Die Sehnsucht, sein Leben zu ordnen

Feridun Zaimoglus polyphone Liebesgeschichten-Komposition "Zwölf Gramm Glück"

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Maßvoll bestimmt Feridun Zaimoglu das Glücksgewicht seiner zwölf neuen Erzählungen: je ein Gramm, das scheint nicht viel zu sein. Doch ein Gramm Blattgold kann eine Skulptur vergolden, ein Gramm Plutonium ungezählte Menschen vergiften, ein Gramm Glück den schönsten Lebensmoment bedeuten.

Mit "Zwölf Gramm Glück" präsentiert Zaimoglu eine vielstimmige, keineswegs aber willkürliche Sammlung von - fasst man den Begriff nur weit genug - Liebesgeschichten. "Diesseits" überschreibt er die erste Hälfte mit sieben Geschichten, die in Deutschland, "Jenseits" die fünf der zweiten Hälfte, die in einem islamisch geprägten Land spielen, das offenbar, wird es auch nie beim Namen genannt, die Türkei ist. Die Aufteilung erinnert an eine Besprechung, die Zaimoglu vor zwei Jahren einer Audio-CD mit Koran-Versen widmete: "Das rhythmisch belegte Offenbarungskonvolut weist sich als Regelwerk aus, mittels dessen der Moslem sein Leben ordnen könne. Ein Diesseits und ein Jenseits werden zwar trennscharf geschieden, eine zölibatäre Weltentrückung jedoch gilt als Gott ungefällig."

In der Geschichte "Gottes-Krieger" wird ein abtrünniges Sektenmitglied von seiner zölibatären Lebensweise durch seine sinnliche Zimmerwirtin geheilt. Die erwähnte Sehnsucht nach Regeln und Ordnung erfüllt viele Figuren des Bandes. "Trennscharf geschieden" wirken die Sphären "Diesseits" und "Jenseits" in "Zwölf Gramm Glück" auf den ersten Blick genau wie Paradies und Welt im Koran: hier die Moderne, komplizierte Liebe, undurchsichtige Erwerbsverhältnisse, da das Archaische, streng geregelte Beziehungen, Religion und Rituale.

Naturgemäß wirken die Geschichten im "Jenseits" abenteuerlicher, die Atmosphäre mit höherer Spannung geladen, die Verhaltensweisen geheimnisvoller. Es beunruhigt das Fremde von Sitten, Redenormen, ungeschriebenen Gesetzen und es fasziniert. Gleichwohl gibt es beabsichtigte Rückkoppelungseffekt, die Zaimoglu durch zahlreiche Verbindungen zwischen den beiden Teilen verstärkt. Am wichtigsten sind die vielen Wanderer zwischen den Welten. Dazu gibt es Motive wie ein Bild von Hokusai oder Sonnenrad-Sushi mit halbierten Riesengarnelen, die hüben und drüben vorkommen. Das Grundthema der Glückssuche, der oft verzweifelten Sehnsucht nach Sinn, nach Halt, nach Tradition, nach Liebe, nach einer Ordnung oder ihrer Wiederherstellung bestimmt hier wie dort die Figuren: "Er hatte einen kleinen Schwanz, sagt sie, und hat kleine Mädchen geschändet. Ich erfuhr es erst nach der Heirat. Ich beriet mich mit den Bauern, und wir entschieden, den Perversen auf den spitzen Pfahl zu setzen. So lösen wir hier unsere Probleme. Die Unreinen und Verrohten treiben wir aus der Deckung, darauf kannst du dich verlassen. Der Altvaterglaube ist auf dem Lande zählebig, und für einen Augenblick sehne ich mich danach, im wahren Volk unterzutauchen, die einfachen Handgriffe des Lebens zu heiligen. Die Gottesfurcht hat die Bauern veredelt, und doch sind sie wunderbarerweise ungeschliffen geblieben."

Eine Rückkehr zu so einfachen Regeln, ins Ursprüngliche ist aber unmöglich, weil sich die Welten so sehr vermischt haben, dass in türkischen Slums Kinder wie Banker sprechen und in Deutschland Blutrache erwogen wird.

