Die Geburt des "Zauberbergs" aus dem Geiste der Verwirrung

Thomas Mann und der Erste Weltkrieg

Von Jürgen EderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Eder

Serenus Zeitblom, wie Hieronymus im Gehäus in seiner Freisinger Emigrantenklause die realen und seelischen Erschütterungen eines zweiten Weltkrieges erlebend, erinnert sich der "glühenden August-Tage 1914", der allgemeinen "heroischen Festivität": "Meine Freisinger Primaner hatten rote Köpfe und strahlende Augen von alldem." Analysiert man Thomas Manns erste Reaktionen auf den Kriegsausbruch 1914, etwa in dem scharfen und dezisionistischen Aufsatz "Gedanken zum Krieg", dann ist man versucht, beim Verfasser "roten Kopf" und "strahlende Augen" ganz plastisch Bild der Erinnerung werden zu lassen. Sein Verhalten in dieser frühen Phase hat häufig etwas scheinbar bewußt regressives, als gewollter Rückfall in kindliche Einheitsphantasien. Sigmund Freud hat in "Zeitgemäßes über Krieg und Tod" (1915) solche psychischen Prozesse einsichtig seziert. Noch einmal aber zum "Doktor Faustus", der auch eine nationale Psychopathographie beschreibt, in der die "Ideen von 1914" ihren spezifischen Ort zugewiesen bekommen. Der Humanist Zeitblom rekonstruiert jene Tage der "Erhebung, historisches Hochgefühl, Aufbruchsfreude, Abwerfen des Alltags, Befreiung aus einer Welt-Stagnation, mit der es so nicht weiter hatte gehen können [...]". Thomas Mann erinnert sich hier via seiner Spiel-Figur eigener Empfindungen und Haltungen, und bei allen inzwischen erlangten kritischen Einsichten in das "Hinwerfen des eigentlich Pflichtgemäßen", "Hinter-die Schule-Laufen" solcher Reaktion will er auch im Jahr 1944/45 das Erlebnis "1914" nicht in toto preisgeben. "Vergleichsweise reinen Herzens" sei man damals in den Krieg aufgebrochen, und "der Rede unseres philosophischen Reichskanzlers" (Bethmann-Hollweg) anläßlich der völkerrechtswidrigen Invasion Belgiens wird attestiert, ein "sinnendes Schuldbekenntnis" mit seiner "vor Gott vertretenen Geringschätzung eines alten Rechtspapiers angesichts gegenwärtigen Lebensdranges" zu sein. Auch vom "fassungslosen Tugendgebrüll" der Kriegsgegner ist die Rede, es fehlte nur noch der Begriff des Zivilisationsliteraten. Die Kapitel XXX-XXXIII des späten Romans spiegeln aufs genaueste eine These dieses Beitrages: daß Thomas Mann sein "1914" nie gänzlich revoziert hat. Das ambivalente Absetzen von den "Betrachtungen eines Unpolitischen", seinem "Schmerzensbuch", ist nicht nur dafür erkennbar. 1950, im Lebensrückblick "Meine Zeit", wird bilanziert: man habe nie etwas anderes getan "als die Humanität zu verteidigen" - auch 1914 bis 1918 nicht!

Im "Vorsatz" des "Zauberbergs", der durch Krieg und journalistisch-essayistische Reaktion darauf bis 1919 unterbrochen wurde, spricht der Erzähler von "dem großen Kriege, mit dessen Beginn so vieles begann, was zu beginnen wohl kaum schon aufgehört hat." Der Roman, der sich als Seelenpanorama europäischer Vorkriegswelt lesen läßt und nach Thomas Manns Wort von Anfang an auf eine Katastrophe wie den Ausbruch des Krieges zugesteuert sei - der "Zauberberg" liefert eine Art erzählerischer Synchronisation zu dem, was in den "Betrachtungen" oft schwerfällig und widersprüchlich behauptet wurde. Man tut gut daran, den Roman auch in Hinsicht auf den politischen Thomas Mann jener Kriegsjahre zu lesen - und wird entdecken, daß vieles differenzierter und vorbehaltvoller in politicis gesagt ist denn in den Kriegsschriften. Eine Beobachtung, die sich weiter verfolgen läßt: für den politischen Beobachter ist vieles im "Doktor Faustus" interessanter als die ausgedehnte publizistische Tätigkeit im Exil. Die großen Dispute bzw. Lehrgespräche zwischen Naphta und Settembrini, das komplexe Bild des Soldatischen in Joachim, schließlich "Gereiztheit" und "Donnerschlag" spiegeln durchaus Kriegs- und Vorkriegs-Gedanken Thomas Manns wider.

Trotzdem werden sich die folgenden Überlegungen im wesentlichen auf die unmittelbaren Reflexe und Reaktionen zwischen 1914 und 1918 stützen, die späteren Einordnungs-Versuche nur gelegentlich berücksichtigen. Neben vielen anderen Gründen scheinen mir folgende wichtig: im Krieg erfährt respektive erleidet Thomas Mann seinen "Durchbruch" zum Politischen - zumindest subjektiv. Auch seiner Mitwelt erschien dies so, vom Bruder bis zu Romain Rolland. Natürlich ist es auch unter dem Aspekt einer "Psychologie des Krieges" authentischer und interessanter, die unmittelbare Konfrontation und Thematisierung des Krieges zu beobachten. Denn im Erzählen ist neben den erwähnten Realia natürlich immer das Beziehungsgeflecht zu beachten, muß die Vieldeutigkeit der Eindeutigkeit übergeordnet werden. "Eindeutigkeit" aber ist es in hohem Maße, was der Künstler einer "doppelten Optik" in seinem Kriegsfeuilletonismus gelegentlich produziert. Allerdings wird zu zeigen sein, daß daneben durchaus der Versuch gemacht wurde, sich die Polyperspektive zu erhalten. Schließlich läßt sich an den Arbeiten der Kriegsjahre auch der Beginn einer "Rhetorik des Hasses" bei Thomas Mann beobachten, die in Variationen bis ins Exil hinein beobachtet werden kann. Heinrich Manns im amerikanischen Exil nur scheinbar überraschter Feststellung, sein Bruder sei politisch gesehen inzwischen viel radikaler, aggressiver als er selbst, hätte sich derjenige, der das aussprach, insgeheim wohl hinzudenken können: wie damals. Frühe Versuche auf diesem Felde gab es bis dahin eigentlich nur - in Briefen an den Bruder. Auch hieraus erhellt, wie stark es sich zwischen 1914 und 1918 um Bruder-Krieg handelte.

