Modernität als Pose

Zum 100. Geburtstag des polnischen Klassikers Witold Gombrowicz

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist oft darüber gestritten worden, ob man Hofmannsthals Formel vom Dichten als "Harmonisieren der Welt" auch auf die Literatur der Moderne anwenden könne. Denn die Moderne habe der Harmonie den Abschied gegeben, die Bedingungen für Wahrheit verschoben.

Tatsächlich haben die Modernen die vielstimmigsten Klagen über die verlorene Ganzheit, die Unerreichbarkeit jeglichen Ideals und die Ohnmächtigkeit des Einzelnen erhoben. Der polnische Schriftsteller Witold Gombrowicz (1904-1969) orientierte sich an Dante Alighieri, als er 1938 in die göttliche Traumwelt der Kindheit hinabstieg: "Auf der Hälfte meines Lebensweges fand ich mich inmitten eines finsteren Waldes. Und dieser Wald war - was noch schlimmer ist - grün."

Das Grüne, als Metapher für Unreife, verwies auf die eigenwillige Philosophie seines Romans "Ferdydurke" (1938). In "Ferdydurke" behauptete Gombrowicz, unser Lebenselement sei die ewige Unreife. Vergeblich sei jeder Versuch, den Rotzbengel in sich loszuwerden. Niemand sei selbständig. Jeder Mensch sei abhängig von seinem Abbild in der Seele des anderen Menschen. Jeder bekomme einen Sinn von anderen, gebe sich selbst auch einen Sinn, und aus dem Zusammenstoß dieser Interpretationen entstehe erst ein dritter Sinn, der ihn bezeichne. Und jeder schöpferische Mensch, der Romanautor etwa, werde durch seine eigenen Werke mitgestaltet:

"Das, was du geschrieben hast, diktiert dir den weiteren Sinn."

Der 30-jährige Schriftsteller Jozio, Held von "Ferdydurke" und Verfasser eines "Tagebuches aus der Zeit des Reifens", muss das am eigenen Leibe erfahren. Jozio wird von seiner Umgebung nur noch durch die Brille seines Buches gesehen, wird nicht mehr für voll genommen und als unreifes Kind betrachtet, als Karikatur seiner selbst. Eines Morgens, zwischen Schlaf und Erwachen, hat er einen grotesken Traum. Er wird von Schulinspektor Pimko besucht, der die ganze Welt verkindlichen möchte und der zu verkleinern versteht. Aus Jozio wird Jozilein, aus seiner Hand ein Händchen, aus dem Popo ein Popöchen. Er wird von Pimko entführt und zu Direktor Federfuchs gebracht, der eine Schule für verkleinerte Erwachsene leitet. Fast unmöglich ist es, den Fängen dieser Popopädagogen zu entkommen. Jozio befindet sich "gewissermaßen mitten im Zentrum eines unermüdlich verkleinernden und disqualifizierenden Traumes."

In Federfuchs' Schule für verkleinerte Erwachsene gibt es einige köstliche Szenen die an Spoerls Feuerzangenbowle erinnern. Da treten zwei Schüler, der eine Idealist, der andere Realist, beim Grimassenschneiden gegeneinander an. Die Gegner stellen sich auf, und abwechselnd muss jeder eine Serie von Grimassen schneiden. Der Realist muss auf jede konstruktive und schöne Miene des Idealisten mit einer destruktiven und hässlichen Gegenmiene antworten. "Die Mienen, so persönlich, eigen und frei, so verletzend und zermalmend wie möglich werden ohne Dämpfer schonungslos eingesetzt" bis der Sieger feststeht.

Später wird Jozio bei der betont modernen Familie Jungmann untergebracht. Er gerät völlig in den Bann der zwiefachen Jugend Fräulein Sutkas, ihrer Reife und Souveränität. Er kann sich erst befreien, als er die Modernität der Jungmanns auf die Probe stellt. Jozio schlägt die Modernität mit ihren eigenen Mitteln, er treibt den Teufel mit Beelzebub aus: ohne Wissen Sutkas arrangiert er für sie ein Rendezvous mit zwei Liebhabern. In einer tollen Walpurgisnacht-Szene erweist sich die Modernität als Pose - hier erstarrt jede noch so coole Maske. Und Jozio hat fast seine verlorene 30-jährigkeit wiedergewonnen. Doch ein Abenteuer muss er zuvor noch bestehen.

Nicht selten liefert der moderne Roman seine eigene Theorie gleich mit. "Ferdydurke" liegt eine kuriose Atomistik zugrunde, eine Konzeption aus Teilen und Teilchen, die ein Ganzes ergeben sollen. Gombrowicz' Poetik wird in einem eigenen Kapitel ("Vorwort zu Philidor mit Kind durchsetzt") entwickelt. Um die Obdachlosigkeit des modernen Schriftstellers zu versinnbildlichen, muß die Romanstruktur immer wieder durch Zwischenkapitel, durch ulkige, sarkastische, auf den ersten Blick völlig selbständige Novellen, aufgebrochen werden. Am Ende ist Gombrowicz eine sehr positive und heitere Darstellung des Menschen auf dem Prokrustesbett gelungen.

Der Hanser Verlag hat sich viel Mühe mit diesem Autor gemacht, der dieser Tage hundert Jahre alt geworden wäre und noch immer zu entdecken ist. Im Anhang stehen einige wichtige Texte und Ergänzungen zur Wirkungsgeschichte des Romans, unter anderem eine Besprechung des polnischen Schriftstellers und Grafikers Bruno Schulz, ein Musterbeispiel der Literaturkritik.

Titelbild

Witold Gombrowicz: Ferdydurke. Roman. Nachwort von Rolf Fieguth.
Übersetzt aus dem Polnischen von Walter Tiel.
Carl Hanser Verlag, München 1983.
384 Seiten, 23,50 EUR.
ISBN-10: 3446139877

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