Nach Moskau! Nach Moskau!

Wolfgang Büschers abenteuerliche "Reise zu Fuß" beginnt in Berlin

Von Marion GeesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marion Gees

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gleich zu Beginn sei ein offenherziges Urteil gestattet: Es ist wirklich ein großes Glück, dieses Buch zu lesen! Nur selten kann das einem Text so ohne Umschweife zugestanden werden. Auch die bisher erschienenen Kritiken klangen mehr als vielversprechend, einige geradezu hymnisch. Ilma Rakusa betont das "lebendige Geschichtsanschauungsmaterial" und die große Erzählkraft des Autors, die dieses Buch zum Glücksfall mache. Andere ziehen Vergleiche mit Vorläufern, die von Gottfried Seumes Syrakus-Wanderung bis hin zu Werner Herzogs "Vom Gehen ins Eis", von Ludwig Tiecks "Blondem Eckbert" bis zu den Gestalten von Edwin Erich Dwinger reichen. Gustav Seibt prophezeit diesem Werk gar einen festen Platz unter den "Klassikern der Reiseliteratur" - und dies zu Recht.

Aber was ist das ganz eigene Geheimnis dieses Buches? Neben dem für sich schon spektakulären Reiseplan, den außergewöhnlichen - teils ablehnenden, teils über aus gastfreundlichen - Begegnungen, aus denen eindringlich die tragische deutsch-russische Geschichte spricht, dem Sinn für Landschaften, für Nuancen und die Magie der Gegenstände, gibt es noch ein besonderes sprachliches Faszinosum. Vielleicht liegt es in dem Wechsel von überaus ruhigen poetischen Landschaftsbeschreibungen, die durch ihre melodiösen elegischen Und-Reihungen auffallen, und den teilweise expressiven und emotionalen Szenen, die einen kühnen Rhythmus erzeugen, von dem der Leser sich von der ersten Seite an kaum mehr lösen kann. So liest man das Buch und liest und liest und spürt nur vage, dass man genau diesem Rhythmus, in dem sich eine Art stille sehnsuchtsvolle Leidenschaft offenbart, ohne ins Sentimentale abzugleiten, auch im Akt des Lesens bis zum Ende unterworfen ist.

Die Reihungen, die Wiederholungen werden im Verlauf dieser Wanderung, wie das Gehen selbst, noch gleichmäßiger, verlässlicher und in ihrem Umhertasten immer zielsicherer: "Ich hatte einen Rhythmus gefunden, er war immer gleich. Ich stand auf, zog die Tür hinter mir zu und ging den ganzen Tag, bis es dunkel wurde, schlief irgendwo, stand auf und ging weiter. Moskau zog mich mächtig an." Oder an anderer Stelle: "Es war kein Regen, es war ein Landregen. Kein Landregen, es war ein Weltregen, und die Welt war dunkel und leck und hatte kein Dach, und ich war der Einzige in dieser Welt, und es ging nur noch um eines, vorwärts und durch. Nichts denken. Gehen. Ich sprach vor mich hin und brabbelte unsinniges Zeug, wenn es nur zum Gehen passte und sich reimte." Und die geradezu expressionistischen Passagen finden einen Höhepunkt in der Beschreibung einer Unterkunft bei einem seltsamen, von Verfolgungsängsten zerstörten Mann namens Tschess Kalender, den der Wanderer in der sogenannten Partisanenzone trifft: "Sein Schrei stach in meinen Schlaf wie ein Messer. Er schrie unglaublich laut und wild, wie ein Tier. [...] Alle zehn oder zwanzig Minuten fielen sie über ihn her, und dann schrie er in seiner Todesnot, schrie um sein Leben. Mir war, als ob das Land selbst schrie, die Äcker, die Steppe, die Gräber, die Massengräber. Er nahm es auf sich, wie ein besessener Bote rang er dort unten mit den Dämonen."

Die Maßstäbe von West und Ost verschieben sich auf der Reise zunehmend. Der sogenannte Osten rückt immer weiter nach Osten, und kurz vor dem Ziel wartet wiederum der Westen. Kurz vor Moskau, in den bereits überfüllten Vororten entlang unzähliger Bau-, und Automärkte, wo niemand mehr zu Fuß geht, wo den Reisenden plötzlich nur mehr noch schwarze BMW's mit schwarz gekleideten Männern überholen, ändert sich dieser Rhythmus: "Es war kein Gehen mehr. Es war Schwimmen in einem völlig überfüllten Becken. Kein Schwimmen mehr. Pflügen." Angekommen an der Stadtgrenze umarmt "ein komischer Penner mit brennenden Augen und einem heiseren Jubelschrei das Ortsschild." Der Penner ist er selbst. Er war angekommen. In Moskau erwartet ihn der erste Schnee.

