Artisten-Philologie
Neuere Publikationen verorten Hugo von Hofmannsthal zwischen Dichtung und Wissenschaft
Von Axel Schmitt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDort, wo Stefan George antik sein wollte und das Altertum als pathetischen Imperativ auffasste, gingen bei Hugo von Hofmannsthal Antike und Moderne ungezwungen ineinander über. 1908 hatte Hofmannsthal Griechenland kennen gelernt. In seiner Reiseprosa ("Augenblicke in Griechenland" [1908-1914], "Griechenland" [1922], "Sizilien und wir" [1925]) hat er sich einerseits bewusst in die Tradition von Winckelmann und Goethe gestellt, sich aber andererseits auch von ihnen distanziert, da sie "das Schöne zu nahe an ein [...] entnervtes Anmutiges" gerückt hätten, und die Erkenntnis geäußert, "wie eng die Schönheit mit der Kraft verschwistert ist und die Kraft mit allem Furchtbaren und Drohenden des Lebens". Über das bis dahin kanonisierte klassische Griechenlandbild ging Hofmannsthal insofern hinaus, als er Erfahrungen nicht nur der archaischen Kunst, sondern auch des Orients reflektierte: "Die Kultur, die uns trägt, [...] ist in den Grundfesten der Antike verankert. Aber auch diese Grundfesten selber sind kein Starres und kein Totes, sondern ein Lebendes. Wir werden nur bestehen, sofern wir uns eine neue Antike schaffen: und eine neue Antike ersteht uns, indem wir die griechische Antike, auf der unser geistiges Dasein ruht, vom großen Orient aus neu anblicken."
Damit positioniert sich Hofmannsthal im Kontext einer Entwicklung, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzt und innerhalb derer das in Deutschland von Winckelmann und Goethe kanonisierte Bild der klassischen Antike seine autoritative Geltung einbüßt. Die Entdeckung der sagenumwobenen Stätten Mykenes und Trojas durch die Ausgrabungen des Hobbyarchäologen Heinrich Schliemann erregte Ende des 19. Jahrhunderts die geistige Öffentlichkeit Europas, bewies sie doch die bis dahin von der Fachwissenschaft nur legendär gedeutete Annahme einer griechischen Vorzeit als historische Tatsache. Die Bestätigung der Existenz des kleinasiatischen Troja verhalf den seit Beginn des 19. Jahrhunderts rege geführten Debatten um eine frühgriechische Epoche vor aller schriftlichen und künstlerischern Überlieferung zu einer neuen Aktualität.
Die Beiträge eines von Achim Aurnhammer und Thomas Pittrof herausgegebenen Sammelbandes zur "antiklassizistischen Antike-Rezeption um 1900" unterstreichen jedoch, dass das um 1900 ansichtig werdende neue Antikebild keineswegs einheitlich ist. Vor allem jener Hofmannsthals Bild der griechischen Antike nahe stehende "archaische Antiklassizismus" evoziert, wie die beiden Herausgeber unterstreichen, eine "Antike von erregender Fremdheit und zugleich der modernen Seele verwandt, beherrscht von barbarischen, vitalistisch-grausamen, rauschhaft-dionysischen, aber auch chthonischen und kultisch-paganen Elementen." Initialtexte dieser Sicht der 'archaischen' Antike sind neben Nietzsches "Über die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik" (1872) Stefan Georges Gedichtzyklus "Alagabal" (1892), Hofmannsthals Dramen "Elektra" (1904) und "Ödipus und die Sphinx" (1906) sowie Gerhart Hauptmanns Reistetagebuch "Griechischer Frühling" (1908) und die Essays des jungen Gottfried Benn aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Der im Titel des Sammelbandes angedeutete kulturelle Paradigmenwechsel "Mehr Dionysos als Apoll" wird von den Beiträgern unter drei Aspekten aufgeschlüsselt. Im Mittelpunkt stehen erstens Strategien, Verbreitung und Verlaufsmuster dieses Paradigmenwechsels; zweitens der Beitrag der verschiedenen Gattungen zu ihm und drittens die intellektuellen-, geistes- und mentalitätsgeschichtliche Repräsentanz dieser Vorgänge. Deutlich wird, dass der Wandel des Antikebildes um 1900 einen Vorgang darstellt, der die Grenzen der nationalen Literaturen und Kulturen überschreitet. Antiklassizismus wird dabei expressis verbis zum Ausweis literarischer Modernität, wobei sich drei Gestaltungsmuster erkennen lassen: das der parodistischen Entwertung, der satirischen Brechung und der Travestie einer zur leeren Konvention gewordenen Antike, denen die einzelnen Beiträge nachgehen.
