Der Tribut der Emanzipation

Ina Boesch beschreibt das Gegenleben der Schweizer Sozialistin Margarethe Hardegger

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich glaube, Liebe kann nicht unfrei sein", bekannte sie in einem der nicht eben wenigen Gerichtsverfahren, die gegen sie oder ihre anarchistischen Freunde angestrengt wurden, nachdem ihr der Staatsanwalt vorgehalten hatte, auf einer Veranstaltung die freie Liebe propagiert zu haben. Die linke Presse berichtete über den lebhaften Applaus, mit dem das Publikum für die Antwort der Zeugin dankte. In den Prozessen, in denen die Schweizer Sozialistin Margarethe Hardegger selbst auf der Anklagebank saß, wurde ihr unter anderem "Beihilfe zur Abtreibung" vorgeworfen. Tatsächlich hatte sie mittellosen Frauen zu Abtreibungen verholfen, ohne allerdings - wie ihr der Staatsanwalt vorhielt - dafür horrende Summen verlangt zu haben. Vielmehr steckte sie mittellosen Frauen, welche die in Rechnung stehende Summe für die Abtreibung nicht aufbringen konnten, etwas zu. Ihre Hilfsbereitschaft büßte Hardegger mit einer Gefängnisstrafe. Ein andermal wurde sie verurteilt, weil sie - wie ihre Biographin Ina Boesch schreibt - zu ihren Freunden hielt. Nun war es selbstverständlich auch in der Schweiz des beginnenden Jahrhunderts nicht strafbar zu den Freunden zu halten. Verurteilt wurde sie - wie Boesch des Näheren ausführt -, weil sie einem ihrer anarchistischen Freunde ein falsches Alibi gegeben haben sollte. Ob dem tatsächlich so war, scheint allerdings nicht ganz sicher zu sein.

Boesch, deren sich gelegentlich bis hin zur kaum gezügelten Bewunderung gesteigerte Sympathie für die engagierte Sozialistin und soweit als möglich emanzipiert lebende Frau einem auf jeder Seite entgegentritt, richtet ihr Augenmerk nicht nur auf die Lebensgeschichte der 1882 geborenen Bernerin, sondern auch auf die Organisationen, denen sie tätig verbunden war. Hierzu beschreitet sie den für eine Biographie originellen Weg, ihr Buch in zwei Teile zu gliedern, deren reichbebildeter erster Hardeggers Lebensgeschichte chronologisch nachzeichnet, wobei fast der Eindruck entsteht, als habe Boesch die Biographie entlang der zahlreichen Photographien von Freunden, Verwandten und Bekannten sowie der Wirkungsstätten Margarethe Hardeggers geschrieben. Der zweite, weitaus umfangreichere Teil stellt in alphabetisch angeordneten Artikeln Hardeggers "Aktionsfelder" nach Art eines Lexikons vor, d. h. insbesondere die Organisationen, denen sie angehörte und in denen sie wirkte. Biographische Notizen der Menschen, die in Hardeggers Leben eine Rolle spielten, beschließen den Band.

Anfang 1905 trat Hardegger ihr erstes politisches Amt an. Als erste Frau wurde sie eine der drei SekretärInnen des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes. Da war sie gerade mal 23 Jahre alt, Mutter zweier Kinder und nicht sehr glücklich verheiratet. Schon nach wenigen Wochen hielt die als eloquent geltende junge Frau ihre ersten öffentlichen Reden. Am 16. Januar sprach die "gewiefte Rednerin", von der Boesch allerdings zu berichten weiß, dass man "vom Inhalt ihrer Reden häufig enttäuscht" gewesen sei, über "Das allgemeine Glück" und am 23. Januar über "Die Ehe". Von nun an kämpfte sie in Wort und Schrift für die "umfassende Emanzipation", zog gegen den Alkoholkonsum ins Feld, setzte sich für Geburtenreglung mittels "allgemeine[r] Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln" und für das "Frauenstimmrecht" ein, das sie und ihre MitstreiterInnen allerdings zeit ihres Lebens nicht durchzusetzen vermochten. Wie man weiß, sollte es noch bis in die 70er Jahre hinein dauern, bis den Schweizerinnen das aktive und passive Wahlrecht zugestanden wurde. Ein besonderes Anliegen war der verheirateten und später geschiedenen Frau die "Besserstellung lediger Mütter", für die sie Ende der zwanziger Jahre ein Entbindungsheim gründete, das gemäß ihrem Ideal der "befreite[n] Mutterschaft im Sozialismus" arbeitete.

Sehr viel früher schon, nämlich 1908 hatten ihre Gewerkschaftskollegen an ihren "freigeistigen Ideen" Anstoß genommen. Es war dies für Hardegger ein politisch und privat bedeutsames Jahr: Nachdem sie ihre Stelle als Gewerkschaftssekretärin als verloren ansehen musste, legte sie sich keinerlei Zwang mehr an und sprach auf Anarchistenkongressen und Versammlungen des Intentionalen Arbeitervereins über freie Liebe. Bald wurde ihre Entlassung vollzogen. Die freie Liebe propagierte auch ihr Mann August Fraas. Und er vollzog sie - allerdings hinter dem Rücken seiner Gattin. Seit einiger Zeit lebte er von ihr getrennt in Dresden. Von dem Treubruch erfuhr sie, als sie ihn überraschend besuchte und er sie seiner Geliebten als seine Schwester vorstellte. Doch statt sich von ihm zu trennen versucht Hardegger vergeblich ihn zurückzugewinnen. 1911 reichte er die Scheidung ein. Während des Prozesses um Alimentezahlungen führte sein Anwalt gegen sie ins Feld, dass sie sich für die "Verselbständigung der Frau" einsetze und ihr "jede Abhängigkeit vom Mann verhasst" sei.

