Fußballgeschichte(n)

Peter Kasza reportiert Umstände und Folgen des "Wunders von Bern"

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das "Wunder von Bern" jährte sich in diesem Jahr zum 50. Male. Wie üblich in solchen Fällen wurde der Anlass in allen Medien ausgiebig gewürdigt. Mit der Folge, dass die Fußballsensation von 1954 leidlich ausgereizt ist. Wiederholungen stellen sich ein. Die wird man auch in Peter Kaszas Buch wiederfinden, und so taucht beim Lesen zuweilen das Gefühl auf, alles Erzählte von irgendwoher bereits zu kennen, und in der Tat sind es nicht nur die bekannten Legenden und Episoden, es ist auch die bewährte Art Häppchengeschichtserzählung, wie sie in Guido Knopps ZDF-Fernsehschule zur Perfektion getrieben wurde. Alles wird angesprochen, nichts vertieft, und immer hilft der Zeitzeuge. In dieser Art Aufarbeitung historischer Geschehnisse ist der Autor bewandert. Sei's drum: Kaszas erzählt die Geschichte des Endspiels in kurzweiliger Manier, dabei dankenswerterweise nicht nur die bekannte Perspektive der Deutschen einnehmend, sondern auch um die der Ungarn bemüht.

Denn in der wonnigen Wunderfaszination hierzulande wird weitgehendst vergessen, dass der Spielausgang des Berner Endspiels nicht nur Folgen für die überraschten Sieger, sondern auch für die enttäuschten Verlierer hatte. Kaszas Buch erzählt im Wechselspiel der Kapitel nicht nur die 'rührende' Geschichte von der Wiedervereinigung des "dynamischen Duos des deutschen Fußballs", Sepp Herberger und Fritz Walter seit dem Wiederaufleben des Fußballs nach 1945, sondern auch die Geschichte des ungarischen Fußballs. Die Ungarn hatten schon etwas länger Erfahrung mit einem Fußballwunder, denn es war ihre "Wundermannschaft", die seit Beginn der 50er Jahre den Weltfußball dominierte. Diese Mannschaft wurde just in der Phase, da "Stalins bester Schüler" Rákosi, der Chef der ungarischen Kommunistischen Partei, das KP-Regime im Land installierte, von Gusztáv Sebes geformt: "Sebes war mehr als nur Trainer einer Fußballnationalmannschaft. Er war der sozialistische Sportmanager - und wurde als solcher zum Verbindungsglied zwischen Partei und Mannschaft. Sein Fünfjahresplan hatte ein besonderes Ziel. Und das hieß 'Weltmeister'".

Zur Unterstützung dieses Vorhabens schuf der sozialistische Staat die von Sebes erwünschten Voraussetzungen. Um zu einer Konzentration der Kräfte zu kommen, hatten sich bereits in den sozialistischen Bruderländern die (Dynamo-)Armeeclubs bewährt. Gegen den Widerstand der Fußballfans wurde diese Konstruktion auch in Ungarn eingeführt. Der Traditionsverein Kispest (Kleinpest), bei dem bereits die beiden ebenso beliebten wie erfolgreichen engen Freunde Bozsik und Puskas spielten, wurde zum Armeeklub Honvéd (Heimatverteidiger) Budapest. Ein zweiter Armeeverein war Vörös Lobog. In der "goldenen Mannschaft" der Ungarn spielten schließlich sechs Spieler aus Honvéd und drei kamen von Vörös Lobog. Die auch in Ungarn ungeliebten Planmaßnahmen der Sportführung wurden letztlich dennoch akzeptiert, weil die Nationalmannschaft Erfolg hatte. Sie erspielte sich mit ihrem außergewöhnlichen Fußball viele Sympathien im Volk. Bei den Olympischen Spielen 1952, bei denen die Ungarn einen erfolgreichen dritten Platz in der Nationenwertung erzielen konnten, errangen die zu Staatsamateuren erklärten Fußballer einen eindrucksvollen Olympiasieg. 1953 spielte man das "Jahrhundertspiel" im Londoner Wembleystadion, bei dem die Ungarn die bis dahin zu Hause ungeschlagenen Engländer mit 6:3 Toren besiegten.

