Der Wissenschaft ins Stammbuch geschrieben

Werner Wilhelm Schnabels Geschichte einer vergessenen Gattung

Von Rita Unfer LukoschikRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rita Unfer Lukoschik

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Leicht, das sei vorweg gesagt, erschließt sich das Buch Werner Wilhelm Schnabels dem Leser nicht. Die Beschreibung des Untersuchungsgegenstands in dieser im Jahr 2000 den Philosophischen Fakultäten der Universität Erlangen-Nürnberg als Habilitationsschrift vorgelegten Arbeit ist stilistisch, sprachlich und inhaltlich außerordentlich dicht, weshalb die Lektüre der, abzüglich Parafernalia, Anmerkungsapparat, Bibliographie und Register, fast 600 Seiten umfassenden Arbeit eine echte Herausforderung darstellt. Allein: 'Unbedingt durchhalten' sei hier die Empfehlung, denn die aufmerksame Lektüre wird durch unbeschreiblich reichen Ertrag belohnt. Ein wahres Füllhorn vielseitiger, außergewöhnlicher und hochinteressanter Informationen weiß Schnabel langsam, stetig und unbeirrt über Wissenschaftler aus den unterschiedlichsten Fachrichtungen und über kulturinteressierte Laien auszuschütten, und eine wahre Fülle an überraschenden Erkenntnissen wird sich dem eröffnen, der sich willig und geduldig seiner starken, sicheren Führung überlässt.

Das Stammbuch: Was man gemeinhin für die Spielerei verschraubter Gelehrter, für eine "Modegrille" sentimental gesinnter Heranwachsender hält, zeigt sich in Schnabels Studie in seiner ganzen Bedeutung als außerordentlich verbreitetes und vielschichtiges Kulturphänomen, das nicht nur unzählige Disziplinen tangiert, sondern sich als "eigenständiges kulturelles Phänomen" europäischen und überseeischen Ausmaßes präsentiert.

Schon immer galt es der Forschung primär als Quellenfundus zu eigenen Zwecken: etwa der Heraldik bzw. Geschichtsschreibung, die es sich beispielsweise bei der Rekonstruktion der Geschichte des Studentenlebens an unterschiedlichen Universitäten oder, besonders wegen der oft darin vorkommenden Wappenminiaturen, bei adels- und familiengeschichtlich relevanten Fragestellungen dienstbar machte. Auch Pädagogen und Psychologen kommt es gelegen, um "daran Wertekomplexe und Mentalitäten von Jugendlichen und deren Erziehern [zu] verdeutlichen". Eine wahre Fundgrube ist es für die historische Geographie, die Topographie, die Philosophie- und die Theologiegeschichte (man denke etwa an Martin Luthers bibelexegetische Einträge) schon immer gewesen, im besonderem Maße für die evangelische Kirchengeschichtsschreibung, da die Stammbucheinträge bis ins frühe 20. Jahrhundert eine wichtige reformationsgeschichtliche Quelle bildeten. Neben Kulturgeschichte und -wissenschaft weiß auch die Volkskunde diese Quelle zu schätzen, weil sie die Einträge auf kostümkundliche und studentengeschichtliche Fragestellungen hin untersucht. Sein häufiger Bildschmuck und die nicht selten vorkommenden musikalischen Einträge machen das Stammbuch zudem für die Musik- und Kunstwissenschaft zum beliebten Untersuchungsobjekt, von der Buch- und Bibliothekswissenschaft ganz zu schweigen, die im Stammbuch weidlich Stoff für eigene Forschungsanliegen finden.

Die schier uferlose Anzahl der seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zum begehrten Gegenstand für private Sammler avancierten Fundstücke bietet in der Tat ein reiches Betätigungsfeld, registriert doch die Internet-Datenbank RAA (= Repertorium Alborum Amicorum) am Anfang des Jahres 2002 circa 12.000 Stammbücher, die in rund 350 Bibliotheken und Archiven aus 20 europäischen und überseeischen Ländern aufbewahrt sind.