Hatte Thomas Mann die Gefahr eines Krieges im Sommer 1914 kommen sehen? Man darf das wohl verneinen. Obgleich intensiver Zeitungsleser, hatte er nicht recht verstanden, was sich da in den letzten Jahren an europäischem Krisenpotential aufgehäuft hatte. Die Wendung aus dem "Tod in Venedig", nach der im Frühling "des Jahres 19.." "unserem Kontinent monatelang eine so gefahrdrohende Miene" gezeigt worden sei, bleibt doch vereinzelt und findet in der Korrespondenz so wenig Erwiderung wie in anderen Texten. Dazu kommt, daß Thomas Mann im Reichskanzler Bethmann-Hollweg einen Garanten für die bürgerliche Solidität der Reichsführung sah. Wie "peinlich" ihm schon damals die Theatralik des Schauspielers auf dem Thron gewesen sein mag, ist schwer zu sagen: "Die Vernunft der Verantwortlichen" schien ihm hinlänglich, und von eigenen anderen Wünschen wußte er offensichtlich bis zum Juli 1914 nichts. Anhand einiger Zitate aus den kritischen Tagen Juli/August 1914 ist zu zeigen, daß Thomas Mann nicht sofort bzw. nicht ausschließlich vom "großen, grundanständigen, ja feierlichen Volkskrieg" schwadronierte. Am 30. Juli schreibt er an Heinrich - mag sein in Zurückhaltung ob dessen bekannter Haltung:

Ich muß sagen, daß ich mich erschüttert und beschämt fühle durch den furchtbaren Druck der Realität. Ich war bis heute optimistisch und ungläubig - [...]. Auch neige ich noch immer zu dem Glauben, daß man die Sache nur bis zu einem gewissen Punkte treiben wird. Aber wer weiß, welcher Wahnsinn Europa ergreifen kann, wenn es einmal hingerissen ist!

Heinrich dürfte hier noch gehofft haben - bis zum Brief vom 7. August 1914. Zwar wird dort zunächst wieder von "Heimsuchung" gesprochen, die bange Frage gestellt, wie Europa sich nach den Krieg wohl darstellen möge. Doch dann folgt, nahezu im abrupten Wechsel, die Formel, die fast stereotyp in den nächsten Wochen und Monaten wiederholt wurde: "Muß man nicht dankbar sein für das vollkommen Unerwartete, so große Dinge erleben zu dürfen? Mein Hauptgefühl ist eine ungeheuere Neugier - und, ich gestehe es, die tiefste Sympathie für dieses verhaßte, schicksals- und rätselvolle Deutschland, das, wenn es ,Civilisation' bisher nicht unbedingt für das höchste Gut hielt, sich jedenfalls anschickt, den verworfensten Polizeistaat der Welt zu zerschlagen."

Letzteres wohl nur eine Gratifikation für den Bruder, eine "goldene Brücke", über die ja auch viele Sozialdemokraten glücklich gingen. Denn daß ihm ausgerechnet am Kampf gegen das "heilige Rußland" etwas liegen sollte, hat er schon bald klar und häufig genug dementiert. Ein Brief an Philipp Witkop, die Erinnerungen Klaus Manns, Golo Manns - auch sie verzeichnen diesen seltsamen Stimmungsumschwung von Sorge, Skepsis, Entsetzen zu euphorischer Bejahung und beinahe mystischer Identifikation. Bis heute bleibt ungeklärt, was in diesen Wochen geschehen ist, diesen Wandel in extremo hervorgerufen hat. Hier wie vielleicht sonst nicht hat man den Verlust der frühen Tagebücher zu beklagen. Man ist auf einige Mutmaßungen angewiesen, bevor man sich dann den publizierten Dokumenten des "Gedanken-Wechsels" anvertrauen kann. Die kürzlich vorgelegten umfangreichen Biographien von Klaus Harpprecht und Donald A. Prater überspringen das Problem - Harpprecht verbirgt es hinter der numinosen Kapitel-Überschrift "Der Absturz".

Es scheint für das Verständnis dessen, was sich da in Thomas Mann im August 1914 vollzog, ein Brief maßgeblich, der fast ein Jahr vorher geschrieben wurde - ausgerechnet an Bruder Heinrich. Dort ist so etwas wie das Eingeständnis vollständiger Verzweiflung verzeichnet: "immer drohende Erschöpfung, Skrupel, Müdigkeit, Zweifel, [...]; dazu die Unfähigkeit, mich geistig und politisch eigentlich zu orientieren, wie Du es getan hast: Ich bin ausgedient und hätte wahrscheinlich nie Schriftsteller werden dürfen."

Übrigens macht dieser Brief klar, warum Thomas Mann so allergisch auf den berüchtigten zweiten Satz des "Zola"-Essays reagierte: "Sache derer, die früh vertrocknen sollen, ist es, schon zu Anfang ihrer zwanzig Jahre bewußt und weltgerecht hinzutreten." Die Kriegsgedanken waren deshalb von Anfang an brüderlich geprägt, Auseinandersetzungen mit Heinrich. Jedenfalls wird von da ausgehend psychologisch nachvollziehbar, welche Möglichkeit die Erschütterung 1914 bedeutete: Ausbruch aus solcher Lethargie, der Durchbruch "in eine Wagniswelt neuen Gefühls", "eine Kunst mit der Menschheit auf du und du..." - so formuliert es Adrian Leverkühn im Gespräch mit Zeitblom, im Verlauf eines Gespräches während der erzählten Zeit des Ersten Weltkrieges. Befreiung aus der künstlerischen Krisis und scheinbar endlich ein Weg, der "Eises-Kälte" im Verhältnis zum Allgemeinen zu entkommen. Deutschland, die gesamte Nation und ihre Gesellschaft, die bislang in ihren Teilen nichts voneinander wissen wollten - sie erfuhr ein maßloses Gemeinschaftsgefühl, dem Rausch nicht unähnlich und doch - täuschend echt. Dies mag exzessive Ausbrüche wie den folgenden aus dem ersten Kriegs-Beitrag im November 1914 erklären, der viel von der ansonsten so verachteten "steilen" Geste aufweist und für den Thomas Mann, den man zu kennen glaubte, unglaublich schien: "Krieg! Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheure Hoffnung"; von den "Tränen in den Augen" geht die begeisterte Rede, die den Schreiber "nachts vor Glück nicht schlafen lassen". Den Krieg habe man "auf irgendeine Weise ersehnt; hatte im tiefsten Herzen gefühlt, daß es so mit der Welt, mit unserer Welt nicht mehr weitergehe." Wir wissen, daß Thomas Mann mit diesem hymnischen Gruß an "das große Gewitter" nicht alleine stand - aber er dürfte wohl als ein reichlich unerwarteter Saulus erschienen sein. Offensichtlich ist, daß sich in Thomas Manns Reaktion viel von dem bewahrheitet, was sich in einem Urteil Heinrich Manns von 1918 über den Bruder ausdrückt: er sei unfähig, anderes als das eigene Leben ernst zu nehmen, getrieben lediglich von einer "wüthenden Leidenschaft für das eigene Ich." Die Idee des Repräsentantentums zeigte sich diesmal in ihren fatalen Aspekten: hier verwechselte sich einer peinlich mit der Allgemeinheit, suchte in der allgemeinen Katastrophe die Gelegenheit für einen Neuanfang. Die "Gedanken im Kriege" sind gewissermaßen der intellektuelle Preis, der freudig und scheinbar bedenkenlos entrichtet wird. Gewiß, die ersten Kriegshefte der "Neuen Rundschau" waren voll mit Devotionalien, Ergebenheitsadressen, schlechten Hymnen auf den Gott des Krieges. Aber nur wenige ließen sich dermaßen hinreißen wie Thomas Mann in diesen ersten Monaten. Die Vorstellung vom Künstler als Soldaten fand sich zwar schon im "Tod in Venedig", aber als "Blutzeugenschaft, [...] als ein Ausdruck der Zucht und Ehre endlich Sinn für das Schmucke, das Glänzende" wurde das Bild dort nicht mißbraucht. Frankreich erscheint nun als degeneriertes, pervertiertes Land, das "süße Frankreich", ekelhaft feminisiert, mit "irren", "qualgeborenen" Vorstellungen über Deutschland - diese Nation habe gar kein "Recht auf den Krieg". Die Geschichte werde zeigen, daß dieses Deutschland, das man "einzingeln, abschnüren, austilgen" wollte, als militärischer und moralischer Sieger auf dem Felde bleiben werde. Europa stünden harte Lehrjahre bevor - und gut zu Gesicht. Welch eine "Wandlung durch Gottes Fügung", möchte man sagen, von einem, der noch vor kurzem verächtlich vom "General Ritter vom Staat" als Bild Deutschlands gesprochen hatte.

