Literarische Phantasien zur Geschichte der Psychoanalyse
Manfred Dierks' biographischer Roman über C.G. Jung und die Entstehung der Tiefenpsychologie
Von Walter Schönau
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWelcher Biograph oder Wissenschaftler hat nicht schon einmal das Bedürfnis verspürt, die Person, die man zum Studienobjekt gewählt hat, nicht mehr nur von außen, sondern auch von innen darzustellen? Wer sich auf das Experiment einer inneren Biographie einläßt, muß die Grenze zwischen Wissenschaft und Dichtung, zwischen objektiver und subjektiver Darstel-lung überschreiten. Das ist durchaus ein Wagnis, weil es das Risiko birgt, von den Fachkolle-gen nicht mehr ernstgenommen zu werden. Das ist aber nun einmal der Preis für die so ge-wonnene Möglichkeit, im Medium der literarischen Fiktion Ein-sichten treffender und über-zeugender wiedergeben zu können als in dem restringierten Code der strengen Wissenschafts-sprache, ohne das viele Wenn und Aber der zünftigen Fachdisziplin.
Ein Buch vom Oldenburger Germanisten Manfred Dierks, dem namhaften Thomas-Mann-Forscher, kann als Beispiel dienen - übrigens auch dafür, daß das Experiment der Grenzüber-schreitung nur erfolgreich sein kann, wenn der Wissenschaftler auch gut schreiben kann. Dierks war aufgefallen, wie viel Gemeinsames Wilhelm Jensen und Thomas Mann mit-einander ver-band, und er hatte sich vorgestellt, wieviel die beiden Schriftsteller aus Lübeck sich zu sagen gehabt hätten, wenn sie sich in München zur Zeit der vorigen Jahrhundertwende getroffen hätten. Eine Begegnung oder Bekanntschaft der beiden wäre nicht nur durchaus möglich, sie wäre in Anbetracht der Umstände geradezu unvermeidlich gewesen - nur leider ist sie nir-gends belegt. Ein anderer Forscher hätte nach dieser Feststellung sein Material seuf-zend in einer Schublade geborgen, Manfred Dierks hat daraus "eine fast wahre Erzählung aus dem Leben Thomas Manns" gemacht. Er nannte sie Der Wahn und die Träume (Düssel-dorf/Zürich: Artemis und Winkler 1997), in Anspielung auf Freuds Analyse von Jensens Novelle "Gradiva", die in der Erzählung ebenfalls zentrale Rolle spielt.
Ein vergleichbarer Fall, bei dem ein Wissenschaftler das Bedürfnis fühlte, den Schritt über die Grenze zwischen der objektiven Wissenschaft und der dichterischen Freiheit zu wagen, ist die konjekturalbiographische Fiktion des amerikanischen Psychotherapeuten Irvin D. Yalom When Nietzsche wept (1992, auf deutsch erschienen als Nietzsches Tränen). Dieses Buch handelt von einer proto-psychotherapeutischen Behandlung Nietzsches bei dem Wiener Arzt Dr. Josef Breuer, dem zeitweiligen Mentor und Kollegen von Freud. Auch hier werden die beiden Protagonisten - in einer Krisenepisode, die so nicht stattgefunden hat, aber durchaus ihre eigene Überzeugungskraft besitzt - von innen her porträtiert. Beim Leser entsteht damit ein tieferes Verständnis für die Lebensproblematik Nietzsches und für die Persönlichkeit Breuers als eine objektive Beschreibung in 'Außensicht' hätte bieten können. Das Wagnis, diese beiden historischen Gestalten miteinander zu konfrontieren und sie in ihren Gesprächen die Grundsätze der modernen Psychotherapie entdecken zu lassen, konnte auch hier nur gelingen, weil Yalom nicht nur über genaue historische Kenntnisse, sondern auch über schriftstellerische Begabung verfügt.
Für Dierks als Germanist war der Moment des alea jacta est gekommen, als er sich entschloß, sein Bild der psychischen Konstitution von Thomas Mann mit literarischen Mitteln in erdichteter - und also auch verdichteter Form - zu schildern. Das ist ihm so sehr geglückt, daß nun von seiner Hand eine zweite "literarische Phantasie" über eine historische Person erschienen ist, die die Lehrjahre von Carl Gustav Jung zum Thema hat. Wiederum ist es eine biographische Erzählung vor dem Hintergrund der vorigen Jahrhundertwende. Diesmal spielt sich die Handlung zunächst in Basel ab (1898/99), wo Jung Medizin studierte, danach hauptsächlich in Zürich (1900-1905), genauer im Burghölzli, der berühmten psychiatrischen Klinik der Universität, dem "Weltkloster", wo Jung als Assistenzarzt arbeitete und 1902 promovierte. Ausführlich kommt auch sein Aufenthalt in Paris, wo er in der Salpêtrière bei Janet arbeitete, zur Sprache. Die Romanhandlung gipfelt am Schluß in einem Kriminalfall mit Mord und Selbstmord, die beide im Zusammenhang stehen mit einer der fragwürdigen rassistischen Sekten, die damals in Europa die Geister verwirrten. Das Buch schließt mit einem kurzen Epilog, in dem Jung 1918 als Militärarzt in einem Feldlazarett auftritt. Dort begegnet ihm noch einmal seine Basler Jugendgeliebte Zoia, die er auch in Paris wieder getroffen hatte, ein Schankmädchen aus den Walliser Bergen, das ihn in die Geheimnisse der körperlichen Liebe und in das eigene Unbewußte, in das "Nachtgebiet" eingeführt hatte. Allmählich bildet sich in ihm die Vorstellung eines Schattenreichs, einer Zweiten Person, die mit einer zweiten Stimme sprechen kann. Er erkennt diese Stimme bei den okkulten Experimenten, in der Hypnose, in der Liebe, in der ekstatischen Sprache von Nietzsches "Zarathustra", und in den Wahnvorstellungen seiner Patienten. Was sein Ingenium auszeichnet ist, daß er auch selbst die terra incognita des eigenen Nachtgebietes erkundet, aber ihr nicht, wie seine Patienten, verfällt.