Gleichzeitig vollzieht sich der Wandel des Antikebildes auch im Austausch zwischen literarischen Kulturen und Wissenschaftskulturen. Dementsprechend zählt Hofmannsthal unter die "großen Intellektuellen des letzten Jahrhunderts, die uns eine dunklere und wildere Antike enthüllt haben", "unvergleichliche Interpreten des dunklen Untergrundes der griechischen Seele, starke Fackeln, die eine Gräberwelt aufleuchten ließen": Johann Jakob Bachofen, Nietzsche, Erwin Rohde, Jacob Burckhardt und Fustel de Coulanges. Damit bezeugt Hofmannsthal gleichzeitig aber auch die Bedeutung der großen, wirkungsmächtigen Außenseiter für das neue Bild der Antike. Zu diesen umwälzenden Veränderungen des Antikebildes tritt der Einfluss der neuen Wissenschaften vom Menschen, der Psychoanalyse, Ethnologie und Religionswissenschaft. Schon Rohde vergleicht die orgiastischen Erscheinungen des antiken Dionysos-Kults mit den Ergebnissen der zeitgenössischen Völkerkunde. Scheinbar zeitlose und erregend-bestürzende Gegenwärtigkeit verleiht dem antiken Mythos jedoch erst die Psychoanalyse Freuds und dessen Neuinterpretation des Ödipus-Mythos. Neben Nietzsches Entdeckung der dionysischen Alterität der Antike ist diese Dramatisierung moderner Triebschicksale durch den Antikekenner und -sammler Freud die folgenreichste aller antiklassizistischen Wendungen, indem sie jene Konjunktion von (re-)mythisierter Antike und moderner Seele begründet, die Hermann Bahr anlässlich der "Elektra" Hofmannsthals auf die Formel von der "Hysterie der Griechen" bringt und von der Hofmannsthal selbst berichtet, er habe während seiner Arbeit am Drama "in zwei ganz verschiedenartigen Werken geblättert [...]: das eine die Psyche von Rohde, das andere das merkwürdige Buch über Hysterie von den Doktoren Breuer und Freud."
In einer neueren Studie zu "Hofmannsthals Anverwandlung antiker Stoffe" hat Kristin Uhlig akribisch nachgezeichnet, dass die Auseinandersetzung mit dem antiken Mythos das gesamte literarische Werk des österreichischen Dichters durchzieht. Hofmannsthal steht dabei im Schnittpunkt verschiedener Mythendiskurse, die im Mythos "nicht länger nur eine überlebte Denkform in Opposition zum Logos" erblicken, sondern "angesichts der fortschreitenden Verabsolutierung wissenschaftlich-rationaler Weltdeutungsmuster mythische Denkstrukturen im Sinne einer ganzheitlichen Weltanschauung wiederzubeleben" suchen. Angestrebt wird eine Vermittlung zwischen der allgegenwärtigen kulturellen Tradition der Antike mit den Anforderungen der Gegenwart. Wie Uhlig unterstreicht, bestimmt einfühlendes Heranholen mehr denn historisierende Betrachtung Hofmannsthals Verhältnis zur Antike: "Wir sind von vielfältiger Vergangenheit nicht loszudenken. Aber freilich ebenso wenig in eine bestimmte Vergangenheit hineinzudenken", schreibt Hofmannsthal 1896 in einem Essay über die Gedichte Stefan Georges. Deutlich wird an diesen Worten, dass Hofmannsthals Zugang zum antiken Mythos sich als ebenso wenig statisch wie sein Lebens- und Weltbezug erweist. Den zeitgenössisch hochbrisanten Fragen nach Mitte und Grenze des Ich ist er nicht zuletzt angesichts fundamentaler gesellschaftlicher Umwälzungen immer von neuem reflexiv begegnet. Auf je unterschiedliche Weise begegnen Hofmannsthals Texte (vor allem seine Dramen und Libretti) dem (re-)mythologisierten Hintergrund und dem ausgeprägten Krisengefühl der Jahrhundertwende. Der Rückgriff auf antike Stoffe erweist sich als