Trotzdem bietet "Gedanken im Kriege" noch mehr als bloße Propaganda. Der stilisierte Gegensatz von "Kultur" und "Zivilisation", die sich als hintergründige Antagonisten in diesem Kriege messen würden, beschäftigte in verschiedenen Variationen Thomas Mann die längste Zeit, das Notizenkonvolut zum Projekt "Geist und Kunst" macht das deutlich. Hermann Kurzke hat insofern recht: Thomas Mann setzt hier ein Konzept fort, das bereits existierte. Die Schriften der Kriegszeit verbinden gewissermaßen "Altes und Neues", wobei das tagespolitische Neue teilweise nur willkürlich zu integrieren ist. Insofern ist werkgeschichtliche Kontinuität natürlich nicht einfach abgeschnitten. Aber man sollte die aktuellen "Anreicherungen" nicht übersehen und geringschätzen. Die Sorge, den Künstler hier hinter politischen Narreteien aus den Augen zu verlieren, ist verständlich - muß aber ausgehalten werden. Immerhin vermag man dann auch besser zu ermessen, was Thomas Mann künftig doch noch erlernen sollte, wenn es um Politisches geht.

Eine Rolle mag für den immer "Anlehnungsbedürftigen" gespielt haben, daß die nationale Begeisterung nicht nur en masse, sondern auch in unmittelbarer Nachbarschaft, bei Freunden und Bekannten auftrat. Richard Dehmel, Oskar Bie, Gerhart Hauptmann, Bruno Walter, Ernst Bertram usw. sind zu nennen. Die programmatische Einleitung in das erste Kriegsheft der "Süddeutschen Monatshefte", die ihren Sitz in München hatten und die geistige Atmosphäre dort recht gut widerspiegeln, zeigt die enge Berührung mit den Kriegs-Ansichten Thomas Manns, der übrigens auch Mitarbeiter der Zeitschrift war. Sogar die Spitzen gegen Autoren wie Heinrich Mann sind hier zu finden, die in den "Betrachtungen" zum Flächen-Bombardement ausgeweitet werden: "nun sehen wir, daß das ein paar Literaten waren, die sich für das junge Geschlecht ausgegeben hatten". Cossmann erklärt den Krieg zum Kultur-Krieg, auch wenn er den Begriff der "Zivilisation" als Gegenpol nicht gebraucht: "Dieser schönste Verteidigungskrieg, den je ein Volk geführt - [...] - gilt nicht nur Deutschland, gilt der ganzen Kultur. Der Kultur dienen, heißt jetzt, dem Krieg dienen." Auch hier wird am Mythos der "Ideen von 1914" gearbeitet, die man - endlich -als Antwort auf 1789 und ihre Erben entdeckt zu haben glaubt. Der wirkliche Krieg, der ja schon bald in einen wenig attraktiven Graben- und Stellungskampf mündete, wird nur gelegentlich wahrgenommen, mit ehrfürchtigem Schauder und verlegener Geste. Daß die Begeisterung für den "Volkskrieg" Thomas Mann nicht daran hinderte, die eigene drohende Einberufung zu hintertreiben oder auch dem jüngeren Ernst Bertram Ratschläge zu erteilen, wie man am besten "loskam", gehört zu den Fragwürdigkeiten dieser Jahre.

Wie lange konnte sich Thomas Mann in dieser Auto-Suggestion halten? Lothar Pikulik sieht schon "kurz danach", gleich nach "Gedanken im Kriege" die neue Phase "grüblerischer Selbstbefragung". "Gute Feldpost", noch 1914 in "Zeit-Echo. Ein Kriegstagebuch der Künstler" erschienen, läßt davon nichts erkennen. Den Einwürfen von außen, daß zwischen Gedanken im Kriege und Kämpfen im Krieg wohl doch fundamentale Unterschiede bestünden, wird beinahe im schlechten Landser-Stil entgegengehalten, was da an "guter Feldpost" tagtäglich in der Bogenhausener Villa einginge:

Kämpfer für Deutschland, Ulanen, freiwillige Schützen, die ich nicht kenne, adelige und gelehrte Jugend, die sich täglich riskiert - an einem Bauerntisch im Gebirgsquartier oder, die Flinte im Arm, den Rücken gegen den feuchten Abhang des Grabens gelehnt, schrieben sie, das Papier auf dem Knie, schrieben mit Bleistift, daß sie, "vor sich den Feind und den Sieg", manchmal von dem miteinander sprächen, was ich gemacht, [...].

Thomas Mann folgt hier einer verbreiteten, nicht zuletzt durch die offizielle Propaganda initiierten Romantisierung des Krieges, zu dem etwa auch all die "Faust" und "Zarathustra" im Tornister junger begeisterter Soldaten gehören sollten. Noch im Schluß des "Zauberbergs" ist davon etwas zu spüren - "Lindenbaum"-Verblendung. Dementsprechend auch Thomas Manns Lektüre-Empfehlungen für diese Zeit - "exemplarisch nationale Eigenschaften" sind gefragt: Kant und Nietzsche als Philosophen des "deutschen Militarismus", Bismarcks "Gedanken und Erinnerungen", Goethes Romane (ohne nähere Begründung), von C. F. Meyer natürlich "Jürg Jenatsch", Fontanes "Poggenpuhls", weil man dort dankbar "in die Lebensstimmung des altpreußischen Offiziers sich vertiefen" könne! Kleist, der bis dato nie besonders exponiert genannt wurde, habe neben vielem Besonderem auch "die gute Losung: ,In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!' zu bieten. "Moralische Kriegsführung" nennt man so etwas wohl, und in diesem Stadium seiner Kriegsjournalistik bekennt sich Thomas Mann frank und frei dazu.