Der sportliche Erfolg steigerte nicht nur das Ansehen der Spieler im eigenen Land, sondern auch das Einkommen der Spieler, die wiederum ihren Wert sehr gewitzt einzuschätzen wussten. So galt zeitweise eine einfache Regel, um die Mannschaft zu erfolgreichen Spielen anzuhalten: "Große Kohle, großes Spiel. Kleine Kohle, kleines Spiel." Einnahmeträchtig war auch die rege Schmuggeltätigkeit der Mannschaft bei Auslandsspielen. Seitens der Sportführung sah man über derartige Unbotmäßigkeiten hinweg, im Volk 'gönnte' man den Spielern ihre Privilegien. Trotzdem war es, so resümiert der Autor, "eine schizophrene Situation, in der sich die Mannschaft befand. Sie war gefangen zwischen Volk und Regime - beide beanspruchten sie für sich."

In dieser siegesgewissen Euphorie war die Berner Niederlage ein Schock. Von einer "Niederlage des Volkes" war die Rede, Verschwörungstheorien machten die Runde. Die Enttäuschung und Wut richtete sich vor allem gegen den Trainer: "Sebes zog die Wut der Massen auf sich, [...] Weil er die Symbolfigur für den sozialistischen Sport war." Parallel zu dieser Entwicklung - indes keinesfalls als Folge - geriet das harte Rákosi-Regime ins Wanken. Der tragische Aufstand der Ungarn im Herbst 1956 blieb bekanntermaßen vergeblich. Interessant ist es aber zu erfahren, was während dieser Zeit mit den Spielern der "Wundermannschaft" geschah. Aus Sicherheitsgründen waren die beiden Armeemannschaften von Honvéd und Vörös Lobog dezent nach Wien verbracht worden. Nun tingelte man im westlichen Ausland und ließ sich Freundschaftsspiele honorieren. Höhepunkt war eine lukrative Südamerikatournee. "Das Sportministerium geriet langsam in Panik. Sie hatten die Kontrolle über die Spieler verloren, die im Westen den Lockungen des dekadenten Lebens zu erliegen drohten." Deshalb forderte das Sportministerium schließlich die Rückkehr der Spieler nach Ungarn. Das war das Ende der Mannschaft. Denn nur ein Teil der Spieler ging zurück nach Ungarn, die übrigen, unter ihnen Puskas, blieben im Westen. Ein unersetzlicher Verlust für den ungarischen Fußball, zumal nicht nur die prominenten Spieler das Land verlassen hatten. "Insgesamt 12.000 Vereinsspieler [...], seien in den chaotischen Monaten nach der Revolution in den Westen geflüchtet."

Fußballerisch war auch die Weltmeistermannschaft aus Deutschland nach dem Endspielsieg am Ende. Niemals mehr konnte sie diese Leistung wiederholen. Trotz der immensen Begeisterung, der sich das Siegerteam nach seiner Rückkehr aus der Schweiz ausgesetzt sah, sowie der aus ebenso skurrilen wie nationalen Phrasen bestehenden Lobreden der verschiedenen Funktionäre und Politiker, die auch Kasza in eindrucksvoller Auswahl zitiert, blieb man bescheiden, will sagen erfolglos. Während das für manchen Fußballfan und -funktionär eine leidvolle Erfahrung war, war einer doch über diese deutsche 'Bescheidenheit' sehr zufrieden. Adenauer, so führt Kasza aus, kannte das Misstrauen gegen deutsche Fußballsiege, zumal solche, die - wie auch der Berner Sieg - mit donnerndem "Deutschland, Deutschland über alles" gefeiert wurden. Und deshalb hatte er nichts gegen Niederlagen zur rechten Zeit. Die Mannschaft enttäuschte ihn nicht. Zweimal verlor sie aus seiner Sicht genau passend: Kurz vor der Unterzeichnung der Pariser Verträge verlor die Truppe von Herberger in Paris gegen Frankreich mit 1:3 und im gleichen Jahr 1955 'unterstützte' sie Adenauers "heikle Mission" der Rückholung der letzten Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion mit einer 2:3 Niederlage in Moskau.

Was lehrt: Geschichten kann der Fußball viele erzählen. Ob diese auch Geschichte machen, sei dahingestellt. Doch die Geschichten lassen wir uns immer wieder gerne erzählen - wie in diesem Buch ...

Titelbild

Peter Kasza: Das Wunder von Bern 1954. Fußball spielt Geschichte.
be.bra verlag, Berlin 2004.
224 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3898090469

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