Versuch, den eigenen Standort im Spannungsfeld von Tradition und Moderne immer wieder neu zu finden. In exemplarischen Einzelanalysen legt Kristin Uhlig die wesentlichen Stationen dieses Prozesses offen und untersucht die divergierenden Funktionszuweisungen an den antiken Mythos in einem ersten Schritt anhand des lyrischen Dramas "Idylle" (1893), das als Zeugnis eines an Nietzsche geschulten Lebensbegriffes gedeutet wird, sowie anhand der ein Jahr später entstandenen freien Übertragung der Euripideischen "Alkestis", an dem sich - ähnlich wie in dem zwischen 1888 und 1895 wiederholt aufgegriffenen "Alexander"-Fragment - der Zusammenhang zwischen der Wahl antiker Stoffe und der Annäherung an das Theater zuungunsten lyrischer Dramatik manifestieren lässt. Die Texte der zweiten Abteilung gewähren einen "Blick auf die Urgründe menschlicher Existenz, die in zunehmendem Maße bedrohliche Züge annehmen". Die in diesem Zusammenhang untersuchten Dramen "Elektra" und "Ödipus und die Sphinx" aus den Jahren 1903 und 1905 geben "einer tiefen Verunsicherung und grundsätzlicher Orientierungslosigkeit des modernen Individuums Ausdruck". Der dritte und letzte Teil der Arbeit widmet sich Hofmannsthals Hinwendung zur Musik, die als Konsequenz seines Zweifels an der Begriffssprache überhaupt verstanden wird und die von den zunehmend auf Synthese gerichteten Tendenzen des Spätwerks zeugt. Rudolf Kassner hat in seiner Schrift "Das physiognomische Weltbild" (1930) daher treffend "Hofmannsthals Streben nach Musik als ein mit seinem Verlangen nach Mitte, nach Mythos, nach einem Allgemeinen und Bindenden Zusammenhängendes" beschrieben. Am Beispiel der Operndichtungen zu mythologischen Stoffen, der beiden aus den Jahren 1912 und 1916 stammenden Fassungen der "Ariadne auf Naxos" und der 1928 uraufgeführten "Ägyptischen Helena", gelingt es Kristin Uhlig zu zeigen, "welche neue Rolle dem antiken Mythos im Zuge der angestrebten Restituierung gültiger Bindungen und Wertmaßstäbe zugewiesen wird".
Fred Lönker hingegen sieht in seinem Beitrag für den von Werner Frick herausgegebenen Sammelband "Die Tragödie. Eine Leitgattung der europäischen Literatur" in Hofmannsthal einen Initialpunkt für den "Verfall des Tragischen", der spätestens um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert mit Nietzsches "Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik" begonnen habe. Diese Wirkungsmächtigkeit Nietzsches zeigt sich Lönker zufolge bei Hofmannsthal nicht nur dort, wo er sie - etwa im "Brief des Lord Chandos" - als Existenzkrise einer literarischen Figur formuliert, sondern auch dort, wo er sich mit der Tragödie als derjenigen Gattung beschäftigt, zu deren konstitutiven Merkmalen die Vorstellung einer Ordnung ebenso gehört wie die Vorstellung eines handelnden Subjekts, das sich qua (tragischer) Tat in irgendeiner Weise gegenüber dieser Ordnung positionieren muss und damit scheitert. Lönker erinnert zu Recht daran, dass sich der kaum achtzehnjährige Hofmannsthal 1892 mit den "Bakchen" des Euripides zu beschäftigen beginnt, eine Arbeit, die er - mit zum Teil erheblichen Unterbrechungen - bis 1918 fortführt, ohne sie jemals zum Abschluss zu bringen. Wie bedeutsam die Euripides-Lektüre über den Umweg Nietzsche für Hofmannsthal war, belegen vor allem seine Skizzen zur Figur des Königs Pentheus, der bei Euripides von den Bakchen, den dionysisch berauschten Frauen, an ihrer Spitze seine Mutter Agaue, zerrissen wird.
