Geheime Kosmologie einer Industriebrache

Mit seinem virtuosen Roman "Die Sonne scheint uns" steigt Georg Klein wieder tief hinab in den deutschen Urschlamm

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gabor Cziffra ist der reiche Strippenzieher des namenlosen Ortes irgendwo in Norddeutschland. Erblindet und vom Hauch des nahenden Todes angeweht, zittert er mit pergamenten dünner Haut der Erfüllung seines Auftrages entgegen. Sein 'Neffe' Bitterlemon ist dabei quasi der Parzival der Geschichte, Auftragsempfänger und nützlicher Idiot, halber Analphabet und dazu noch sehbehindert. Und dennoch folgen wir über weite Strecken seiner Perspektive, willig und ähnlich orientierungslos wie seine Kollegen: "Den tumben Kerl zum Chronisten ihrer Suche zu machen ist einer der Schachzüge Cziffras, deren Zweck [...] weiterhin unbehaglich unklar bleibt." Wäre da nicht noch eine weitere Erzählinstanz, autornah 'über' den Figuren angesiedelt, es ließe sich kaum ein Erkenntniszipfel erhaschen.

"Die Sonne scheint uns", der neue Roman von Georg Klein, ist erneut als Expedition in den deutschen Urschlamm angelegt, den der Autor, Jahrgang 1953, schon in seinen beiden Romanen "Libidissi" und "Barbar Rosa", vor allem aber in seinen Erzählungsbänden "Anrufung des blinden Fisches" und "Von den Deutschen" erkundet und nach Zeugnissen deutscher Kultur und deutscher Barbarei befragt hat. Gegen den Trend nämlich, geschichtsvergessen-solipsistische Wohlstandskinder in die literarische Welt zu setzen, und gegen die Tendenz, die 'Nachkriegszeit' für beendet zu erklären, hat er deren Fortdauer bis heute behauptet. War es in seiner Erzählung "Old Erfurt" die krude Mischung aus heimischem Liedgut und unverblassten Erinnerungen an den U-Boot-Krieg, die zur Doppelbödigkeit der Gegenwartshandlung beitrugen, so sind es hier letzte Zeugen des Bombenkrieges und nationalsozialistischer Arisierungspolitik, sprich der Eliminierung der Juden aus dem Geistes- und Wirtschaftsleben, die bei der abgründigen Suche nach einem geheimnisvollen "Artefakt" zutage treten.

Aus Bitterlemon und den anderen Figuren seines Romans lässt Georg Klein ein White-Trash-Soziotop entstehen, quasi als unheimliche Variante gegenwärtiger 'Reality'-Shows mit Orwell'scher Überwachungstotalität und Entfesselung animalisch-triebhafter Überlebensstrategien. Und wie im Containerleben auf Zeit bekommen sie eine Aufgabe gestellt, sollen sie doch ein verlassenes Bürohaus nach der verschollenen "Sonne" durchforsten. Das auffällige soziale Gewebe, das sie dabei ausnahmslos zu Verwandten zweiten Grades zu machen scheint, zu Nichten und Neffen, Onkeln und Tanten, ist als Kunstgriff des Autors verstehbar, aus einem beliebigen Milieu metaphorisch eine Schicksalsgemeinschaft zu stiften. Greift man sich aus dieser Schar die beiden privilegierten Figuren heraus, Onkel Cziffra und seinen Neffen (neben Bitterlemon auch Bitter und Lemon genannt), privilegiert deshalb, weil sie die beiden einzigen Ich-Erzähler der dargestellten Welt sind, so wird deren Funktion sofort klar: Der eine stellt die Aufgabe, der andere erzählt, welchen Verlauf das Mit- und Gegeneinander von Vita und Light, Still und Funny nimmt.

Was diese - mit Bitterlemon fünf - Sonnensucher finden, ist keltischen Ursprungs und erinnert zunächst nicht an die Arisierungsverbrechen im 'Dritten Reich'. Doch der seltsam verklausulierte, nie ganz deutlich artikulierte Auftrag Onkel Cziffras erzwingt eine 'Übersetzung' des ebenso trivialen wie brutalen Geschehens, eine Transferleistung, die Georg Klein am ehesten Bitter, dem tumben Tor und Chronisten der Ereignisse zuzutrauen scheint. Bitter ist der "Buchhalter" der Geschichte ("denn ich halte, seit wir beisammen sind ein schmales Buch unter den rechten Arm geklemmt"), tut in merkwürdig beiläufigem, naivem Gestus Wahrheit kund und stimmt gleich zu Beginn seiner Aufzeichnungen einen Ton an, der diese Wahrheit ins Obszöne verzerrt. Etwa wenn er das literarisch unbewältigte historische Thema des Bombenkriegs aufgreift und einen "Meilenstein" in der Geschichte des Luftkampfes postuliert, der vor über fünfzig Jahren ein bedeutendes Bauzeugnis der Moderne zerstörte - genau dort, wo sich über den Trümmern von einst der "Steife Schnösel" von heute erhebt, der Büroturm und Ort des Geschehens inmitten einer Industriebrache, in der Nutten aus Osteuropa ihrem Gewerbe nachgehen.

