Saufen kann er bestens

Wenedikt Jerofejews Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 1956 und 1957

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Das hier sind seine Manuskripte. Er hat nie an irgendeinem Schreibtisch geschrieben, sondern immer da, wo er gerade war. Er lebte wie ein Vagabund, von Bank zu Bank, von einem Straßengraben in den nächsten, von Bahnhof zu Bahnhof. Und währenddessen hat er geschrieben. Diese kleinen Notizbücher hier - das war sein Innerstes. Alles, was er gesehen, gelesen oder gedacht hat, hat er hier aufgeschrieben."

Die Edition seiner Notiz- und Tagebücher bereitet, schon aufgrund der bloßen Menge (circa 2.500 Seiten transkribierten Materials), selbst in Russland "immense" Probleme. Und Übersetzungen in andere Sprachen dürften ähnlich schwierig zu platzieren sein, weiß man doch über den Autor, zumindest hierzulande, so gut wie nichts. Selbst seinem deutschen Verlag, der 1978 den Roman "Die Reise nach Petuschki" in der hinreißenden Übersetzung von Natascha Spitz vorlegte, war er noch unbekannt: "Wenedikt Jerofejew ist möglicherweise tatsächlich der Name dieses sowjetischen Schriftstellers, von dem es heißt, er sei 1939 in Wladimir geboren und habe lange in Moskau gelebt."

Mittlerweile ist bekannt, dass Wenedikt Jerofejew am 24. Oktober 1938 in Cupa in Karelien (ASSR) nördlich des Polarkreises geboren wurde, bereits als 16-Jähriger und mit Auszeichnung die Hochschulreife erwarb und sich im Juli 1955 an der Moskauer Lomonossow-Universität immatrikulierte. Er studierte Philosophie und belegte Deutschkurse, und aus seinem schmalen Werk ist sogar eine Vorliebe für deutsche Dichtung und Philosophie erkennbar - Jerofejew las Kant und kannte Goethe, Schiller und Heinrich Mann. Doch schon im Dezember 1956, nach Ablauf des zweiten Semesters, musste der intellektuelle Überflieger die Universität wieder verlassen - er war durch schwere Alkoholexzesse aufgefallen und hatte sich geweigert, an der obligatorischen Militärausbildung teilzunehmen.

Die "Aufzeichnungen eines Psychopathen" stammen aus dieser für Jerofejew schicksalhaften Zeit. Sie sind sein Tagebuch - oder sind es auch nicht - und dokumentieren den Beginn seines steilen sozialen Abstiegs, der sich nach seiner Relegation von der Universität unaufhaltsam fortsetzte. Die "Aufzeichnungen" umfassen in fünf Kapiteln den Zeitraum vom 14. Oktober 1956 bis zum 14. November 1957 ("Aufzeichnungen eines Geisteskranken I", "Fortsetzung der Aufzeichnungen eines Geisteskranken II", "Noch eine Fortsetzung. Einen Schluß wird es nicht geben III", "Aufzeichnungen eines Geisteskranken IV" und "Aufzeichnungen eines Psychopathen V") und bilden ein Tagebuchtableau, das Jerofejew, ähnlich vielleicht wie Kafka, als literarisches Experimentierfeld nutzte. Unter den Tageseinträgen nämlich finden sich nicht wenige Texte, die formal vom traditionellen Diarium abweichen und etwa als Mischform aus Führungszeugnis und Augenzeugenbericht ("Wie aus zuverlässigen Quellen bekannt wird") oder als Proklamation persönlicher Überzeugungen auftreten. Die meisten Einträge sind überdies szenisch bzw. dialogisch angelegt und lassen mehrere Figuren in performativer Sprechsituation auftreten. Eindrucksvoll liest sich beispielsweise Jerofejews Verhör durch einen Komsomolsekretär - es ist vielleicht die Nachschrift jener peinlichen Befragung, der sich Jerofejew, mittlerweile Arbeiter in einer Baubrigade, unterziehen musste, weil er angeblich faschistische Reden gehalten und die Disziplin im Betrieb untergraben hatte:

"Wissen Sie was, Jerofejew - hören Sie auf mit dem Theater! [...] Wenn ich einen gesunden achtzehnjährigen Burschen sehe, der, anstatt mit der Jugend des Landes für unsere gemeinsame teure Sache zu kämpfen, nichts anderes macht, als Wodka saufen und irgendwas ... Menschenfeindliches zu verkünden, dann kriege ich es mit der Angst! Ja, Angst! Um solche, Entschuldigung, Lumpen, die es gar nicht wert sind."

Schließlich verkündet der Leiter der Kaderabteilung den Kreuzzug gegen die "Jerofejew-Seuche". Von der Universität verjagt und aus dem Komsomol ausgeschlossen, wird Wenitschka, wie er von Freunden liebevoll genannt wurde, Lastenträger, Packer, Aushilfsmaurer, Heizer, Leerguthändler, Strippenzieher einer Telefonbrigade und Diensthabender eines Milizreviers. Seine "Aufzeichnungen", darin dem Tagebuch gemäß, bekunden eine intime Kenntnis dieser privaten Lebensumstände: Sein Großvater "bekreuzigte mit zitternden Fingern die auf ihn gerichteten Mündungen sowjetischer Gewehre"; sein Vater überlebte 16 Jahre Lagerhaft nur knapp und starb 1956; der Bruder, zu sieben Jahren Freiheitsentzug verurteilt, folgte ihm ein Jahr später ins Grab; die Mutter schließlich starb im Februar 1957. Und auch aus Kirowsk, wo sich Jerofejew als Jahrgangsbester sein "goldenes Zeugnis" erwarb, werden schreckliche Ereignisse nachgetragen, darunter die "Selbstaufhängung" des Vaters einer Schulfreundin, deren bereits "üppige Reize" den halbwüchsigen Musterschüler alptraumhaft verfolgt hatten.