Eine Brücke zum umfangreichen historischen Essay über "Friedrich und die große Koalition" schlägt im gleichen Beitrag das Lob für Thomas Carlyles Biographie über Friedrich II. Man weiß, daß ein Roman über Friedrich zu den ältesten Projekten Thomas Manns gehört. Notizen, Exzerpte existierten, aber der Stoff wurde fallen gelassen und schließlich dem literarischen alter ego Gustav von Aschenbach überlassen. Die reizvolle und problematische Aufgabe für den Essay des Jahres 1915 war es nun, die frühere Motivation mit aktuellen Anknüpfungspunkten zu synthetisieren - und der Tatsache, daß dies weitgehend mißlang, ist es nicht zuletzt zu verdanken, daß danach Thomas Mann wieder differenzierter, vorsichtiger, vorbehaltvoller auf die neue Welt des Krieges und seiner Manifestationen reagierte. Das Problematische historischer Größe, der Widerspruch von Menschlichkeit und solcher Größe, das Bruder-Thema, auch Erotisches auf der einen Seite - und die Analogie 1756=1914, der Präventiv-Krieg als eine Art Notwehr bzw. Preußen gegen die scheinbare Übermacht des Kontinents auf der anderen liefern ein Bild des Königs, das dem Hurra-Borussismus des Jahres 1915 keinesfalls gefallen konnte. Thomas Manns konsequentes Festhalten gerade an dieser Studie hat zu ersten Rissen im Bündnis mit den Nationalkonservativen geführt, die sich 1922 nach "Von Deutscher Republik" schließlich zum Bruch erweiterten. Der "Friedrich"-Essay ist eine Art glücklicher Wende, der nicht nur die komplexen "Betrachtungen", sondern auch das Republik-Bekenntnis vorbereitet. Denn auch da wollte man sich mit einem Porträt nicht anfreunden: Novalis als Republikaner, wehrte sich gegen - allerdings problematische - Bemühungen, der neuen und noch schwach gegründeten Republik Sukkurs aus einem Bereich zu verschaffen, der als typisch deutsch verstanden wurde: der Romantik. Man wird dabei nicht übersehen, daß es Thomas Mann selbstverständlich auch darum ging, die neue politische Ordnung allmählich in sein geistiges Koordinatensystem zu integrieren.

Natürlich finden sich auch in "Friedrich und die große Koalition" Spuren, daß hier "für den Tag und die Stunde" geschrieben wird. Von der "Wiederholung oder Fortsetzung" Friderizianischer Kriege wird ja schon nach wenigen Zeilen geredet. Neben eher schwach intonierten Synchronisationsversuchen wie dem vom "Angriffsgeist" und dessen "Wille zum raschen und vifen Austrag", was auf den fatalen Schlieffen-Plan anspielen dürfte, gibt es deutlicher akzentuierte, beispielsweise die angebliche "heillose und hoffnungslose" Einkreisung Deutschlands durch seine Kontrahenten, der Konflikt mit einem unüberwindlich scheinenden "Monsterbündnis". Schließlich spricht für den Verfasser des Essays aus dem heuchlerischen Haß der damaligen Feinde Friedrichs die "Entente-Hetze", mit der das kriegführende Deutschland 1914 konfrontiert werde:

In Frankreich, einem Lande, mit dem er ja geistig sehr verbunden war, galt er einfach für einen Wilden, man nannte ihn dort nicht anders als "Barbar" und "Ungeheuer des Nordens". [...] Kein Ort in der Welt, wo er damals nicht ein Feind der Menschheit genannt worden wäre, ein reißendes Tier, das unschädlich zu machen eine Forderung der Moral und der öffentlichen Sicherheit sei. Er mußte zu Boden geschlagen und auf immer in Ohnmacht gehalten werden. [...] Ja, die Stunde war gekommen, wo die zivilisierten Staaten den preußischen Geist ausrotten mußten, damit der Planet von diesem Giftpilz gesunde.

Eine regelrechte Umkehr der Positionen aus dem August 1914 ist hier sicherlich nicht zu verzeichnen, die polemischen Analogien werden durchaus gesucht und gefunden. Dabei ist der historische Analogie-Schluß nicht nur für Thomas Mann ein approbiertes Instrument, sich die Krise und Ereignisse der Jahre 1914-1918 verständlich zu machen. Kein Zufall, daß Spenglers "Untergang des Abendlandes" in diesen Jahren geschrieben wurde. Thomas Manns erste Spengler-Begeisterung gleich nach dem Krieg hat auch hier ihre Wurzeln.

Trotzdem - der "Friedrich"-Versuch kennt auch die andere Seite, und aus verschiedenen Beobachtungen wird verständlich, warum sich die Verantwortlichen des Fischer-Verlags lange Zeit einer Veröffentlichung als inopportun widersetzten. Da ist zunächst einmal die Konstellation der Bündnisse. Österreich, dem sich Deutschland 1914 in einer theatralischen Geste der "Nibelungentreue" verpflichtet hatte und dessen Balkanpolitik ja den zündenden Funken geschaffen hatte, ist neben Frankreich der unehrliche Wühler und dauernde Intrigant auf der diplomatischen Bühne. Graf Kaunitz wird zum eigentlichen Gegenspieler des preußischen Königs, in Paris von Mätressen umgeben, "tröpfelte Kaunitz in jedes Ohr, das ein wenig stille hielt", man müsse den Emporkömmling auf seinen brandenburgischen Sandboden zurückwerfen. Maria Theresia ist für Thomas Mann eine brave Landes-Mutter, doch von Politik und Macht verstehe sie herzlich wenig. Schwer vorstellbar, daß so etwas den Verantwortlichen der Habsburger Monarchie Ende 1914 günstig in den Ohren klang.

So gut er es abzumildern, zu relativieren sucht, so muß Thomas Mann in seiner historischen Skizze noch außerdem zugeben, daß Friedrich ohne die Unterstützung Englands nicht hätte standhalten können. England, das man doch eigentlich als Volk der "Händler", des "cant" abgetan hatte, also beteiligt am Aufstieg Deutschlands? Auch das konnte national gesinnten Kreisen nicht gefallen, daran mochte allenfalls ein Lichnowsky erinnern.

Sieht man von solchen rein politischen Mißlichkeiten einmal ab, so ist das Charakterbild des "großen" Königs, das der Autor von "Königliche Hoheit" hier zeichnet, alles andere als pathetisch. Von der psychologischen "Gehässigkeit", von der er gelegentlich des Friedrich-Projektes viel früher schon gesprochen hatte, ist ausreichend viel geblieben. Das betrifft nicht nur die "Kronprinzenvergangenheit", sondern auch den amtierenden und kriegführenden König. Etwas "Wildes, Radikales, Bösartiges, Unbedingtes, Gefährliches" eignete ihm, vieles davon sei Ergebnis seines "verstockten und radikalen Willen zur Einsamkeit." Die Gesetze seiner Regierung, die man kaum ohne weiteres als "gut" bezeichnen könne, bestanden in "Eigensinn", "Mißtrauen", "Despotismus", "der unerhört und grenzenlos zu nennen war." Auch wenn Friedrich der neue Typus des aufgeklärten Despoten gewesen sein mochte, so war er seiner Umgebung, seinem Volk eine Last, einer, der weder auf Liebe noch auf Verständnis sann. Das Misogyne in seinem Charakter wird auch von Thomas Mann als extrem, eher schon irrational gezeichnet - "antifeminin in dem Grade, daß es die Weichheit vor Liebe und Ehe ausschloß." Es wäre eine unerlaubte Verzeichnung, wollte man daraus eine Art "homoerotischer" Solidarität herauslesen.