Die Ich-Erzähler der zwölf Geschichten sind in Deutschland beheimatet oder haben lang im Westen gelebt, ihre Herkunft aber liegt im Südosten. Sie sind eher arm, viele existieren am Rand oder außerhalb der Gesellschaft. Schriftsteller sind darunter, einfache Beamte, Kleinhändler, "Mietrüden", die oft durch überraschend kleinbürgerliche, ja spießige Züge charakterisiert sind.

Auch wenn man einige Milieus, manche Figur und Sprachbesonderheiten aus früheren Büchern Zaimoglus kennt, ist hier doch nichts zur Masche geworden. Man hat vielmehr den Eindruck, die kompositorische und sprachliche Kunst des Autors sei hier auf neuer Höhe angelangt.

Alle Geschichten, ob sie im deutschen "Diesseits" oder im fremden "Jenseits" angesiedelt sind, verbinden Zaimoglus Dramaturgie, Stil und Gestus aufs engste. Man könnte von seiner Erfindung der einschmeichelnden Überwältigungsästhetik sprechen, weil die bei ihm häufigen extremen Härten - egal ob in Sprache oder im Geschehen - nie kraftmeierisch eingesetzt werden, sondern als gut vorbereitete Effekte. Man muss den Autor nur einmal lesen gehört haben, um zu wissen, wie viel ihm daran liegt, dass Inhalte schockierender Art nicht herausfallen aus der Komposition und dem Sprachklang mit seinen vielen Assonanzen, Alliterationen und sogar Reimen.

Eine große Freiheit, das auszuwählen, was seiner Kunst zukommt und es miteinander zu verschmelzen, das ist es vielleicht, was Zaimoglus Schreiben am meisten charakterisiert. Da gibt es - oft religiöse - Archaismen, Neologismen, (Pseudo-)Slang, Floskeln, Bildungsgut, Pathos, Zitate. Virtuos mischt Zaimoglu in der Geschichte "Gottes-Krieger" Ernst und Schwulst mit Komik und religiösem Eifer in den apokalyptischen Predigt-Passagen eines Sektenführer, der schon mal die Devise "Menschenbomben gegen Sexbomben" prägt.

Zaimoglus Sprache kennzeichnet ein unwiderstehlicher Drive. Ihr Fluss stürzt mal lakonisch über Kurzsatz-Kaskaden, fließt dann in ruhigem Strom religiöser Preis-Prosa dahin, um plötzlich in rätselhaft vielgestaltigen Dialog-Wasserkünsten zu münden. Zahlreiche Redensarten, Sprichwörter und Vergleiche - oszillierend zwischen Anschaulichkeit und Ironie - schmücken, allerlei Binnenerzählungen vertiefen die Texte. Sex und Gewalt, Mystik und Ritual durchziehen sie.

Diese Rituale zu verstehen, ihnen gemäß zu handeln, bemühen sich Figuren immer wieder, weil sie bemerken, wie sie von ihrer Umwelt - diesseits wie jenseits - auf eine Probe gestellt werden. Doch sie wissen nur zum kleinen Teil, was gilt, scheitern mal und bestehen mal. "Sie spüren es, wenn du nur zum Schein mitmachst, wenn du von Ritualen schwätzt, wo doch all diese kleinen Morde gar nichts bedeuten, sie sind Mistzeug, und die Menschen sind Mistzeug."

Trotz solch häufiger Misanthropie und trotz einer fast durchgehend spürbaren Bedrohung gibt es in den Erzählungen Zaimoglus auch das ganz andere.

Männer und Frauen versuchen in "Zwölf Gramm Glück" immer noch, das alte Spiel zu spielen. So unklar sind aber die Regeln geworden, dass es zuweilen in einen komplizierten Schlagabtausch ausartet, bei dem sich nicht selten die Liebenden in den Aporien des Geschlechterkampfes verlieren. Simples Glück ist unter diesen Bedingungen schwer zu erreichen. Momente davon aber sind möglich. Diese Passagen von Schönheit und Zärtlichkeit, von Hingabe, Vertrauen und Glück wirken als Glanzlichter in dunkler Umgebung um so heller. Zuletzt ist Zaimoglu eben doch, wie eine seiner Figuren von sich selbst sagt, ein Romantiker - in der ästhetischen und ein wenig wohl auch in der alltagssprachlichen Bedeutung des Wortes.

Titelbild

Feridun Zaimoglu: Zwölf Gramm Glück.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004.
235 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 346203362X

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