Politik, Wirtschaft, Kultur, Geschichte

Ein aktuelles Jahrbuch zu Korea

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu den vom Institut für Asienkunde in Hamburg herausgegebenen Jahrbüchern gehört seit 1996 auch ein Periodikum zu Korea. In informativer Zusammenstellung bringt es Aufsätze, die die Ereignisse des je abgelaufenen Jahres einordnen, ergänzt durch solche, die weiter in die Geschichte zurückgreifen oder Detailprobleme zum Thema haben. Auch das Jahrbuch 2003 ist derart gegliedert.

Manfred Pohl fasst die südkoreanische Politik bis ins Frühjahr 2003 in einem Beitrag zusammen, der aufgrund allzu kleinteiliger Gliederung leider etliche Redundanzen aufweist. Dabei zeigt Pohl die von politischer Lähmung gekennzeichnete Schlussphase der Präsidentschaft Kim Dae-Jungs ebenso wie den an dramatischen Umschwüngen reichen Wahlkampf um die Nachfolge, der unerwartet mit dem Sieg des liberalen Kandidaten Roh Mu-hyun endete. Pohls Einschätzung, dass Roh entgegen der Erwartungen eines Teils seiner Wähler radikale Veränderungen vermeiden und auch seinem Tönen im Wahlkampf entgegen wieder die Nähe zur USA suchen würde, hat sich bestätigt; Südkorea ist heute eines der wenigen Länder, die größere Truppenkontingente im Irak stehen haben.

Patrick Köllner kann in seinem nach Branchen gegliederten Beitrag zur südkoreanischen Wirtschaft noch ein Wachstum von für Deutschland traumhaften 6,3 Prozent nennen, übersieht jedoch auch Krisensymptome nicht, die mittlerweile zu ernsthaften Schwierigkeiten geführt haben; Gefahrenfaktor ist dabei, dass ähnlich wie in den USA Wachstum und Beschäftigung zum großen Teil auf schuldenfinanziertem Privatkonsum beruhen. Gegenwerte ergeben sich, eine weitere Parallele zur USA, aus einer riskanten Immobilienspekulation, die Köllner seltsamerweise nicht erwähnt; dabei besteht im Platzen der Spekulationsblase das gegenwärtig wohl größte Risiko einer tiefgreifenden wirtschaftlichen Depression.

Sehr viel kürzer ist Pohls Darstellung der Entwicklung in Nordkorea. Das erklärt sich auch dadurch, dass aus dem stalinistischen Land nur wenig an Information über die wirtschaftliche Entwicklung und nichts über mögliche Verschiebungen im politischen Kräftefeld zu erfahren ist. Aus dem Wenigen, was man weiß, zeichnet sich ökonomisch ein sich noch verdüsterndes Bild ab. Ohne ausländische Spenden, Export von Waffentechnologie und vielleicht sogar Falschgelddruck wäre das Land kaum überlebensfähig.

Umso absurder wirkt der mögliche Aufbau einer Atomstreitmacht, der in Pohls Beiträgen zur politischen Entwicklung genannt ist und mehr noch in Joachim Berteles Analyse der südkoreanischen Außenpolitik sowie in Heinrich Krefts Aufsatz zur Nuklearkrise zentral wird. Hier überall erscheint die nordkoreanische Führung in der Rolle des unreifen Lausbubs, der mit Zuckerbrot und / oder Peitsche auf den rechten Weg zu bringen ist. Doch agieren die Politiker des Nordens vielleicht nirgends so rational wie hier - wobei politische Rationalität mit Menschenfreundlichkeit wenig zu schaffen hat. Wohin es führt, wenn man keine Massenvernichtungswaffen hat, kann man an Saddam Hussein lernen: in den Knast. Bertele dagegen betont, dass der neue nordkoreanische Versuch, Atomwaffen zu bekommen, vom Ende der 90er Jahre datiert, also bis in die Präsidentschaft Clintons zurück. Ruft man sich nun die westliche Politik gegen Jugoslawien ins Gedächtnis zurück und den Angriff von 1999, der völkerrechtlich kaum solider begründet war als der Irak-Krieg 2003, so wird deutlich: Schon vor Bush gab es Gründe genug, für einen Ernstfall Kapazitäten aufzubauen, die einen möglichen Gegner empfindlich treffen können.