Thomas Mann scheut sich auch nicht - der Epiker triumphiert über den Kriegsschriftsteller -, den alten Friedrich zu zeigen, der auf "Menschliches, Allzumenschliches" zurückgeführt wird: "Die Zähne fielen ihm aus, sein Kopf ergraute auf einer Seite, sein Rücken krümmte sich, sein Körper ward gichtisch und schnurrte ein. Außerdem litt er an Diarrhöen." Der äußere Ruhm und der reale Mensch fallen für Thomas Mann weit auseinander. Vergleicht man dieses Bild, naturalistisch bis zur Rücksichtslosigkeit, mit den zahllosen Propaganda-Bildern, die von Friedrich während des Ersten Weltkrieges kursierten, so wird man nicht umhin können, hier von vielleicht gewollter, aber faktisch mißlungener Mythisierung zu sprechen. Die letzten Zeilen des Essays muten an, als ob sich hier einer, der sehr wohl erkennt, daß er etwas reichlich Zweifelhaftes "abliefert", zur pathetischen Ordnung ruft. Was mochte ein Wilhelm II empfinden, der als unmittelbarer Nachfolger des Hohenzollern-Königs den Krieg zu führen hatte, wenn als Ergebnis der friderizianischen u. a. festgehalten wurde: "Er hatte nichts Greifbares gewonnen, und seine Länder waren verheert, verwildert, verarmt, entvölkert"?

Der "Friedrich"-Essay ist ein komplex-kompliziertes Stück Literatur - letzteres vor allem mit mehr Dichtung als Wahrheit. Es ist keineswegs so, daß von Thomas Mann Opposition betrieben wird, auf sublime Art mit den Mitteln der Kunst. Aber hier schon erweist sich die Richtigkeit von Thomas Manns späterer These, daß man als Künstler, als Schriftsteller a priori im Sinne von "Kritik", Relativierung, Perspektivismus wirkt - wenn er es "Demokratie" und "Republik" nennt, vermengt er ohne Bedenken die beiden Bereiche Ästhetik und Politik. Der Künstler forderte in dem Moment sein Recht, wo nicht unmittelbar und vordergründig von den Dingen zu reden war. Daß Thomas Mann dieses Bedürfnis nach Polyperspektivismus auch anderswo noch praktizierte, zeigt eindrücklich seine Korrespondenz während der Kriegsjahre, besonders während der kritischen Phase der "Betrachtungen". Neben Witkop und besonders Ernst Bertram trat Paul Amann als Rolland-Verehrer und Kritiker der "Gedanken im Kriege". Auch hier fühlt man sich an das Phänomen erinnert, das Thomas Mann später in bezug auf seine "Zauberberg"-Antagonisten hervorhob: So lange, wie nur einer rede, habe der immer recht. Liest man verschiedene Briefe an Paul Amann, so fällt es schwer zu glauben, daß der Schreiber gleichzeitig an den Invektiven der "Betrachtungen" schrieb! Man dürfte sich eklatant irren, wollte man dies als Opportunismus, politische Naivität oder dergleichen markieren; ein bißchen mag von alldem auch dabei sein - aber es ist primär Thomas Manns künstlerische Grundlage einer "doppelten Optik", die sich hier essayistisch umsetzt.

Bevor die "Betrachtungen eines Unpolitischen" in die Untersuchung einbezogen werden, sei noch ganz knapp skizziert, was in Thomas Manns übrigen Schriften dieser Jahre in Hinsicht "Krieg" noch zu finden ist. Dabei ist festzuhalten, daß er sich nicht, wie viele andere Autoren der "ersten Stunde" aus der öffentlichen Diskussion zurückzog, sondern sich weiterhin zu Wort meldete. Gewiß erwecken manche seiner Äußerungen den Eindruck, er habe die militärische Lage nicht verstanden, rede von "Siegen", wo schon längst Stagnation oder Rückzug, verheerende Verluste an der Tagesordnung waren. Allein es ist darin viel vom Ideal jenes Pflichtgefühls, dem Thomas Mann mehrere literarische Denkmale gesetzt hatte. Dazu kommt, daß er mehr oder weniger auf die offiziellen Verlautbarungen und Darstellungen in der Presse zurückgriff, die natürlich nur ein geschöntes Bild der Lage boten. Man sollte nicht vergessen, daß dieser Krieg auch ein Propaganda-Krieg war, der mit geschickt eingesetzten neuen Mitteln arbeitete.

Im Januar 1915 wird in einem Brief an Frank Wedekind deutlich, daß Thomas Mann das Journalistische der letzten Monate gern wieder zurückdrängen würde - viel mehr als "allerlei politische und historische Allotria" sei es ihm kaum gewesen. Aber er hatte sich nun einmal stark exponiert, und so wollte man auch im neutralen Ausland wissen, wie Mann über den Ausgang des Krieges, die ungewisse Zukunft Europas, Deutschlands Rolle darin denke. Im März 1915 veranstaltete die schwedische Zeitung "Svenska Dagbladet" eine Umfrage unter europäischen Intellektuellen, u. a. Romain Rolland, wie sie sich zu dieser Frage stellten. Thomas Manns Antwort faßt noch einmal die bekannten Thesen zusammen: dekadente Vorkriegsordnung, Deutschlands Isolation und Ausgrenzung, das allgemeine Tugend-Geschrei der Gegner. Man durfte "draußen" jetzt Selbstzweifel, Zweifel überhaupt, nicht kundmachen, die Intensität des Protestes sollte wieder für den eigenen Glauben einstehen. Trotzdem gibt es eine neue, zukunftsgerichtete Idee in diesem Beitrag: die deutsche Trennung von Geist und Macht müsse nach dem Krieg überwunden werden zugunsten einer Synthese, die als "Drittes Reich" vage genug angekündigt wird. Gemeint ist von Thomas Mann ein Deutschland, das sich nicht länger dem reinen "Machtprinzip" unterwerfen müsse - nach außen und innen, daß es sich am Ende des Krieges "das Glück [...] des liberalen Geistes" gestatten könne, wenn neben äußerer Bedrohung auch noch die "innere Verdüsterung" fallen könne - die ohne Frage in Deutschland auch geherrscht habe. Richtet man sein Augenmerk hier weniger auf die belastete Formel vom "Dritten Reich", sondern auf die Überlegungen zum Verhältnis von Geist und Macht in Deutschland, ist man versucht zu sagen, hier stand Thomas Mann dem Bruder näher in diesem Krieg als jemals. Darauf hätte Heinrich den "Versuch einer Antwort" wagen sollen - allein er schrieb seinen "Zola", und damit gewann der Krieg für Thomas Mann eine neue, über die politisch-militärische Situation weit hinausgehende Dimension, wurde buchstäblich Bürger-, Bruder-Krieg.