Es verwundert also nicht, dass die Anzahl der wissenschaftlichen Untersuchungen, die sich des Themas angenommen haben, bei derartiger Fülle an Zeugnissen und bei der Möglichkeit ihrer Verwertbarkeit für so zahlreiche und unterschiedliche Disziplinen, ebenfalls zu einer beeindruckenden Zahl angewachsen ist, stammt doch die erste Abhandlung, die Habilitationsdisputation des Königsberger Theologen Michael Lilienthals, bereits aus dem Jahre 1711 und erachtet das bedeutendste Nachschlagewerk des 18. Jahrhunderts, der Zedler, das Stammbuch wegen seiner moralischen Wertigkeit sogar eines eigenen Artikels für würdig.

Es fehlte bisher jedoch eine den Gegenstand in seiner Ganzheit und in seiner Eigenwertigkeit betrachtende Untersuchung, die, begriffliche Klarheit über die im Laufe der Jahrhunderte sich angesammelten (Vor- und Fehl-)Urteile schaffend, das Kulturphänomen Stammbuch ernst genommen und die Einzeltexte in ihrem Verhältnis zu dem jeweiligen Stammbuch und zum kulturgeschichtlichen Zusammenhang der Epoche, aus der sie stammen, präsentiert hätte. Dies geleistet zu haben, ist das unbestrittene Verdienst Werner Wilhelm Schnabels.

Dass die hier offerierte, methodisch bewusst gewählte literaturwissenschaftliche Ausrichtung des kritischen Blicks auch für andere Disziplinen äußerst gewinnbringend sein kann, ist evident. Schnabels kluge Kontextualisierung der Stammbucheinträge und die gekonnte Durchleuchtung der sie inhaltlich, strukturell und formal bestimmenden Konventionen macht in aller Deutlichkeit klar, dass die naive Verwendung der Einträge zu groben Fehleinschätzungen der Quelle und somit zur Verfälschung der auf dieser Grundlage erzielten Ergebnisse führen kann. So wird, um nur ein Beispiel zu nennen, eine Gouache aus dem 1696 datierten Album des Michael Gottlob Steltzner, deren Motiv einem Emblembuch entnommenen ist, in ihrer Bedeutung durch den im neuen Kontext veränderten Zusammenhang gegenüber ihrem ursprünglichen Sinn semantisch derart abgewandelt, dass sie geradezu ins Gegenteilige verkehrt wird.

Werner Wilhelm Schnabel kehrt in der Kammer überlieferter Definitionen und immer wieder kolportierter Äußerungen über das Stammbuch gründlich durch und, nach umsichtiger, präziser und unmissverständlicher Abgrenzung von verwandten Formen, lässt er seinen Untersuchungsgegenstand in seiner Eigentümlichkeit und seinen Verwandtschafts- und Wechselbezügen zu anderen Sammelformen schärfer heraustreten, denn: Nicht alles, was zunächst danach aussieht, verdient den Namen "Stammbuch".

Überaus weit verzweigt sind in der Tat die ihm verwandten, sich jedoch von diesem unterscheidenden Formen von Alben, die Namen, Motti, Sentenzen, Gedichte, Widmungen, Wappen und dergleichen mehr unter einem Buchdeckel vereinen: von 'institutionellen' Haltern (u. a. von öffentlichen und korporativen Einrichtungen wie Gasthöfen, Burschenschaften, Gesellschaften, Gaststätten, Kirchen, Schlössern und Museen) ausgehende Alben, allerlei Sorten von Gesellschafts-, Erinnerungs-, Burschen-, Karzer- und Zunftstammbücher, Kunden- und Salonalben, sowie Familien-, Haus-, Tage-, Geschlechtsbücher, Chroniken; auch das "Album d'Hommages" gehört nicht dazu, das ohne Wissen des Halters von einem Freundeskreis zusammengestellt wird, um noch lebende bzw. verstorbene, berühmte Adressaten, etwa Dürer oder Vergil, zu ehren.

