Autoren und Figuren auf Pump

Susanne Schedel untersucht W. G. Sebalds Verwirrspiele mit dem Leser

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Das Geschriebene", erklärte W. G. Sebald einmal, "ist ja kein wahres Dokument. Die Photographie ist das wahre Dokument par excellence." Bilder und Fotografien finden sich in seinen Prosawerken, die sich der Wiederherstellung beschädigter Lebensläufe widmen, in großer Zahl. Dass ihre Authentizität jedoch mitunter nur eine fingierte ist, dass Sebald auf vielfältige Weise die Fiktion des Dokumentarischen erzeugt und zugleich in Frage stellt, belegt eine Dissertation von Susanne Schedel zum Werk des 2001 verstorbenen Autors.

In ihrem Mittelpunkt steht das zentrale poetische Verfahren Sebalds, die Intertextualität. In "Die Ausgewanderten" geistert ein kauziger Schmetterlingsfänger durch die Texte - kundige Leser erkennen in ihm Vladimir Nabokov. In "Schwindel. Gefühle" ist es Kafkas Figur des Jägers Gracchus, die zu neuem Leben erwacht. Die Arbeit mit Autoren und Figuren on loan, auf Pump also, war aber nur eine der Techniken, mit denen Sebald seine geistig-literarischen Verwandtschaftsnetze knüpfte. Akribisch fächert Schedel, die vor vier Jahren für ihr literarisches Debüt "Schattenräume" viel Lob einheimste, die verschiedenen Formen der Bezugnahme auf "Prätexte" auf, die sich in seinen Prosawerken finden lassen. Und verknüpft sie mit Sebalds Hauptthema, den Verheerungen der Geschichte, denen der Einzelne ausgesetzt ist.

Unterscheiden lassen sich die Formen der Referenz danach, wie stark sie "markiert" sind. Denn nicht alle Anspielungen sind gleich offensichtlich. Was beispielsweise hat es mit den unbeschrifteten Wegweisern im Labyrinth der Heide von Dunwich auf sich, die den Erzähler in "Die Ringe des Saturn" entsetzen? Nur Bücherwürmer dürften darin eine Anspielung auf H. P. Lovecrafts Schauererzählung "Das Grauen von Dunwich" erkennen. Schedels Vergleiche von Vorlage und Wiedergabe bringen jedoch auch problematische Modifikationen und fiktionale Anreicherungen ans Licht.

So imaginiert Sebald in "Schwindel. Gefühle" ein Erlebnis, dass der französische Romancier Stendhal in seinen Tagebüchern schildert, den Anblick des Schlachtfeldes von Marengo. Der Vergleich mit dem Original offenbart überraschende Hinzuerfindungen Sebalds: Wo Stendhal beinahe kalt protokolliert, lässt ihn Sebald Verzweiflung und Grauen empfinden beim Anblick unzähliger Gebeine. Demnach wollte Sebald gar nicht das schildern, was Stendhal seinerzeit tatsächlich empfand. Sondern möglicherweise das, was er, Sebald zufolge, hätte empfinden sollen.

Auch jene intertextuelle Polyphonie, für die Sebalds Werke über Melancholiker, Exilanten und geistesverwandte Künstlerfiguren gerühmt werden, erweist sich bei genauer Betrachtung, so Schedel, als nur scheinbare: "Der Erzähler selektiert ihre Stimmen dergestalt, daß er nur solche Prätexte in seine Texte einmontiert, die seinem Ziel der Darstellung von Schrecken und Leiden in der Geschichte dienlich sind. Es handelt sich also um eine Vielstimmigkeit, die in Wahrheit eine Selbstvervielfältigung des Erzählers mit intertextuellen Mitteln ist."

Komplettiert werden Sebalds Verwirrspiele mit dem Leser durch fingierte Dokumente und Anspielungen. In "Schwindel. Gefühle" soll eine Fotografie den Großvater des Erzählers zeigen, tatsächlich handelt es sich jedoch um eine Aufnahme des Schweizer Dichters Robert Walser. Das abgebildete Reisetagebuch des Ambros Adelwarth in "Die Ausgewanderten" hat Sebald selbst geschrieben, wie ein Vergleich mit seiner Handschrift ans Licht bringt. Für Susanne Schedel handelt es sich dabei um Fälle von "Scheinintertextualität", um augenzwinkernde "Authentizitätsfallen", die der Autor dem Leser stellt. Mit ihnen, so die überzeugende Deutung, versuchte der Autor, Misstrauen gegenüber seinen Konstruktionen zu provozieren.

Aus Fremdmaterialien und Fundstücken aller Art, wirklichen und fiktiven, literarischen und autobiographischen Texten, Fotografien und Abbildungen, realen und erfundenen Lebensläufen montierte Sebald, so Schedels Resümee, nach der Methode der Bricolage hochartifizielle "Zerstörungsstudien". Dass diese zugleich lebens- und naturwahr und brüchig-morbide erscheinen, dass die Naht- und Bruchstellen der Einzelteile mal mehr, mal weniger stark verwischt sind, ist für Schedel kein Widerspruch: Diente doch Sebald das Schreiben primär dazu, die "Todesnähe des Lebens" darzustellen.

Titelbild

Susanne Schedel: "Wer weiß, wie es vor Zeiten wirklich gewesen ist?". Textbeziehungen als Mittel der Geschichtsdarstellung bei W.G. Sebald.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2004.
195 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-10: 3826027280

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