Ein Schwerpunkt des Jahrbuchs liegt, neben Köllners Darstellung der südkoreanischen Wirtschaft, auf dem Bereich der Ökonomie. Bernhard Seliger begründet, weshalb die nordkoreanischen Sonderwirtschaftszonen zwar einen Versuch des Regimes darstellen, die Versorgungs- und Devisenlage zu stabilisieren, weshalb dies jedoch geringere Erfolge als die chinesischen Sonderwirtschaftszonen, die seit 1980 bestehen, bringen dürfte: Zu groß bleiben bürokratische Hemmnisse; überdies gibt es mittlerweile in vielen Ländern konkurrierende Standorte, an denen die Arbeitskosten geringer sind und die Infrastruktur brauchbarer ist als in Nordkorea. Thomas Ciesliks Aufsatz über Aspekte der Beziehungen zwischen Südkorea und Mexiko führt dem deutschen Leser eindringlich ein pazifisches Weltbild vor Augen - wie koreanische Weltkarten denn auch den Pazifik anstelle des Atlantiks in der Mitte abbilden.

Karin Wessel analysiert die Entwicklung des Einzelhandels im Süden des Landes und findet eine in Kleinstläden und Großdiscounter geteilte Struktur vor; dazwischen gibt es in der Tat wenig. Einen noch größeren Bereich untersucht Peter Mayer in seiner Darstellung der südkoreanischen Außenwirtschaftspolitik seit 1945. Mayer setzt sich dabei von neoliberalen Dogmen ab, die in Freihandel und Rückzug des Staates den besten Entwicklungsweg sehen. Im Gegenteil beruht der südkoreanische Erfolg auf dem Zusammenspiel von Schutzzöllen, Import- und Investitionsverboten einerseits, andererseits einer stufenweise kontrollierten Marktöffnung, die die allmählich erstarkenden Konzerne an die Konkurrrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt heranführt.

Man könnte deutlicher als Mayer benennen, aufgrund welcher Interessen und Machtkonstellationen heute ein solcher Erfolg nicht mehr möglich wäre und von der WTO samt den sie kontrollierenden Industriestaaten verhindert würde; das verstärkt wirtschaftsliberale Auftreten südkoreanischer Vertreter in internationalen Verhandlungen wäre dann nicht die Annahme einer seriösen Verhandlungsposition, sondern Ausdruck eines durchaus materiellen Aufsteigerinteresses. Überhaupt erscheint Liberalisierung in den ökonomischen Aufsätzen fast durchgehend als Wert an sich, ohne dass reflektiert würde, wem welche Liberalisierung was bringt - dem Bewohner einer chinesischen Sonderwirtschaftszone, nach Anfangshärten, sicher etwas. Seinem Landsmann in einem notwendig vernachlässigten Landesteil, in dem mangels Mitteln die von internationalen Konzernen geforderte Infrastruktur verspätet oder nie gebaut wird? Vielleicht, insofern er sich als kostengünstiger erweist denn sein nordkoreanischer Konkurrent, und nur solange ...

Auf höherem materiellen Niveau zeigt sich das Problem im Aufsatz Ingo Meierhans' und Werner Paschas zur Investitionstätigkeit südkoreanischer Firmen in Deutschland und Europa. Grundlage des Beitrags ist eine aussagekräftige Umfrage unter den Unternehmen, die Zweigstellen in Deutschland unterhalten. Zufriedenheit überwiegt, doch Steuerhöhe und Arbeitnehmerrechte werden als Nachteile benannt. Nun ist ja verständlich, dass Unternehmer am liebsten keine Abgaben zahlen (wobei rätselhaft bleibt, wie denn die deutsche Infrastruktur, die in der gleichen Umfrage gelobt wird, finanziert werden soll); auch ist es einfacher, im Zweifelsfall zu kommandieren oder zu entlassen als zu verhandeln. Doch ist die abschließende Perspektive der Autoren, dass gut sei, was am Markt nützt, arg reduktionistisch. Konsequente Folge ist der globale Wettbewerb um die je günstigste Verwertung menschlicher Arbeitskraft, also eine Abwärtsspirale. Nun dient Arbeit einem möglichst guten Leben - und nicht das Leben einer möglichst effektiven Arbeit. Nicht nur Meierhans und Pascha vergessen das; ihr blinder Fleck ist vielmehr symptomatisch für die grundsätzlich verfehlte Sicht des herrschenden Neoliberalismus. Insofern ist der Fehler zu erwähnen.

