Zwischen Rechtfertigung und Mythos

Thomas Medicus' "In den Augen meines Großvaters" - Versuch einer Porträtierung

Von Evelyne von BeymeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Evelyne von Beyme

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es war eines von vielen Schwarz-weiß-Fotos in einer menschenleeren Idylle, die Medicus dazu veranlassten, den halb verblassten Spuren seines Großvaters, des einstigen Generalmajors Wilhelm Crisolli, zu folgen, der 1944 an den Folgen eines Partisanenüberfalls im Appenin starb.

Wilhelm Crisolli, um die Jahrhundertwende geboren, hatte seine Militärkarriere in der Preußischen Armee als Kavallerist begonnen und sich hoch in den Rang des Offiziers emporgearbeitet. Wie für viele andere auch, bot ihm, der aus einfachem bürgerlichem Hause stammte, das Militär die Möglichkeit des gesellschaftlichen Aufstiegs. Über die rapiden Wechsel der Staatsformen - von der Monarchie über die Republik bis zur Diktatur unter den Nationalsozialisten - blieb Wilhelm Crisolli dem Militär treu, das außer den vielen Namensänderungen (von 'Preußische Armee' in 'Reichswehr' und 'Wehrmacht') nicht nur eine Prestigeeinbuße mit sich brachte, sondern auch ein Abweichen von den traditionellen militärischen Grundsätzen bedeutete und sich mit den Vorstellungen von einem heroischen und zugleich gerechten Krieg kaum noch vereinen ließ.

Für die Generationen im Nachkriegsdeutschland, die einen Patriotismus nie gekannt hatten, und für die ein Ansehen, gegründet auf Kriege, nicht in Frage kam, war dieser einstige stolze Dienst für das Vaterland durch die nationalsozialistische Vergangenheit nur noch ein Dienst als Mörder für einen Diktator und seine fanatischen Interessen.

Gerade diese sich nach und nach einschleichenden fanatischen Grundsätze waren für die Patrioten nicht sogleich wahrnehmbar, und wenn doch, so stellte es die Ehrbaren vor die Wahl zwischen Vaterlandsverrat und treuer Ergebenheit. Der Gewissenskonflikt wurde in der Nachkriegszeit zum Vorwurf gegen Hitlers Mitläufer erhoben, oft aber wurde hierbei aus der Perspektive der Gegenwart gerichtet, ohne dabei, um mit Jakob Burckhardts Worten zu sprechen, "das Dunkel der Zukunft in den Schicksalen der Einzelnen und des Ganzen" aus dem Blickwinkel der einstigen Zeitgenossen zu betrachten. Eben diese Vorwürfe konturieren auch die Anfänge von Medicus' Bild über seinen Großvater und dessen nationalsozialistischer Vergangenheit:

"Ich war fixiert auf den Hitlergruß, den Führerkranz und die Hakenkreuzfahne. Aber den Mann, der unter der Fahne in dem Sarg lag, diesen Mann sah ich nicht. [...]. Das von einer Fülle nationalsozialistischer Symbole und Embleme umstandene Schauspiel der Beerdigung, das allein fünfundzwanzig Fotos zeigten, war mir zu obszön gewesen."

Auf den Spuren von Wilhelm Crisolli in Italien, wo er die letzten Monate seines Lebens verbrachte, eröffnet sich Medicus ein neues, nachsichtigeres Bild von seinem Großvater, das sich im Verlaufe der Darstellung in einen weiter gespannten Rahmen einfügt, der über die Zeit des Nationalsozialismus hinausreicht. Erst jetzt wird dem Schicksal des Einzelnen und seiner Vergangenheit Geltung verschafft, erst jetzt seiner Perspektive auf die damaligen Ereignisse ein Platz eingeräumt.

Die Gespräche mit ausfindig gemachten Zeitzeugen sind wie Steine eines Mosaiks, die nicht nur den Generalmajor der Reichsmacht zeigen, sondern auch den privaten Crisolli vor und während der beiden Kriege porträtieren, der durch die bearbeiteten Briefe und die Nachforschungen in deutschen und amerikanischen Archiven an Plastizität gewinnt. Gewisse Unklarheiten um die Person des Großvaters und sein Handeln überzieht der Kriegsmythos in den Bildern mancher einstiger Zeitgenossen. Die akribische Darstellung gewinnt an Lebendigkeit, indem sie die biographischen Normen durch den Einbau fiktiver Dialoge überschreitet, die nun nicht mehr aus der Sicht des Enkels die Ereignisse wiedergeben, sondern - wie der Titel schon sagt - aus den Augen seines Großvaters.

Der Einbau von Fiktionalität schwingt in der anachronischen Darstellungsweise positiv mit. Mitunter verfängt sich der Autor jedoch in seinem Übereifer im Wechsel der Erzählperspektiven, die sich durch ihre inhaltliche und formale Unabgeschlossenheit als derbe Einschnitte auf die narrative Gestaltung auswirken.

Thomas Medicus, 1953 in Mittelfranken geboren, arbeitete nach dem Studium der Germanistik mehrere Jahre als freier Journalist, später als Sachbuch-Redakteur beim "Tages Spiegel" und als stellvertretender Feuilletonchef bei der "Frankfurter Rundschau". "In den Augen meines Großvaters" lässt sich nicht nur als literarisches, sondern auch als historisches Werk lesen, das den Krieg als militärische Sache und als persönlich erfahrbares Schicksal in deduktiv-induktivem Wechsel bearbeitet, ohne dabei die Geschichte als Ganzes durch ein intrasubjektives Bild zu deformieren.

Titelbild

Thomas Medicus: In den Augen meines Großvaters.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2004.
262 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3421055777

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