Obwohl das "Pentheus"-Projekt nicht über wenige Fragmente hinauskommt, arbeitet Hofmannsthal weiter an einer Neufassung der antiken Tragödie, eine Arbeit, die ihn schließlich zu seiner "Elektra" führt. Eine Notiz aus dem Jahre 1904 belegt anschaulich, worum es ihm dabei ging: "Meine 3 antiken Stücke [gemeint sind neben der 'Elektra' wohl 'Alkestis' und 'Pentheus'] haben es alle 3 mit der Auflösung des Individualbegriffes zu thun. In der 'Elektra' wird das Individuum in der empirischen Weise aufgelöst indem eben der Inhalt seines Lebens es von innen her zersprengt wie das sich zu Eis umbildende Wasser im irdenen Krug". Diese von Hofmannsthal projektierte Auflösung eines Individuums, das durch den "Inhalt seines Lebens [...] von innen her zersprengt wird", sieht Lönker am Schluss der Tragödie exemplarisch vorgeführt. Elektra, unfähig zur tragischen Handlung, verstrickt sich in den Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt und versinkt in einen rauschhaft-dionysischen Zustand. Gegen Ende des Dramas heißt es: "Elektra hat sich erhoben. Sie schreitet von der Schwelle herunter. Sie hat den Kopf zurückgeworfen wie eine Mänade [...] es ist ein namenloser Tanz, in welchem sie nach vorwärts schreitet. [...] Sie tut noch einige Schritte des angespannten Triumphes und stürzt zusammen". Für Lönker hat dies "mit der griechischen Tragödie [...] nur noch wenig zu tun. Was wir vor uns haben, ist vielmehr eine Bearbeitung des Sophokleischen Stücks, in der die deutlich an Nietzsches Konzept des Dionysischen angelehnte Figur Elektras mit all ihrer seelischen Zerrissenheit im Zentrum steht". Bezug nehmend auf eine Notiz Hofmannsthals, derzufolge "tragische Figuren wie Taucher" sind, "die wir in die Abgründe des Lebens hinablassen - magische Figuren sind sie wie der Schlüssel Salomonis, die uns die Kreise der Hölle aufschließen", erscheint der Bereich des Dionysischen als der des rational noch nicht gebändigten Lebens. Exakt hier zeigt sich nun nach Lönker die Wirkung Nietzsches, der sich "die Zerstörung der abendländischen Metaphysik zum Programm gemacht hat. Deren Deutungs- und Sinnstiftungs-Vorräte sind verbraucht; was dem abendländischen Menschen bisher als oberster Wert seines In-der-Welt-Seins galt, das hat sich im buchstäblichen Sinne als wertlos erwiesen [...]. Dieser Verlust aller Metaphysik zieht aber notwendig den Verfall des Tragischen nach sich. Die Figur Elektra spiegelt diesen Verfall wieder: ihre Geschichte wird zur Geschichte einer bloßen Obsession". Dem entsprechend gehe es in Hofmannsthals "Elektra" nicht nur um den Untergang der Tochter des Agamemnon, sondern auch um den des Tragischen.
Ähnlich deutet Hans-Jürgen Schings in seinem Beitrag zu dem von Olaf Hildebrand und Thomas Pittrof anlässlich des 65. Geburtstags von Jochen Schmidt herausgegebenen Sammelbandes "Auf klassischem Boden begeistert. Antike-Rezeptionen in der deutschen Literatur" Hofmannsthals Schrift "Augenblicke in Griechenland" (1908-1914/17), die den literarischen Ertrag von Hofmannsthals Griechenland-Reise liefert. Hofmannsthal unternahm diese Reise, deren einzige Stationen Athen (1.-5. Mai), Delphi (7./8. Mai) und das Kloster Hosios Loukas (9./10. Mai) waren, gemeinsam mit Harry Graf Kessler und anderen im Mai 1908. Schon der Ankömmling in Athen zeigt sich eigentümlich missgestimmt. Goethe, so räsoniert Hofmannsthal zum Befremden seiner Reisegefährten, wäre bei seiner Ankunft "wahrscheinlich [...] niedergefallen und hätte den Boden geküsst oder etwas Ähnliches". Er hingegen könne nichts dergleichen empfinden, da ihm "der Glaube ans Griechentum verloren gegangen" sei, er, trotz der "Elektra" und des "Oedipus", keine "deutliche Vision" habe und das für "ein grosses Unglück" halte. Eine letzte Formel der Vergeblichkeit stellt sich ein, wenn er räsoniert: "Unmögliche Antike, sagte ich mir, unmögliches Beginnen, vergebliches Suchen. [...] Nichts ist von all diesem vorhanden. Hier, wo ich es mit Händen zu greifen dachte, hier ist es dahin, hier erst recht".