Was Manfred Dierks - im Rahmen des Möglichen und historisch Wahrscheinlichen - darstellen wollte, wird dem Leser bald klar: Es sind die intimen Erlebnisse und prägenden Erfahrungen des Studenten und des jungen Psychiaters, die schließlich zu seiner Lehre von den Archetypen und vom kollektiven Unbewußten geführt haben. Zwar wissen wir einiges darüber, unter anderem aus Jungs eigenen "Erinnerungen, Träumen, Gedanken" (1963) und aus mehreren Biographien, aber Dierks wollte offenbar das untergründige lebensgeschichtliche Rhizom, aus dem Jungs Lehre hervorgegangen ist, so detailliert schildern, daß der Leser diese allmähliche Entfaltung einer Weltanschauung und einer psychologischen Doktrin aus den verschiedensten Quellen, Erfahrungen und Eindrücken von innen her miterleben kann. Eine solche narrative Beschreibung der Lehrjahre einer berühmten und umstrittenen Persönlichkeit wie der C.G. Jungs wirkt tatsächlich stimmiger als eine streng objektive, welche sich vielerlei Beschränkungen auferlegen muß. Das heißt natürlich nicht, daß sie die Fakten willkürlich ändern darf, nur daß sie die Wissenslücken - das subjektive Erleben, verschwiegene Episoden - ausfüllt. Hier hat Dierks sich nun weiter vorgewagt als in seiner vorigen biographischen Phantasie. Indem er sein Werk einen Roman nannte und Namen änderte, hat er das auch angedeutet. Aus Jung wird bei ihm deshalb Alt, aus dem somnambulen spiritistischen Medium, der Kusine Helly Preiswerk, wird eine Vally, während andere historische Personen - Bleuler, Janet, Freud - ihren Namen behalten dürfen. Eigenartig ist allerdings, daß er seinem Helden eine andere Ehefrau gibt, die reiche und schöne Meret Kaegi aus Zürcher Patrizierfamilie anstatt der wirklichen Emma Rauschenbach aus Schaffhausen. Die faszinierende Figur der Zoia, die Führerin in das Gebiet der Sexualität, ist eine biographische Konjektur, die begreiflicherweise nicht dokumentiert ist, der aber in Dierks' Schilderung der Entwicklung des großen Tiefenpsychologen eine Hauptrolle zuerkannt wird. Der dargestellte Abschnitt dieser Entwicklung liegt zwischen dem Tod des Vaters (1896) und der ersten intensiven Freud-Lektüre (1906) und behandelt den Adoleszenten, und nicht - was auf andere Weise aufschlußreich gewesen wäre - die frühe Kindheit im Schweizer Pfarrhaus auf dem Lande.
Wer diesen historischen Roman, in dem diesmal die Nahtstellen zwischen literarischer Phantasie und sorgfältig recherchierten Fakten unkenntlich gemacht sind, zu Ende gelesen hat, ist belehrt, verwirrt und hingerissen. Belehrt, weil er den langsamen Prozeß der Herausbildung einer Weltanschauung und einer neuen Tiefenpsychologie hat verfolgen können und tiefe Einblicke in die Welt der damaligen Psychiatrie gewonnen hat. Verwirrt, weil er in einer künftigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung aus diesem Roman nicht wird zitieren können. Denn der Autor hat seine Karten am Ende nicht offen auf den Tisch gelegt (wie im vorigen Buch und wie Yalom es auch tat), hat keine einzige Literaturangabe gemacht, so daß der interessierte Leser völlig unsicher ist, was nun als Tatsache und was als ergänzende Erfindung zu betrachten ist. Hingerissen, weil er eine gut erzählte, sprachlich liebevoll gestaltete Erzählung gelesen hat, die einen entscheidenden Abschnitt im Leben von C.G. Jung vor dem Hintergrund der damaligen Kulturströmungen und sozialen Spannungen darstellt.
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