Immer wieder landete der Autor mit schweren Alkoholvergiftungen in der Psychiatrie: "Sozialer Abstieg, Psychose. Bei Jerofejew finden Sie alles", so sein Psychiater Mosijew. Sein wichtigstes Buch, "Die Reise nach Petuschki", 1969 entstanden, sei "wie ein klassischer Report über Alkoholismus". Tatsächlich gilt es als die beste Beschreibung sowjetischer Wirklichkeit, die wir haben: Eines Freitags will der autornahe Ich-Erzähler von Moskau ins zwei Stunden entfernte Petuschki fahren, wo ihn seine Geliebte und sein Kind erwarten. "Nach Petuschki" aber, heißt es gegen Ende, "kommt überhaupt keiner". Petuschki, im Buch ein Phantasma, ein unerreichbarer Traum vom Glück, steht in der Wirklichkeit für den bitteren Absturz ins Delirium, wie Galia Jerofejew erzählt: "Nach Petuschki ist er öfter gefahren, aber das war kein Zuhause, nein, dort haben sie nur gesoffen, das ganze Dorf hat gesoffen. Ja, in Petuschki, da hat man ihn immer schon erwartet."

Jerofejew schrieb auch, wenn er trank, und erschuf sich ein irrwitziges Dekokt aus Kunst und Literatur. Sein Tagebuch ist, ebenso wie sein weltbekannter Roman, ein 'gebildetes' Werk mit zahlreichen Bezugnahmen auf die Bibel, auf Heiligenlegenden, auf europäische Schriftsteller von Format und ihre Hauptwerke, sowie auf historische Ereignisse, vor allem der sowjetischen Geschichte.

"Sie beerdigten mich auf dem Friedhof Wagankowo", heißt es unter dem Datum des 11. Juni 1957, gleich zu Beginn der fünften Kladde. Jerofejew starb zwar früh, doch so früh nicht. Erst 1990 erlag er den Folgen einer Krebserkrankung, und noch Ende der achtziger Jahre gelang es begeisterten Lesern, ihren Autor in einem Moskauer Wohnblock ausfindig zu machen. Galia Jerofejew: "Er lebte hier in der Gegend, streunend wie eine kleine Katze. Freunde kamen, verbrachten den Abend mit ihm und ließen ihn nachher im Treppenhaus zurück. Dort habe ich ihn gefunden. Ich sagte: 'Komm herein.' Er kam und er blieb."

In Paul Pawlikowskis preisgekröntem Film "Die Todestrinker" (1992) hat Wenedikt Jerofejew über sein Leben und seine Zeit an der Lomonosow-Universität bereitwillig Auskunft gegeben: "Ich hatte gedacht, es wäre ein Tempel des Lernen, dieser verdammte Klotz. Also ging ich rein. Ich guckte nach rechts - grauenhaft. Nach links - grauenhaft. Mein Gott, dachte ich. Ich muß am völlig falschen Ort gelandet sein. Ich fing sofort an, Leibniz zu lesen und zu trinken. Das paßte zusammen."

Weil aber die Universität diesen Freigeist nicht ertragen konnte, und Wenitschka auch sonst nicht integrierbar war, verlief sein weiteres Leben wie auf einem Abstellgleis. "Wir saßen im letzten Wagen", so ein ehemaliger Arbeitskollege in Pawlikowskis Filmporträt, "und lebten dort, für zwei, drei Jahre. Vielleicht auch für acht. Morgens wachten wir auf und debattierten gleich darüber, wer was zu trinken besorgt." Jerofejew vegetierte zeitweise schlimmer als ein Hund und trank Mixturen aus Eau de Cologne, Möbelpolitur und Brennspiritus. Seine Cocktails trugen Namen wie "Der Kuß der Tante Klara", "Kanaanbalsam" oder "Stern von Bethlehem" und ließen ihn stille Betrachtungen über soeben Erbrochenes anstellen: "Hat Kotze nationale Besonderheiten?" (sub 7.-8. November 1956).

Neben dem Suff ergab er sich nur den Büchern, Frauen interessierten ihn nicht: "Komischer Kerl, dieser Jerofejew. Ewig liest er, liest er ... Aber saufen kann er bestens." Sein Werk ist, soweit wir es überblicken können, bis auf die 2.500 transkribierten Seiten seiner Notiz- und Tagebücher vergleichsweise schmal: Jerofejew hinterließ neben einigen Essays nur den erwähnten Roman sowie ein halbwegs abgeschlossenes Theaterstück ("Die Walpurgisnacht oder Die Schritte des Komturs"). Seine Tagebuchprosa ist nüchtern, grazil, kurzweilig - und von trockenem Witz. Thomas Reschke hat sie insgesamt passabel, bisweilen auch etwas sperrig ins Deutsche gebracht. Die Fußnoten freilich, die der Übersetzer beigesteuert hat, sind mitunter auch irreführend, so beispielsweise, wenn er beim "Geist von Genf" auf die Abrüstungsverhandlungen der Großmächte verweist, statt auf den gleichnamigen Cocktail, dessen Zusammensetzung (50 g "Weißer Flieder", 50 g Antifußschweißpulver, 200 g Shiguli-Bier und 150 g Spritlack) Jerofejew in seinem Roman "Moskau - Petuschki" zum Besten gibt.

Titelbild

Wenedikt Jerofejew: Aufzeichnungen eines Psychopathen. Tagebuch 1956-1957.
Mit einer editorischen Notiz von Sergej Gladkich.
Übersetzt aus dem Russischen von Thomas Reschke.
Tropen Verlag, Köln 2004.
192 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-10: 3932170636
ISBN-13: 9783932170638

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