Schings interpretiert Hofmannsthals "Augenblicke" als den literarischen "Versuch, den Befund 'unmöglicher Antike' doch noch zu widerlegen und der kurzen Reise von 1908 eine poetische Erlebnisform abzugewinnen, die erstmals der Brief des Lord Chandos erprobt hatte, die Form des 'erhöhten Augenblicks'". Hofmannsthals Text stehe darüber hinaus in direkter Konkurrenz zu Gerhart Hauptmanns "Griechischer Frühling" (1908). "Bietet Hauptmann ein breites mythologiegesättigtes Panorama, so konzentriert Hofmannsthal alle Kräfte auf drei ausgezeichnete Augenblicke. Mit virtuoser Erzählkunst bringen sie die Vivifizierung der Antike in ihrer subjektiven Genese vor Augen, unter den problematischen Bedingungen der Moderne, die für Hauptmann keine Rolle spielen". Die Vivifizierung der Antike ist immer auch eine Vivifizierung des Fremden, des Unerreichlichen, vielleicht sogar - wie Hofmannsthal bemerkt - ein "höchster Moment der Menschheit", mindestens aber eine Erkennung des tiefsten Selbst. Solche Konjunktionen von Mythos und Seele durchziehen den Text und transgredieren den griechischen Mythos in Richtung moderner Mystik. Anlässlich der Buchausgabe der "Augenblicke" (1917) schreibt Hofmannsthal an Paul Zifferer folgerichtig, er habe "in den drei griechischen Aufsätzen etwas absolut Neues gegeben. Indem diese, scheinbar Berichte, tatsächlich sein Innerstes geben, vom starren Außen bis ins glühende Innerste führen". Das macht, wie Schings unterstreicht, die griechischen zu durch und durch modernen, subjektiven Augenblicken. Erkennbar wird die zeitgenössische "Konjunktion" von Antike und moderner Seele, von Mythos und Psyche, die Schings an der intertextuellen Verwobenheit von Hofmannsthals "Augenblicken" mit Erwin Rohdes "Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen" (1890-94) und Martin Bubers "Ekstatischen Konfessionen" (1909) plausibel erörtert.
Die um 1900 evidenten Transgressionen zwischen Wissenschaften und Literatur eröffnen ein weites Feld imaginativer Entgrenzungen und projektiver Besetzungen, die ebenfalls auf das Bild der Antike zurückwirken und sie zum Projektionsraum von Opfer- und Gewaltphantasien erweitern, in denen Gewalt sakralisiert und ästhetisiert wird, so dass sich neben die in den Geschichtswissenschaften, der Philologie und der Archäologie historisch rekonstruierte Antike die 'imaginäre Antike' einer gewaltbereiten, enthemmten Moderne schiebt. Dieter Martin unterstreicht in seinem Beitrag über Hofmannsthals Ödipus-Re-Lektüre, dass diese ein Ineinander von Lebensfeier und Todeswelt inszeniere, das den Kult des Lebens und der Tat an den Figuren des nicht gelebten Lebens breche und damit den Vitalismus der Jahrhundertwende aus der Décadencemotivik des Fin de siècle hervorgehen lasse. Aus dieser kritischen Verschränkung resultiere bei Hofmannsthal die Spannung zwischen der vitalistisch-expressiven Gestaltung seiner Figurenreden und jener Strategie der Rückdatierung der Antike in eine "düstere prägriechische" und ins Orientalische verschobene Welt.
Auch Christoph Königs groß(artig)e Arbeit über Hofmannsthal sieht in dem Dichter der Repräsentanten einer neuen Kultur, die er gegen die bestehenden, eklektisch zerfallenden Werte und Traditionen des Historismus konstruiert. Die Einheit dieser Kultur, die ihre Referenz in den Texten und im Vorbild Goethes hat, lässt sich für Hofmannsthal in seinen eigenen Arbeiten nicht mehr artistisch schaffen. Dabei greift Hofmannsthal wie kaum ein zweiter auf das expandierende Wissen und die Begriffe der Gelehrten seiner Zeit zurück, indem er Dichtung und Wissenschaft ingeniös miteinander verknüpft und für seine Moderne aktualisiert. Diesen fruchtbaren Moment, in dem Hofmannsthal sowohl als Dichter als auch als Philologe agiert, als Medium zwischen seiner Kunst und der für seine poetischen Texten aktivierten Wissenschaft, sucht König in Hofmannsthals Texten auf und interpretiert zum ersten Mal dessen Konzept einer "Autophilologie" sowie ihre Rolle im ästhetisch-kulturellen System seiner (dramatischen) Werke. In akribischen Einzelinterpretationen macht König die vielfältigen literatur- und