Dort schiebt gewöhnlich auch Light Dienst, Gabor Cziffras "Edelneffe", doch ist er zur Zeit mit Bitter und den anderen im Hochhaus auf Schatzsuche und kann seine Sexdienste nicht anbieten. Light, Typus arbeitsloser Akademiker, hat den ubiquitären Nepotismus dieser exzentrischen Welt schon in den Negativaspekten kennen gelernt: Die "so sorgsam angepeilte Stelle im Museum für Frühgeschichte" entging ihm, weil ein "Geldmensch mit extraguten Kontakten" sie unbedingt mit dem Großneffen eines deutschstämmigen Architekten besetzen wollte. Über diesen Architekten, den jüdischen Emigranten Egon Zucker, treibt Light historische Studien, natürlich im Auftrag seines Onkels - ein Kunstgriff, mit dem Georg Klein das schon notorische Thema historischer Schuld ins Spiel bringt, die sich noch im Leben der Kinder und Kindeskinder manifestiert, so wie in der Person Gabor Cziffras noch einmal der alte Hass auf Jüdisches hochkocht, personifiziert in Ilja "Gunter" Gor, dem "Schlawiner", der in der Zwischenkriegszeit ein "Museum der Weltmirakel" in einem ehemaligen Kinotempel eröffnete. Noch fünfzig Jahre später führt Cziffra das falsche Deutsch seines früheren Rivalen im Munde, sich an unflätigen Tiraden gegen Gor delektierend.

Gabor Cziffra, der, als sei sein Name eine Cziffre, mal als "Fuchs" und mal als "Teufel" bezeichnet wird, ist der "Versucher" dieser Geschichte, nicht der einzige zwar, doch der mit dem längsten Atem, der fast bis zum wüsten Ende seine Strippen zieht. Er folgt dabei einer geheimen Kosmologie, die das gesamte Personal und alle Himmelserscheinungen in ein elementares Verhältnis zueinander zu setzen scheint. Und Böses im Herzen ziehen die "Wandelsterne des Menschenglücks" ihre Bahn, voller Neid und Missgunst und bereit, über Leichen zu gehen. Teuflisch ist beispielsweise folgender Aspekt: Dezimiert sich das von Cziffra eingesetzte Team der Sonnensucher, so entfällt auf den Einzelnen mehr Honorar. Funny ist als erster Tote schon am zweiten Tag zu beklagen und wird nie erfahren, wie nahe er dem gesuchten Artefakt schon gekommen war: Denn ähnlich wie in Edgar Allan Poes berühmter Erzählung "Der stibitzte Brief" sieht er das Gesuchte, ohne es wahrzunehmen.

In einem "Kümmerkasten" oberhalb des Fahrstuhls verborgen, begleitet Gabor Cziffra die planlose Suche seiner Mannen. Kleins Leser erinnert er an Wölffli, die Künstlerfigur seiner Erzählung "Gugu", die der Autor mit ähnlich morbider Leidenschaft und agonaler Intensität gezeichnet hat. Unwillkürlich fragt man sich, woher er diese Vorliebe für das Groteske nimmt, denn das Absurdistan mit Namen Deutschland dürfte nicht der einzige Bildspender einer Romanwirklichkeit sein, in der eine "Systemreform" die Beschäftigungslosen "in neue bürokratische Kreisläufe" entlässt, da der Arbeitsmarkt sie ohnehin nicht aufnehmen kann. Anderes, darunter die seltsame Anthropologie aus Onkeln, Neffen und Nichten, erinnert an die literarische Heimat der Gänsevögel, an Entenhausen, wo soziale Gerechtigkeit ein ähnlich utopisches Fernziel zu sein scheint wie bei uns. Aber vielleicht ist es egal, woher ein Heutiger seine Wirklichkeit bezieht, aus dem Schwabenland, wo ab mittags Spätschichtzulagen gezahlt werden, oder aus der bunten Walt-Disney-World, in der das ewige Abenteuer mythischer Schatzsuche winkt - sie lässt sich wohl nurmehr als Mischung aus Komik und Grauen beschreiben oder als "grundsätzliche Asozialität", wie ein dem Buch vorangestelltes Motto Wolfgang Hilbigs vorgibt.

Klein ist dieser Vorgabe mit Sarkasmus, Spott und böser Ironie gefolgt, und so widersteht seine scheinbar kindlich unbekümmerte, grausam-gleichgültige, komisch überdrehte 'Gralssuche' der Versuchung, eine letztlich moralische Erzählung zu liefern. Gleichwohl wird jeder, der spürt, dass es hier nicht eigentlich um den Gral und nicht primär um ein Ensemble keltischer Kult- und Gebrauchsgegenstände geht - und folglich auch nicht um die Sonne, die, wie der Gral, als 'absolutes Zeichen' semantisch leer bleibt -, davon überzeugt sein, dass hier einer nicht bloß abgründig Spiele spielt, sondern dass hier ein Autor unerbittlich Stoffe wälzt, hinter denen noch eine Vorstellung steht, eine Vorstellung etwa von der mythischen Kraft und sozialen Fortdauer alles Geschichtlichen. Dies darstellen zu können, ohne es erklären zu müssen, ist nur einem großen und bedeutenden Erzähler wie Georg Klein gegeben.

Titelbild

Georg Klein: Die Sonne scheint uns. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2004.
219 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3498035223

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