Find out all about your dreams...

Wie träumt und deutet die Psychoanalyse hundert Jahre nach Sigmund Freud?

Von Christine KanzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Kanz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Find out all about your dreams, and you will have found all about insanity" - diesem Satz des Neurophysiologen und Neurologen Hughling Jackson war Sigmund Freud in der 1899 abgeschlossenen "Traumdeutung" gefolgt. Er empfing damit, so wusste er, den Schlüssel zu den irrationalen Nacht- und Schattenseiten des menschlichen Daseins, die dem "Es" unterworfen und daher mit dem Kopf nicht mehr zu lenken sind.

Viele der in der "Traumdeutung" ausgebreiteten Thesen sind längst in unser Alltagswissen übergegangen. Wir alle glauben etwa zu wissen, daß Träume "Hüter" des Schlafs sind oder verdrängte Wünsche erfüllen. Wir alle können erklären, was das sogenannte "Unbewußte" ist, vor allem aber meinen wir zu wissen, wie es funktioniert.

Auch wenn seine Thesen wissenschaftlich immer wieder in Frage gestellt werden: Sigmund Freuds "Traumdeutung" ist und bleibt ein "Jahrhundertwerk". Sie ist das "Urbuch" und das "Stiftungswerk" der Psychoanalyse. Der Psychotherapeut Heinrich Deserno erklärt sie dementsprechend auch zum Ausgangspunkt und zur Grundlage der gegenwärtigen "Perspektiven psychoanalytischer Traumforschung", über die er jetzt einen Sammelband herausgegeben hat.

Das aber bedeutet noch lange nicht, daß die hier versammelten Autoren, die, bis auf die Schriftstellerin Ursula Krechel, allesamt Psychoanalytiker bzw. Psychotherapeuten sind, Freuds zentrale Thesen einfach nur bestätigen oder untermauern. Im Gegenteil liefern die meisten von ihnen ganz neue Ansätze, vor allem was die Untersuchungsmethoden einzelner Träume oder Traumreihen angeht: Wolfgang Leuschner, Ulrich Moser und Ilka Zeppelin beschreiben in ihren jeweiligen Beiträgen, wie man sie z.B. mittels verbaler, räumlicher, zeitlicher oder sensorischer Konfigurationen erfassen kann.

Die von Deserno zusammengestellten Beiträge sind jedoch nicht alle neu. Er konfrontiert beispielsweise ältere mit jüngeren Aufsätzen, so etwa Freuds "Revision der Traumlehre" von 1933 mit Didier Anzieus Reflexionen über Freuds Selbstanalyse von 1988. Weiterhin versammelt er wichtige Versuche der letzten Jahrzehnte, die ich-psychologischen Aspekte der Traumtheorie zu erklären (von Erik H. Erikson, Bertram D. Lewin, Ralph R. Greenson, Fritz Morgenthaler). Ob "Traumleben" und Unbewußtes tatsächlich identisch sind und welche Auswirkung eine solche Gleichsetzung auf die Interpretationsmöglichkeiten von Träumen hat, fragen sich dagegen Jean-Bertrand Pontalis, Donald Meltzer, Christopher Bollas und Heinz Böker.

Für Literaturwissenschaftler/innen am interessantesten dürfte jedoch vor allem das Kapitel über die symbolischen Formen des Traumes sein, berührt es doch die Frage, wie man Träume literarisch darstellen kann. Neben Deserno, der jedes Kapitel jeweils einleitend kommentiert, beschäftigen sich damit die Schriftstellerin Ursula Krechel und der Psychoanalytiker Andreas Hamburger, der Leiter der Münchner Traumwerkstatt ist. Er hinterfragt die innerhalb der Psychoanalyse mittlerweile etablierte These Lacans, daß das Unbewußte wie eine Sprache strukturiert sei, und gelangt zu folgendem Ergebnis: "Ob der Traum eine Sprache 'ist', darüber ist ebensowenig zu befinden wie darüber, ob die Sprache eine Sprache 'ist'. Wir gehen so mit ihm um, erleben ihn, hören seine Erzählung. Und: wir antworten. Dadurch wird er zum sprachlichen Akt. Wir können nicht anders, denn wir sind selbst unabdingbar Sprechende - Lacan würde sagen: Gesprochene."

Der Überblick über die psychoanalytische Traumforschung zeigt, daß die psychoanalytische Grundlagenforschung in den letzten hundert Jahren nicht geschlafen, sondern sich weiter entwickelt hat.

Titelbild

Heinrich Deserno: Das Jahrhundert der Traumdeutung. Perspektiven psychoanalytischer Traumforschung.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1999.
475 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3608941851

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