1909 zog es die Bernerin nach München zur Schwabinger Bohéme. Zwar war sie zu dieser Zeit noch verheiratet, doch ging sie hier - wie auch später andernorts - zahlreiche Liebschaften ein, so etwa mit den Anarchisten Gustav Landauer, der, für einen Anarchisten ungewöhnlich genug, die Ehe heiligte - dies aber wiederum nur in der Theorie, und mit Erich Mühsam, der allerdings durchaus nicht, wie von Boesch behauptet, "keine Frau entwischen" ließ. Im Gegensatz zu seinem Freund Landauer vertrat er zwar die freie Liebe in der Theorie, zeigte sich gemessen an den Gepflogenheiten der Bohéme jedoch eher konservativ, wenn es darum ging, sie zu praktizieren. So unterhielt er etwa zu der von den Kosmikern als "Hetäre und Mutter" verehrten und für ihre zahllosen Liebschaften bekannte Franziska zu Reventlow eine langjährige Freundschaft, doch nie eine Liebesbeziehung.

Hardegger propagierte die freie Liebe Boesch zufolge allerdings nicht um sie zu genießen, "sondern aus politischer Überzeugung und aus Einsicht in soziale und psychologische Mechanismen". Nun muss das einander nicht unbedingt ausschließen, jedenfalls aber lebte Hardegger von 1915 mit Hans Brunner in sogenannter wilder Ehe zusammen, bevor sie ihn 1950 doch noch heiratete.

1915, in diese Zeit fiel auch ihr erster Versuch, gemäß Landauers Überzeugung zu leben, die in Boesch Formulierung besagt, "dass der Sozialismus jederzeit und in jeder Gesellschaft möglich ist und lediglich wagemutige Pioniere den ersten Schritt zur Gründung von 'sozialistischen Gehöften und sozialistischen Dörfern' tun müssen". Mit Gleichgesinnten gründete Hardegger im Berner Pflugweg eine Kommune "mit gemeinsamer Kasse". Neben Küche, Toilette und Wohnräumen barg das Haus einen "Leseclub", in dem gemeinsam gelesen und diskutiert wurde. Hardegger selbst war eine passionierte, aber keine systematische Leserin, sondern las alles, was ihr "in die Quere" kam.

Obwohl das Kommune-Experiment bald scheiterte, gab Hardegger nicht auf und starte zwei weitere Versuche, deren letzterer immerhin von 1919 bis 1924 bestand hatte. Die neunköpfige Gruppe lebte bei "armer" aber wiederum gemeinsamer Kasse in einem Tessiner Haus und produzierte ihren Lebensbedarf so weit als möglich selbst.

Nach 1933 unternahm Hardegger, die im Tessin das Schicksal der von den Nationalsozialisten verfolgten Flüchtlinge "hautnah" erlebte, alles, um die Gefahr des drohenden Krieg abzuwenden. Hierüber weiß Boesch allerdings nicht sehr viel zu berichten. Stattdessen richtet sie ihr Augenmerk nach der Ermordung Erich Mühsams zu Beginn der Nationalsozialistischen Terrorherrschaft auf das "Schicksal alter Freunde" Hardeggers, insbesondere auf den Leidensweg von Mühsams Frau Zensl, die sich mit dem Versprechen in die Sowjetunion locken ließ, dort eine Broschüre über ihren Mann veröffentlichen zu können. Aus den drei Monaten, die sie zu bleiben beabsichtigte, wurden zwei Jahrzehnte, die sie zu einem nicht geringen Teil in Stalins Kerker verbringen musste.

Im hohen Alter, so schreibt Boesch, habe Hardegger, die stets das "Männern vorbehaltenes Terrain" für sich beansprucht, ihren Mann gestanden und ihre Position behauptet hatte, "weder als Frau noch als Mann" gewirkt. Ihr "Werdegang" habe sich ihrem Körper "eingeprägt". Ihr Haar habe sich "gelichtet", ihre Züge "verhärmt[en]" und "lange wallende Kleider" verdeckten "den geschlechtslosen Körper". Bei Boesch liest sich das so, als sei dies der Tribut, den die engagierte Sozialistin für ihr emanzipiertes Leben zu zahlen hatte.

1958 erlitt Hardegger einen ersten Schlaganfall. Nach dem zweiten im Februar 1963 war sie halbseitig gelähmt. Dennoch reiste die Pazifistin wenige Wochen später nach Nyon, um an einem Ostermarsch teilzunehmen. Im September des gleichen Jahres starb sie.

Titelbild

Ina Boesch: Gegenleben. Die Sozialistin Margarethe Hardegger und ihre politischen Bühnen.
Chronos Verlag, Zürich 2003.
436 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-10: 303400639X

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