Doch abseits dieses haßvollen Zwistes, der nun so vieles grundierte, verläuft weiterhin die andere Linie: Brechungen, Korrekturen der frühen Totale. Ob in der "Demokratisierung" des deutschen Bildungsromans zum Gesellschaftsroman oder in der Feststellung, daß die europäischen Essayisten Schopenhauer und Nietzsche unweigerlich zur "Literarisierung Deutschlands" beigetragen hätten; in der Diagnose, daß es leider "die Entwicklung des deutschen Bürgers zum imperialistischen Bourgeois" im Wilhelminischen Reich zu beobachten gab und daß auch er von einem "Weltfrieden" träume, in dem "die Völker hinter gefriedeten Grenzen in Würden und Ehren beieinander wohnen und ihre feinsten Güter tauschen: der schöne Engländer, der polierte Franzose, der menschliche Russe und der wissende Deutsche"... all dies sind Zeichen dafür, daß hier einer auf dem Rückzug war, und das zumindest nicht allein um der Macht der Fakten willen, sondern auch aus Einsicht, Erkenntnis. Sie war noch längst nicht stabil, verwickelte sich in Widersprüche, orientierte sich an Äußerlichkeiten - aber die Entwicklung hin zu einer Abkehr von bloßen Velleitäten ist angelegt.

Ein konkretes Beispiel dafür, daß Thomas Mann diesen Krieg nahezu ausschließlich als geistesgeschichtliches Thema verstand, ist seine Haltung gegenüber der teilweise hysterischen "Kriegsziel"-Debatte in Deutschland. Im bereits erwähnten offenen Brief an "Svenska Dagbladet" wird die Synthese aus Geist und Macht als Ziel definiert - "und nicht Calais oder [...] der Kongo." 1917, abermals in einem offenen Brief - diesmal an die "Frankfurter Zeitung" - wendet er sich an kritische Leser ("Vernunfterwägungen"), "deren Gedankengang nicht geradezu in Richtung auf Erzbecken und Handelsherrschaft sich zu bewegen gewöhnt ist." Wenn man, wie etwa Joachim Fest unter anderem immer wieder kritisch festhält, Thomas Manns Haltung in Fragen der Politik als eine Art freischwebende Geistreichelei bezeichnet, übersieht man immerhin leicht den Aspekt, daß er sich dadurch zumindest aus dem unseligen Weltaufteilungs- und Hegemonie-Phantasma nicht weniger "realistischer" Politiker und Industrieller heraushielt.

Die "Betrachtungen eines Unpolitischen", im Herbst 1915 begonnen und nahezu zeitgleich mit dem deutschen Zusammenbruch 1918 abgeschlossen, sind zwar das umfangreichste und langwierigste publizistische Werk, das Thomas Mann in den Kriegsjahren hervorbrachte - aber zum Krieg selbst sagen diese "fast privat gehaltenen Aufzeichnungen" wenig bis nichts. Was partiell schon die anderen Kriegs-Arbeiten charakterisierte, nämlich Kunst-Politik zu sein, das zeigt sich in den "Betrachtungen" beinahe ausschließlich. Schon Thomas Manns zwar wechselnde und doch immer wieder fixierende Bezeichnung für das "Leidenswerk", an dem er arbeite, machen dies nur zu deutlich. Im November 1915 spricht er in einem Brief an Oscar A. H. Schmitz von einer "Art Aufsatz, der aktuelle Dinge mit einer Revision und Verteidigung meiner persönlichsten Grundlagen auf wunderliche und gewagte Weise vereinigt"; dem befreundeten Freiburger Germanisten Philipp Witkop gegenüber benennt er sein Unternehmen als "großes geistiges Reinemachen". Immer wieder - bis in die späten Jahre hinein - erinnert Thomas Mann dreierlei: das Unbehagen, das bis zum Unwillen an der Arbeit gehen konnte; daß das Persönliche das Politisch-Zeitkritische klar dominierte; und daß im Prozeß der Arbeit immer deutlicher wurde, daß ein notwendiges Rückzugsgefecht geführt werde. Dabei bedeutet "Rückzug" keineswegs Auflösung oder "Übergabe", um im Jargon der damaligen Jahre zu bleiben: weshalb Thomas Manns vielen als schamhafte Haarspalterei unterstellte Unterscheidung von "Sinn" und "Gedanken" gar nicht so sinnlos ist. Auch die in der Forschung diskutierte Frage der "Wandlung" zum Demokraten und Republikaner ist nicht einfach mit "ja" oder "nein" zu beantworten: Grundüberzeugungen Thomas Manns blieben unangetastet, mit der Möglichkeit, im politisch-gesellschaftlichen "Überbau" durchaus Veränderungen zuzulassen: Innenwelt und Außenwelt, um mit dem Begriffspaar Hans Mayers zu arbeiten. Die Außenwelt konzedierte, ja vertrat politische Korrekturen, die Innenwelt hielt an konservativ-unpolitischen Konzepten fest. Die "Betrachtungen" sind zu drei Vierteln die Aufzeichnung und Öffentlich-Machung dieser Art innerer "Verfassung", die bis dahin so zusammenfassend nie kodifiziert wurde. Alles andere, die Aufregung über den "Zivilisationsliteraten", die Frage nach Demokratie oder Obrigkeitsstaat, Frankreich, England - nicht viel mehr als Draperie. Dazu kommt Thomas Manns spätere Angabe, die "Betrachtungen" seien eine intellektuelle Entlastung des "Zauberbergs" gewesen, gewissermaßen der "Roman vor dem Roman", wie viel später "Die Entstehung des Doktor Faustus" der Roman nach dem Roman wurde. Die tastende und bilanzierende "Vorrede" verbirgt auch das nicht: "beinahe eine Dichtung" sei das Buch, "Künstlerwerk, Werk eines Künstlertums". Sogar von einem "Roman" ist expressis verbis die Rede. Hanno Helbling hat ganz recht, wenn er rät, man solle bei der Lektüre des Buches einmal darauf achten, was in ihm nicht steht: "Ein Bekenntnis zu Deutschland, und nicht, oder kaum, zur deutschen Politik". Krieg, Kriegsgeschehen, Analyse der Voraussetzungen im Konkreten - all das sucht man vergeblich auf beinahe 600 Druckseiten. Ernst Keller hat seiner Arbeit über den "Unpolitischen Deutschen" eine interessante Tabelle beigefügt: über die "Häufigkeit der in den ,Betrachtungen eines Unpolitischen' erwähnten Namen." Ganz oben Nietzsche, dann Goethe, Schopenhauer, Wagner, Dostojewski - und als erster "Politiker": Bismarck, noch viel später Friedrich der Große. Lediglich fünf mal, und damit unter den Verantwortlichen und Aktivisten des Krieges, wird Tirpitz genannt, vier mal Bethmann-Hollweg, Edward Grey, Raimond Poincaré. Das ist keine Zahlenspielerei, sondern äußerliche Bestätigung einer kritischen Lektüre: der Krieg ist hier von Thomas Mann in bestimmtem Sinne als Mittel zum Zweck genommen.