Nach Schnabels Kriterien verdient die Bezeichnung "Stammbuch" ausschließlich ein engstens mit der Freundschaftsthematik verbundenes, von einem personalen Halter geführtes, als "Erinnerungsbuch für Freunde und Gönner" konzipiertes Artefakt, in dem sprachliche, musikalische und bildliche Einträge, von den Wappen bis zu kulturhistorisch bedeutsamen Genreszenen und Silhouetten, dahingehend funktionalisiert werden, dass sie "zwischenmenschliche Gewogenheit" dokumentieren und "künftige Memoria" ermöglichen.

Auf gedanklich und begrifflich sauberem Boden wird dann der so herauspräparierte Untersuchungsgegenstand unerbittlich systematisch auf seine textuellen, medialen und pragmatischen Aspekte analysiert und in seinem Eigenwert "über seine Quellen-Funktion hinaus" betrachtet.

Dabei geht Schnabel sowohl auf die einzelnen Bestandteile des Stammbuchs (den eigentlichen Textteil wie die Peri- und Paratexte) wie auf seine äußeren Präsentationsformen ein (Ausstattung, Bildschmuck, Leder-, Samt-, Pergament-Einbände mit ihren "semantisierten Materialqualitäten", Behältnisse, "Beschreibstoff" wie Pergament oder Papier etc.).

Nicht unberücksichtigt bleibt die inhaltliche Auswertung der Inskriptionen auf ihre intertextuelle Bedeutung hin, die sich, was die Textpassagen angeht, aus dem traditionellen zitierwürdigen Kanon (Bibelstellen, Autoren der klassischen Antike) wie aus Werken zeitgenössischer nationalsprachlicher Autoren speisen.

Ferner finden die in das "Stammbuchprojekt" involvierten Personen (Halter, Einträger und Leser) mit den damit zusammenhängenden beziehungsgruppenspezifischen Aspekten aufmerksame Berücksichtigung, indem deren sozialer Stand (Adels- und Bildungsmilieu, 'Sonderfälle' wie das Milieu der niederländischen Späthumanisten, von Künstlern und Pietisten) und deren Einfluss auf Eintragsformen und -themen, deren Motive und Absichten auf die Verwendungsumstände rund um das Stammbuch scharf durchleuchtet werden, wobei auch rezeptionsgeschichtliche Aspekte erfreulicherweise nicht zu kurz kommen.

Besonders hervorzuheben ist hier der Umstand, dass die geschlechterdifferente Komponente der Trägerschaft kluge Beachtung findet, u. a. bei den im rheinischen und niederländischen Bereich um 1600 vermehrt vorkommenden Stammbüchern adliger Damen und dadurch, dass die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts stattfindende allmähliche "Feminisierung" der Literatur auch bezüglich der Stammbuchsitte reflektiert wird, die inhaltlich und formal auf hochinteressante Weise davon erfasst wird.

Neben dieser intensiven Betrachtung des Untersuchungsobjekts, der je nach Epoche am Gegenstand angelegten unterschiedlichen interpretatorischen Ansätze und der auf die Mitte des 16. Jahrhunderts zurückgehenden Bezeichnungsgeschichte, offeriert Schnabel einen historischen Exkurs zur geschichtlichen Entwicklung der Stammbuchsitte vom ersten Beleg durch Guibert von Nogent (1053-1124) über die einschlägigen Stellen in adligen Gästebüchern und Eintragungen im Umkreis der Wittenberger Theologen, die den eigentlichen Beginn der Stammbuchsitte markieren, bis hin zu der hier fokussierten Entwicklung bis ca. 1730.

Zukunftsweisend für die Forschung sind Schnabels intelligente Ausblicke über die historisch belegbare allmähliche Ausweitung der Trägerschaft (Frauen, Angehörige niedriger sozialer Schichten, Jugendliche) und der Orte, in denen diese Sitte gepflegt wurde (von Zentren des Kultur- und Geisteslebens bis in Kleinstädte und Dörfer), wobei der Autor überzeugende Erklärungsmodelle für den allmählichen "Verlust an öffentlicher Wertschätzung" und die "Marginalisierung" bietet, welche die Stammbuchsitte seit dem späten 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart kennzeichnet und sie nach so glänzenden Anfängen dem "Verdikt einer [...] pejorativ konnotierten Gelegenheitsdichtung" verfallen lässt.

