Hart Cranes Mythos der Alten Welt, erstmals auf Deutsch

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Als einen der ganz großen, ungelesenen Monolithen der Moderne bezeichnet Klaus Reichert im Nachwort das Langgedicht „The Bridge“ des Amerikaners Hart Crane (1899-1930). Mit seiner „Brücke“ gab Crane Antwort auf T. S. Eliots bewundertes Jahrhundertgedicht „The Waste Land“. Allerdings teilte er Eliots Pessimismus nicht, sondern errichtete eine Brücke, die aus der Alten Welt in die Neue führt, um den „Mythos Amerikas“ zu zeigen.

Siebzig Jahre später hat Derek Walcott für ein solches Unterfangen, das Epos „Omeros“, den Nobelpreis bekommen; den nächsten erhält vermutlich Les Murray für „Fredy Neptune“: beides Langgedichte, die aus der Alten in die Neue Welt Brücken schlagen: auf die Antillen, nach Australien. Beiden eignet der Optimismus, der ihren Vorläufer Crane auszeichnete; wenn sich dieser auch, im biblischen Alter von 31, von Bord eines Ozeandampfers in denselben Atlantik geworfen hat, den er zeitlebens besang, weil aus seiner Überbrückung Atlantis hervorgeht, das Gelobte Land, die sagenhafte ideale Stadt, wie sie im Alten Testament Gott dem Noah mit dem Symbol des Regenbogens versprochen hat.

Denn die Geschichte schafft Leiden, und der so genannte Fortschritt – Crane schrieb am Vorabend des „Schwarzen Freitags“ – frisst seine Kinder. Eine Brücke schlägt der Dichter vor allem durch die Zeit: das Gedicht soll Sicht schaffen auf das Bleibende – die Liebe.

Cranes Symbol ist die Brooklyn-Bridge, die über den New Yorker East River führt. Sie sieht er aus dem Fenster seiner Wohnung in Brooklyn, hört unter ihr „morgens den Hafen erwachen“, überquert sie – wie Tausende Amerikaner –, wenn er zur Arbeit in ein Büro nach Manhattan geht, von dessen Fenster er den ganzen Tag sehnsuchtsvoll den Möwen zusehen wird, die um die Freiheitsstatue kreisen. Nachdem uns der Dichter in Gesängen über Geografie und Geschichte des amerikanischen Kontinents führt, endet er nachts in Gesellschaft eines betrunkenen Seemanns, der in einer Hafenschänke unter der Bridge von vergangenen Zeiten fantasiert. Im letzten Gedicht, „Der Tunnel“, weist er uns den Weg unter der Erde zurück nach Brooklyn. Wo bei Eliot, dem in diesem Poem ein Denkmal gesetzt wird, Ödnis und Tod ist, gibt es bei Crane „Lazarus“: Nach der Höllenfahrt unter der Brücke nimmt die U-Bahn neuen Anlauf und fährt zum Licht des neuen Tages hoch.

Die Helden der „Brücke“ sind der physische Leib Amerikas, der bei Crane in der Indianerin Pocahontas lebt, und der Geist der Gefiederten Schlange, welcher den Ureinwohnern die ewige Wiederkehr der Maispflanze versinnbildlichte. Der Dichter arbeitet sich etappenweise zweimal quer über den nordamerikanischen Kontinent, den er in Gestalt des Columbus entdeckt hat. Er fühlt sich jenen verwandt, die sich beim Erkunden von Neuem nicht beirren lassen und sich in der Sternennacht zu orientieren wissen wie der Argonautenführer Jason oder die indianischen Fährtenleser. Dagegen misstraut der Dichter allen Errungenschaften, die einen Kampf gegen die Zeit, die etwas dauert, führen – seien es die neuen, eben noch von den Futuristen besungenen Verkehrsmittel Schnellzug, Auto, Flugzeug oder scheinbare Kommunikationsbeschleuniger wie der Telegraf. Die Gedichte sind von Amerikanern bevölkert, die selbst Opfer eines solchen Fortschritts geworden sind: Landstreicher, abgetakelte Matrosen, die Witwe eines Goldschürfers, erschlagene Irokesen und betrogene Kleinbauern. Ihnen allen gibt Crane die verlorene Würde wieder, jeder tritt mit der Stimme auf, mit der er zu Amerika beiträgt: Die Schwarzen des Mississippi-Deltas mit schleppendem Blues, der bei der Mündung in den Golf von Mexiko Hosianna jubelt, die Siedlerwitwe mit einer traurigen Prärie-Ballade, das Büromädchen aus New York als Leierkastenlied, Columbus barock, die Himmelsstürmer und Luftpioniere futuristisch, der Indianer Maquokeeta in einem Kriegstanz.

Eine Sinfonie so vieler Stimmen und Instrumente ist nicht leicht zu verstehen. Doch wer sie hört, kann sich dem Zauber dieses amerikanischen Orpheus, wie ihn Cranes bedeutender Anhänger Harold Bloom nennt, nicht entziehen. Dieses Opus magnum kann nun auch im Deutschen klingen, in einer Übersetzung, die sich – wie Klaus Reichert im Nachwort meint – „hören und sehen lassen kann“: Den Band ziert Walker Evans‘ Fotografie von den Zwillingstoren der Brückenträger, die Ausgabe ist zweisprachig und die Texte ausführlich kommentiert.

U.E.

Titelbild

Hart Crane: Die Brücke. Ein Gedicht. Englisch - Deutsch. Nachwort von Klaus Reichert.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch und kommentiert von Ute Eisinger.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2004.
128 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3902144718

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