Deshalb werden sich die folgenden Ausführungen fast ausschließlich auf die "Vorrede" beschränken, die in einer Art Wagnerschem Vorspiel alle Motive und Themen der "Betrachtungen" vorwegnimmt - wobei dieses "Vorweg nehmen" hier ambivalent zu verstehen ist. Thomas Mann schrieb diese Seiten zuletzt, als Deutschlands Niederlage auch trotzigstem Zweckoptimismus nicht länger zu verhehlen war. Dennoch ist die "Vorrede" nicht als opportunistische Kehrtwendung mißzuverstehen - dies belegt die vollständige Lektüre des Buches, wo die Spuren der Einleitung überall zu entdecken sind.

Die schwersten Jahre seines Lebens habe er hinter sich, der Krieg bedeutete ihm ein "in seinen Grundfesten erschüttertes, in seiner Lebenswürde gefährdetes und in Frage gestelltes Künstlertum" - die Therapie konnte nur sein, Reflexion und Sicherung: "Selbsterforschung und Selbstbehauptung." Der Erste Weltkrieg und die Rolle, in die er sich versetzte und versetzt fand, waren in der Tat für Thomas Mann eine Fortsetzung der Lebenskrise des Jahres 1913, und daß er sie nun ins Zeitgeschichtlich-Politische erweiterte, verschaffte nur kurzfristige und täuschende Gefühle der Erleichterung. Thomas Mann, der seit dem Erfolg der "Buddenbrooks" an seine repräsentative Rolle - wenn auch in spielerisch-ästhetischer Freizügigkeit - glaubte, mußte erfahren, daß der Krieg ihn je länger desto mehr zum anachronistischen Außenseiter zu machen drohte. Bedrohlich im Persönlichen wurde außerdem die Lage durch Heinrichs "Kriegs-Erklärung" im "Zola", denn Thomas Mann hatte bei aller Rivalität mit dem Bruder glaubhaft jenes Gefühl "von der Notwendigkeit, daß wir zusammenhalten." Auch wenn der Konflikt zur symbolischen Würde erhoben wird, er bedeutete die Steigerung jenes Leidens am Leben, das sich in den späteren Jahren des Krieges privat immer wieder regt. Das Bild vom "Kriegs-Vater", das die Kinder gezeichnet haben, gibt einen impressiven Eindruck davon. Was konnte, was wollte dem noch entgegen gehalten werden? Die Familie, der Münchner Freundeskreis - doch das genügte einem "Anlehnungsbedürftigen", auf geistigen Sukkurs Angewiesenen, wie er es seit seinen ersten Arbeiten war, doch nicht. Die recherche du temps perdu führten ihn ins neunzehnte Jahrhundert, als dessen Abkömmling er sich bis zuletzt fühlen sollte: "Romantik, Nationalismus, Bürgerlichkeit, Musik, Pessimismus, Humor" - nimmt man den "Nationalismus" heraus, der nur tragikomisch festgehalten wird, so spannt sich hier die geistige Welt Thomas Manns aus. Daß er dann zum Eigenen das angeblich ganz Andere sucht, hat etwas mit zeitlich bedingtem Abgrenzungsbedürfnis zu tun, auch mit der habituellen Lust an antinomischen Paaren - allein er weiß doch vom Gegenteiligen herzlich wenig: "Politik", "Zivilisation", "Gesellschaft", "Stimm recht", "Literatur" - damit glaubt er demokratische und republikanische Verfassungen hinlänglich eindeutig und abschreckend charakterisiert zu haben. Kaum verwunderlich, daß sich der "Betrachter" gelegentlich selbst in seinem Begriffs-Wald verläuft und plötzlich "Geist" auf der einen, dann wieder auf der anderen Seite polemisch einsetzt: eine "große Konfusion". Aber man sollte sich vielleicht doch angewöhnen, zumindest eine Stärke des Buches zu sehen: Thomas Manns Bekenntnis, daß er als politisierender Hamlet dastünde. "Wozu, woher überhaupt Schriftstellertum, wenn es nicht geistig-sittliche Bemühung ist um ein problematisches Ich?" Das forcierte "Ja" oder "Nein" ist ihm unkünstlerisch, und wenn die Politik es erfordert, so gibt man dem zu gewissen Zeiten an der Oberfläche nach, mehr aber auch nicht. Die rhetorischen Fragen, die sich Thomas Mann schließlich am Ende der "Vorrede" stellt, drücken diese wesentliche Ungebundenheit aus - von Fontane als "unsicherem Kantonisten" in politicis sprach er 1910 mit deutlicher Übereinstimmung und Zustimmung.

"Wäre es so", fragt Thomas Mann sich und seine Leser 1918, "daß mein Sein und [...] auch mein Wirken durchaus nicht genau meinem Denken und Meinen entspricht, und daß ich selbst mit einem Teil meines Wesens den Fortschritt Deutschlands zu dem, was in diesen Blättern mit einem recht uneigentlichen Namen »Demokratie« genannt wird [...] zu fördern bestimmt war und bin?"

"So ist es", möchte man an dieser Stelle mit Sesemi Weichbrodt sagen, Thomas Manns Selbstverständnis als Schriftsteller erlaubte die Eindeutigkeit, den Mono-Perspektivismus der frühen Kriegs-Äußerungen nicht länger.

Im Tagebuch Ende 1918/Anfang 1919, durch glücklichen Zufall erhalten, läßt sich als eine Art "Epilog" zusammenstellen, wie Thomas Mann das Ende des Krieges erfährt und erste Schritte in die neue Republik unternimmt. Der kritische Blick auf das Untergehende ist wach - und darf sich in den nun wirklich privaten Aufzeichnungen deutlich kundgeben. Einer Rede des Kaisers vor Krupp-Arbeitern im September 1918 attestiert er: "Dramatische Neigung mit Pastoren-Reminiszenzen vermischt [...] Schiller-Pathetik." Neben Einsichten, etwa über die "unerläßliche zukünftige innere Arbeit, Deutschland zu modernisieren, zu demokratisieren, mit dem alten, dem romantischen, dem kaiserlichen Deutschland aufzuräumen", so schwer es auch fallen möge - stehen Rückfälle in alte Haßtiraden, besonders im Zusammenhang mit Wilsons Friedens-Note und den Kapitulations-Bedingungen der Alliierten. Dies führt sogar zu grotesken Überlegungen, den Bolschewismus als Bündnispartner, gegen die "Entente-Demokratie", zu Hilfe zu rufen. Es sind ähnlich abstruse Ideen, wie sie in München von anderen Schriftstellern in diesen Wochen und Monaten vertreten wurden, z. T. mit fatalen Auswirkungen. Mit den politischen Realitäten des Systemwechsels hatte all dies wenig noch zu tun. Deshalb ist es interessanter, im Tagebuch das heranzuziehen, was über den erregten "Tag und die Stunde" hinausgreift. So z. B. die "Zweifel" am 29.9.1918, ob man Friedrichs Situation von Kunersdorf auf die Gegenwart übertragen könne, "ob man das eine auf das andre anwenden dürfe", und am 16. Oktober deutlicher: "Der Krieg ist heut etwas anderes." Sogar zu ganz anderen Visionen ist Thomas Mann inzwischen in der Lage - am 10. November 1918 schreibt er ins Tagebuch:

