. Diese an sich bemerkenswerten Aktivitäten führen nicht zu erhellenden Reflexionen, eher zu esoterisch anmutenden Synchronizitäts- und Déjà-vu-Erlebnissen, die darin gipfeln, dass die Verfasserin rückblickend meint, auf den Tod ihres Großonkels mit einer Gehirnhautentzündung reagiert zu haben und bereits in dem nie zuvor besuchten Mauthausen gewesen zu sein.

Auf diese Auslassungen folgt der Beitrag Uwe von Seltmanns. Dessen Großvater war an der Niederschlagung des Warschauer Ghettoaufstands beteiligt. Sein Wissen ist das Ergebnis langer, mühseliger und aufwändiger Recherchen. Dem Enkel geht es um die Rekonstruktion historischer Fakten, die für ihn aufgrund der familiären Verbindung relevant geworden sind. In seinem Alltag trifft er durch seine journalistischen und schriftstellerischen Tätigkeiten mehr oder weniger zufällig auf Spuren seines Großvaters, verfolgt sie und fügt die Puzzleteilchen eins nach dem anderen zusammen. Seine Nachforschungen führen ihn dabei immer wieder an Orte, in denen sein Großvater vor nunmehr über 60 Jahren im Dienste der SS stationiert war. Im Gegensatz zu Brunner deutet er dabei zufällige Zusammentreffen seiner und der Geschichte seines Großvaters nur an; er benennt zwar seinen Wunsch, nicht alle Einzelheiten genau wissen zu wollen und treibt doch seine Forschungen und Bemühungen um Aufklärung der Verbrechen seines Großvaters voran. Zudem kommt er über diese Auseinandersetzung ins Gespräch mit der bisher zu diesem Thema weitgehend schweigenden Verwandtschaft. Er entspricht damit dem Konzept der sekundären Zeugenschaft, wie es von den Literaturwissenschaftlern Ulrich Baer und Geoffry Hartman entwickelt wurde. Auf diese Weise übernimmt er Verantwortung. Zwar nicht für die Taten seines Großvaters, sondern geschichtliche Verantwortung, indem er dazu beiträgt, dass die Erinnerung an die Verbrechen des deutschen Faschismus und damit zugleich auch an die Opfer wachgehalten und nicht verdrängt wird.

Im Falle von Seltmanns kann man somit der wohlwollenden Meinung von Wolfgang Benz folgen, der in seinem Nachwort zu dem Buch meint, dass gerade so persönliche Zeugnisse von Betroffenheit, Trauer und kritischer Auseinandersetzung wichtige Quellen sind für eine "noch ausstehende Mentalitätsgeschichte des Nationalsozialismus und seiner lang anhaltenden Folgen und Wirkungen."

Titelbild

Claudia Brunner / Uwe von Seltmann: Schweigen die Täter, reden die Enkel.
Edition Büchergilde, Frankfurt a. M. 2004.
192 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3936428263

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