Besonders spannend ist der der Rezeptionsgeschichte des Stammbuchs gewidmete Abschnitt. Hier zeigt Schnabel, dass die Stammbuchsitte schon im frühen 17. Jahrhundert so verbreitet war, dass sie von europäischen Kupferstechern und Verlegern wie Jacob van der Heyden, Crispin de Passe und Ludwig Kuning verkaufsfördernd benutzt wurde, um mittels der Stammbuchfiktion, d. h. unter Vorspiegelung der Verbreitung didaktischer Lehren ex negativo, Disparates und moralisch Problematisches (sprich: in keinem Zusammenhang stehende Blätter mit unübersehbarem erotischen, ja geradezu pornographischen Inhalt) auf den Markt zu bringen.

Nicht weniger dankbar machte sich die satirische Literatur die Stammbuchpraxis zunutze, etwa Johann Balthasar Schupps "Der Freund in der Not" aus dem Jahr 1657. Die Gewohnheit deutscher Reisender, ein Stammbuch mit sich zu führen, diente schließlich in Charles de Saint-Evremonds zwischen 1662 und 1665 entstandenem und 1705 erstmals gedrucktem "Sir Politick Would-Be" sowie in "Peder Paars", dem zwischen 1719 und 1720 erschienenen komischen Epos des Dänen Ludvig Holberg zur spöttischen Charakterisierung der Reisenden nach "deutscher Manier".

Nicht zuletzt erfährt die Stammbuchsitte im Dienste literarischer Aussageintentionen eine Instrumentalisierung dahingehend, dass bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein Texte als Teile eines Stammbuchs präsentiert werden, besonders im Bereich der Epigrammatik, um "spezifische Anspielungspotenziale freizusetzen und Publikationen beliebiger Ausrichtung zusätzlichen Reizen zu verleihen", z. B. bei Andreas Gryphius und Johann Grob, die die Stammbuchfiktion oft benutzten, um lehrhafte Inhalte zu vermitteln.

In calce sermonis: Neben einem äußerst akkuraten und überaus informativen Anmerkungsapparat, der von stupender Belesenheit zeugt, tragen der Textanhang, die gründliche, hundert Seiten umfassende Bibliographie und das - wie alles Übrige in diesem Buch - sorgfältig angelegte Namensregister dazu bei, aus Schnabels Studie ein Standardwerk zur historischen Stammbuchforschung und ein unverzichtbares Nachschlagewerk für die unterschiedlichsten Disziplinen zu machen.

Um so dankbarer wird man diese Studie in einer wissenschaftlichen Landschaft begrüßen, die im Zeitalter der Globalisierung und im Zeichen der dem topographic turn in den Kulturwissenschaften verpflichteten Forschung kultur- und geistesgeschichtlich prägenden Netzwerkstrukturen wache Aufmerksamkeit widmet. Untrennbar mit Idealen der Amicitia und der Geselligkeit sowie diese mit einbeziehenden Bildungskonzepten verbunden, bildet das Stammbuch den oft einzigen, obgleich dünnen, dennoch reißfesten und zuverlässigen roten Faden, über den man verfügt, um z. B. die Beziehungsgeflechte von Humanisten des 16. und 17. Jahrhunderts oder von im Freundschaftskult verbundenen Protagonisten des Kulturlebens zwischen Empfindsamkeit und Romantik zu rekonstruieren. Wer durch Schnabels Schule gegangen ist, wird diesen roten Faden erkennen und ihm sicher und gewinnbringend folgen können.

Titelbild

Werner Wilhelm Schnabel: Das Stammbuch. Konstitution und Geschichte einer textsortenbezogenen Sammelform bis ins erste Drittel des 18. Jahrhunderts.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2003.
715 Seiten, 124,00 EUR.
ISBN-10: 3484365781

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