Aufgebrochen war der Wanderer an einem Sommermorgen des letzten Jahres, und er wird an die drei Monate, etwa 2.500 km unterwegs sein, auf der Strecke, die bereits Napoleon und die Deutsche Wehrmacht genommen hatten. Bei sich trägt er einen Rucksack mit Ersatzhose, Ersatzhemd, ein weiteres Paar Socken, eine Regenjacke, eine kleine Reiseapotheke und wenige andere Dinge, an den Füßen ein Paar extra angefertigte Stiefel. Und da ist noch der Panamahut, bald das einzige Zeichen, das den Wanderer im Laufe der Reise von den anderen Menschen unterscheidet; häufig hält er ihn lieber in der Hand, damit er nicht auffällt. Er will sein wie die anderen, denen er begegnet. "So wollte ich es. Nicht beachtet zu werden, nicht einmal gesehen. Tief im Osten verschwinden, im Osten, noch tiefer. Da sein und nicht da sein." Nur gelegentlich nimmt er Bus oder Mitfahrangebote in Anspruch. Schokolade und Wasser sind tagsüber seine Haupt-Nahrungsmittel. Warmes Wasser entpuppt sich als immer seltener werdender Luxus. In Polen wird er noch von verschiedene untereinander vernetzten Deutschlehrerinnen aufgenommen, die ihm Sicherheit und wichtige Hinweise für das Weiterkommen bieten.

Mit der weiteren Grenze nach Osten bleiben diese Anker bald ganz aus, und der Reisende, dessen immer wieder aufkeimende Zweifel an seiner Unternehmung im Laufe schwächer werden, ist völlig auf sich selbst und seine Intuition gestellt: "Ich näherte mich dem Zustand, in dem es allein darum ging, Strecke zu machen, in dem dort, wo sonst das Wort warum wohnt, nur noch das Wort vorwärts pocht." Begegnet er in Polen noch den Spuren der westlichen Konsumwelt, verschwindet diese fast gänzlich bis kurz vor Moskau; nur die sauberen Toiletten von MacDonalds weiß er gelegentlich zu schätzen. Auf dem letzten Drittel der Wegstrecke erwartet den Wanderer endgültig die pure Ungewissheit. Er ist ohne Vorstellung vom Weg, ohne Adressen, an die er sich wenden könnte. Mehr oder weniger gefährliche und vor allem unheimliche Situationen, denen er jeweils entkommt, lauern auf dem Weg. Eine Frau am Straßenrand hält ihn wegen seines Notizbuches für einen Spion. In einer Raststätte stellt er plötzlich fest, dass ein anderer neben ihm im Bett liegt, und es kommt zu einem Ringkampf in der Dunkelheit, der ihn für Minuten fürchten lässt, sein Ende sei nun gekommen. Und an anderer Stelle kann er gerade noch fliehen, als ihn eine Frau fälschlicherweise des Diebstahls bezichtigt. An manchen Tagen bleibt in den Wäldern nur das Gespräch mit den Wölfen, die sich aber nicht zeigen wollen. Und immer wieder wird er konfrontiert mit den geschichtsträchtigen Orten, vorbei an Gedenkstätten und Massengräbern aus der fernen und jüngeren Geschichte.

In Minsk trifft er einen "Liquidator", der ihm seinen "Liquidatorenausweis" zeigt. Er ist einer der Feuerwehrmänner, die nach dem Unfall in den Reaktor mussten. Er fährt mit ihm in "die Zone", in das "radiologisch-ökologische Reservat". Er fährt durch Dörfer, die sich die Wälder wieder zurückerobert haben. "Das Land war nie stumm, es roch auch, und die großen und kleinen Schrecken waren ganz nahe und ganz konkret. Die Hitze, der Hunger, ein Tier, eine dubiose Begegnung. Die Bilder der Fahrt schossen durch einen Halbschlaf mit der Geschwindigkeit eines Videoclips." In dieser Zone, so stellt der Autor fest, gibt es zwei Weltuntergangsprophetien, nicht nur eine. Die apokalyptische aus der unheimlichen Offenbarung des Johannes - aber auch die mystische von Tarkowskij, bei dem die Apokalypse schon vorbei war, "weil sie sowieso da war."

In einem Kulturzentrum in Vitebsk schaut er eher zufällig auf einen Fernseher und sieht, wie zwei Flugzeuge in ein Hochhaus rasen und darin explodieren. Durch die Wiederholungen der immergleichen Szenen, die der russische Sender überträgt, kann er, der seit Wochen keine Nachrichten und keine Zeitungen gesehen hatte, nur langsam verstehen, was auf der anderen Seite der Welt geschehen ist.

Wie geht der Fußmarsch aus: In Moskau gönnt sich der erschöpfte Wanderer zuerst ein luxuriöses Hotel am Roten Platz mit großem Zimmer, großem Bett, großem Bad und heißem Wasser. Und er erlebt einiges Kuriose, bevor er sich am letzten Tag doch noch einen tiefen Wunsch erfüllt und das Haus von Boris Pasternak besichtigt und dabei den Spuren seiner eigenen Jugend folgt. Er hatte das Haus zuvor, kurz vor Betreten der Stadt, links liegenlassen - die Tschechov'schen Stimmen waren zu dem Zeitpunkt wohl stärker gewesen: "Nach Moskau! Nach Moskau!".

Titelbild

Wolfgang Büscher: Berlin - Moskau. Eine Reise zu Fuß.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2003.
240 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3498006312

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