wissenschaftsgeschichtlichen Bedingungen sichtbar, denen sich Hofmannsthal aussetzt und die er zu dem "System 'Hofmannsthal'" formiert hat. Hofmannsthals Dramen, vor allem die in einem separaten Kapitel interpretierten "Elektra", "Ödipus und die Sphinx", die Dramenfragmente zwischen 1914 und 1927, das Trauerspiel "Der Turm" (in beiden Fassungen) und das Opernlibretto "Die Ägyptische Helena", leiden, wie König unterstreicht, "am Konflikt von Selbstreflexion und tatsächlichen Schaffensproblemen, und manche zerbrechen daran auch, doch das Theater hat Hofmannsthal gerettet". Besonderen Raum nimmt die aus Hofmannsthal romanistischer Habilitationsschrift über den französischen Romancier Victor Hugo (Wien 1901) extrahierte Poetologie des Dichter-Gelehrten ein. Mit diesem Schritt mischte sich Hofmannsthal direkt ins Gebiet der Philologie ein, was eine Bauchlandung nach sich zog, konnte doch kaum jemand das in der jugendlich-genialen Prosa Hofmannsthals begegnende Generationsgefühl der Wiener Jahrhundertwende zwischen Neurasthenie und Kaffeehaus in dem zur Beurteilung anstehenden wissenschaftlichen Rahmen angemessen würdigen. So verwundert es kaum, dass Hofmannsthal an dem "philologischen Zeug" nach eigenem Bekunden "schwung- und freudlos" arbeitete. Nach Rückzug des Habilitationsgesuchs bemerkt der Dichter, er könne "unmöglich" länger eine "innere Doppel-Existenz führen". Ihm sind unterdessen im dionysisch anmutenden Schaffensrausch des vom gelehrten Pflichtprogramm befreiten Sommers einige Dramen-Entwürfe und Gedichte gelungen, die ihn hoffen lassen, auch ohne das Korsett "amtlich-zentralistischer" Formen sein weiteres Aus-, Ein- und Fortkommen zu finden.
Christoph König gelingt es zu verdeutlichen, dass sich in der Person Hofmannsthals die Entwicklung der sich im Umbruch befindlichen philologischen Disziplinen mit der Krise des Dichters kreuzen, der den zur Last gewordenen Ruhm des frühvollendeten Genies ablegen musste, aber seine kreative Unbefangenheit nicht einbüßen wollte. Geradezu genial ist der Ansatz Königs, die Zäsuren, Brüche und Transformationen des wissenschaftlichen Diskurses nicht aus der Binnenperspektive der einzelnen Fächer darzustellen, sondern anhand der schriftstellerischen Entwicklung des poeta doctus Hugo von Hofmannsthal: "Als 'Kulturdichter' glaubt Hofmannsthal, die im Historismus eklektisch zerfallenden Traditionen integrieren und damit die Grundlagen der eigenen Aporie erneuern zu können. Diese Traditionen aktualisiert er für eine Moderne, zu deren Charakteristika es gehört, auf das Publikum wirken zu müssen". Systematisch setzt König die künstlerische Entwicklung Hofmannsthals ins Verhältnis zur Krise der Kultur, die mit dem Ende des Ersten Weltkriegs manifest wurde. Interessanterweise zeigt sich, dass die seit dem Habilitationsversuch spannungsvolle Beziehung des Dichters zum akademischen Diskurs erst am Anfang stand. Obwohl Hofmannsthal der zergliedernden Gelehrsamkeit entsagte, holte ihn das Reflexionsdilemma auf ästhetischem Terrain wieder ein, hatte er sich und seine Texte doch einigermaßen geschickt durch das Gewebe der Stilrichtungen und Traditionslinien um 1900 zu manövrieren. Mindestens ebenso merkwürdig ist der in der bisherigen Forschung nahezu unberücksichtigte Umstand, dass Hofmannsthal nach dem Verzicht auf akademische Meriten einen hochkarätigen Kreis von Intellektuellen und Fachgelehrten um sich bildete, zu dem Rudolf Borchardt, Konrad Burdach, Walther Brecht und Josef Nadler ebenso gehörten, wie Walter Benjamin und Carl Jacob Burckhardt. Damit nahm Hofmannsthal jedoch nicht nur Einfluss auf die ästhetische Erneuerung der Philologie, sondern mehr noch auf deren künftiges Hofmannsthal-Bild. Das große Verdienst der neue Maßstäbe setzenden Untersuchung Christoph Königs liegt daher in der ingeniösen Dekonstruktion des in der bisherigen Hofmannsthal-Forschung kanonisierten Bildes von einem Dichter, der nur empfängt, aber nicht arbeitet. König bietet hingegen einen Hugo von Hofmannsthal an der Schnittstelle zwischen Gelehrsamkeit und Enthusiasmus.
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