Andere historisch ausgreifende Beiträge liefern dem Korea-Interessenten wertvolle Informationen und dabei Gelegenheit zum Widerspruch. So zeigt Hans Maretzki, in welchem Ausmaß Nordkorea in seiner frühen Geschichte zwischen 1945 und dem Beginn des Korea-Krieges 1950 von der stalinistischen Sowjetunion kontrolliert war, und wie sehr Kim Il-Sung, der später davon nichts wissen wollte, als großer Führer eine sowjetische Schöpfung war. Maretzki, der zwischen 1987 und 1990 Botschafter der DDR in Nordkorea war, verfügt sicher über einen erfahrungsgesättigten Einblick in die Funktionsweise kommunistischer Herrschaft. Indessen wirkt die detailreiche Darstellung zuweilen, als liefen kommunistische Pläne, die Macht zu gewinnen und Krieg zu führen, wie am Schnürchen ab. Aggressionen auch des Südens vor 1950 sind erwähnt, doch in die Analyse nicht integriert. In welchem Kontext und in welchen Ungewissheiten man im Norden agierte, das wird nicht hinreichend deutlich, so dass Maretzkis moralische Kritik etwas unvermittelt daherkommt.

Zwei Beiträge aus koreanischer Feder oder Tastatur runden den Band ab. Materialreich stellt Lee Yeong Heui die Entwicklung der koreanischen Rechtskultur dar. Der beeindruckende Überblick über zwei Jahrtausende ist so ehrlich, dass er die Hauptthese der Autorin demontiert: die koreanisch-asiatische und die westliche Rechtstradition würden auf völlig entgegengesetzten Denkweisen beruhen. Nahezu nichts von dem, was sie anführt, findet nicht auch seine Entsprechung in mittelmeerisch-europäischem Rechtsdenken bis in die Frühe Neuzeit. Gelegentlich gleitet der Beitrag in Richtung einer fragwürdigen Identitätspolitik ab; als wären Gesetze Mittel, etwas zu wahren, das zur kulturellen Tradition erklärt wurde, und nicht die Voraussetzung dafür, heute das Zusammenleben zu organisieren. Auch in ihrer Darstellung der jüngeren Geschichte und Gegenwart droht Lee die Selbst-Ethnisierung. Wenn in Umfragen der 70er bis 90er Jahre eine Mehrheit der Befragten die Justiz vor allem als Straforgan wahrnahm und 1991 nur 11 Prozent das Recht als "demokratisch" ansahen, so zeigt sich darin die damals zutreffende Einschätzung, in einer Militärdiktatur zu leben, nicht unbedingt traditionalistische Ablehnung westlicher Gesetzgebung. Die Einschätzung der Autorin, Koreaner neigten grundsätzlich zu harmonisierender Konfliktvermeidung, teilt wohl nicht, wer Nachrichtenbilder von Jahrzehnten koreanischer Arbeitskämpfe in Erinnerung hat oder auch nur einen Wochenendabend durch ein Seouler Kneipenviertel spaziert ist; auch die in diesem Schwerpunkt vorgestellte Literatur weist in eine andere Richtung.

Lee Eun-Jeung untersucht in ihrem Beitrag das "Park-Chung-Hee-Syndrom": die Popularität des 1979 ermordeten Diktators in fast allen politischen Lagern. So sehr die südkoreanische Wissenschaft zu einer negativen Bewertung Parks gelangt ist - sich im Wahlkampf mit Park-Verwandten zu zeigen, bringt auch heute noch Stimmen. Aus deutscher Perspektive überrascht das wenig; einem Hitler ohne verlorenen Krieg hätte ein Großteil der Bevölkerung einiges an Verbrechen nachgesehen. Um so nützlicher ist Aufklärung, wie Lee sie hier leistet: dass etwa der erste der Fünfjahrespläne, die zum ökonomischen Erfolg führten, schon von der Regierung vorbereitet war, die Park erst per Putsch beseitigte. Auch hütet sich Lee vor falschem Alarmismus. Vielmehr verweist sie zutreffend darauf, dass die Konservativen aus dem Park-Syndrom keinen Gewinn schlagen konnten und beide Präsidentschaftswahlen seit dem Höhepunkt der Diktatorenverehrung 1997 verloren haben. Heute könnte sie noch die Parlamentswahlen vom Frühjahr 2004 hinzufügen, die erstmals alle wichtigen Verfassungsorgane in liberaler Hand konzentrierten. Dennoch bleibt die Vergangenheitspolitik in Südkorea, wie Lee betont, ein wichtiges Forschungsfeld.

Titelbild

Patrick Köllner (Hg.): Korea 2003. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft.
Institut für Asienkunde, Hamburg 2003.
315 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-10: 3889102964

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