In dem Augenblick ferner, wo drüben die Rhetor-Bourgeois-Machthaber fallen, vor allem Clemenceau; wo die Völker sich verbrüdern, wo die Hetze gegen Deutschland sich legt, die empörende Selbstgerechtigkeit der Feinde von den geistig Anständigen niedergeschlagen wird, - in diesem Augenblick regt sich mein kosmopolitisches Wohlwollen, und ich heiße die "neue Welt" willkommen. Sie wird mir nicht feindlich sein und ich nicht ihr.

Die neue deutsche "soziale Republik" solle nun schon gleich die alten Demokratien überholen, und so könne Deutschland aus der Niederlage doch einen Sieg erringen. Logischen Zusammenhang und politischen Sinn für das Mögliche wird man in diesen "operationes spiritualis" kaum finden. Der Krieg als grundstürzendes Ereignis fand auch für Thomas Mann sein Ende - spätestens als er am 9. April 1919 das Manuskript des "Zauberbergs" wiederaufnahm.

Thomas Manns Verhältnis zum Ersten Weltkrieg ist schwierig zu werten, viel leichter schon zu skizzieren. Auf der einen Ebene agiert und schreibt er im Gestus des Militärischen, von der Zeit "Eingezogenen", literarischer "Zeitdienst mit der Waffe" will geleistet werden. Je länger der Krieg andauerte, desto mehr geriet diese Haltung zum für Thomas Mann typischen Zug des "Durchhaltens". Erkauft war eine solche Position durch ein immer stärkeres Absehen von der konkreten Kriegslage, ob nun in strategisch-operativer Hinsicht oder in menschlicher: Tod, Verstümmelung, Wahnsinn. Ob es sich um Verdrängung handelt oder um Ignoranz, ist schwer zu sagen, jedenfalls schloß sich der Künstler nahezu hermetisch davon ab. Ein Besuch im besetzten Brüssel, wo eine Aufführung seiner "Fiorenza"-Szenen angesetzt war, kann kaum als echte Konfrontation mit der Kriegs-Realität bezeichnet werden. Deshalb ist das teilweise unglaubliche Verhalten gegenüber 1918 meuternden Soldaten, Streiks usw. psychologisch verständlich: die ausgesperrte Realität dieses Krieges, seiner Leiden, kehrte in die mühsam erzwungene Idylle des Müchner Klausners ein. Erst nach und nach sieht Thomas Mann ein, daß der "Gott der Schlachten", wie er ihn sich wirklichkeitsrein erträumt hatte, nicht mehr ist. Dennoch blieb der Krieg für ihn etwas, was mehr ein großes Plan-Spiel zu sein schien denn konkretes Leiden. Noch im Zweiten Weltkrieg läßt sich diese Haltung wiederfinden. Doch ist es um der Gerechtigkeit willen geboten zu sehen, daß Thomas Mann in den Jahren der Weimarer Republik erleben konnte, wie vor allem junge Schriftsteller dem Krieg eine sinnstiftende Funktion zuerkannten, ihn feierten. Diesen Apologeten fühlte er sich so wenig zugehörig wie den radikalen Pazifisten um Ossietzky, Tucholsky, Remarque. Auch hier fand er mit dem Bruder wieder zusammen: in der Vorstellung des gerechten, erforderlichen Krieges.

Die andere Ebene, auf der man Thomas Manns Erlebnis der Jahre 1914-1918 zu betrachten hat, ist die der "Konfessionen", nach innen und außen. Der Prozeß der Selbstvergewisserung half ihm, wenn auch unter krisenhaften Zuspitzungen, die lähmenden Zweifel der Jahre seit 1910 zu überwinden. Er schuf sich seine ganz persönliche "Zwei-Reiche"-Lehre, die es ihm im folgenden erlaubte, Politik und Geschichte so zu erleben, daß das Werk dadurch nicht mehr bis in den Grund erschüttert wurde. Es ist richtig, daß die ersten Monate des "Außenbleibens" 1933 bis zur psychischen Krisis führten - allein die Irrfahrt hat immer einen Fluchtpunkt: den "Joseph". Beinahe symptomatisch dafür der kurzzeitig erwogene Plan, 1934 wieder etwas in der Art der "Betrachtungen" zu schreiben, natürlich unter veränderten Vorzeichen. Thomas Mann verzichtete - er hielt die Fortsetzung des "Joseph" für seine Antwort auf die Zeit. Im Exil wurde er zum großen Gegenspieler Hitlers, zum politischen Repräsentanten erneut; er entzog sich der "Forderung des Tages" nicht, sprach oft und klar. Freilich blieb er sich bewußt, daß nur sein Werk es war, das all dies tragen konnte. Nimmt man die Reflexe auf den Krieg 1914-1918 unter diesem Aspekt, als wichtige Markierung einer inneren Biographie Thomas Manns - dann kann man diese Jahre kaum hoch genug veranschlagen, versteht man sein lebenslanges Festhalten an den "Betrachtungen". Alles andere jedoch, das konkret Zeitgebundene, war dürftig, pauschal, insgesamt unbrauchbar. Zum Bild, zum Verständnis des Ersten Weltkrieges haben die hunderte von Seiten, die Thomas Mann während jener Jahre schrieb, wenig bis nichts beigetragen - das muß so hart gesagt werden. Dafür liefert der "Zauberberg" ein Panorama des Vorkriegs-Europa, das auch für den Historiker des Krieges von Interesse bleiben dürfte. Golo Mann, der von seinem Vater in Sachen Politik als "unwissendem Magier" gesprochen hat, wies auf eine interessante Analogie hin: Schiller hätte nicht in seiner umfangreichen "Geschichte des Dreißigjährigen Krieges" das Wesen dieser Zeit erfaßt, sondern im "Wallenstein".

Der Aufsatz erschien zuerst in dem Buch: "Krieg der Geister". Erster Weltkrieg und literarische Moderne. Hg. von Uwe Schneider und Andreas Schumann. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000. S. 171-187. Wir danken Jürgen Eder für die Publikationsgenehmigung. Eine vollständige Fassung des Beitrages mit Zitatbelegen und Fußnoten ist Online-Abonnenten von literaturkritik.de als pdf-Datei hier zugänglich.