Euroland im tiefen Nebel
Dirk Kurbjuweits Roman "Nachbeben
Von Peter Mohr
200 Tage im Jahr gibt es im Taunus Nebel. "Wenn wir aufwachen, zumal in der Düsternis eines frühen Nebels, ist uns oft nicht klar, wo wir gelandet sind, bei den Lebenden wieder oder im Reich der Toten", beschreibt der über 80-jährige Luis sein Ambiente. Klare Sicht ist hingegen in Lorenz' Lebensraum gefragt. Als Banker benötigt er ebenfalls ein seismologisches Gespür für Verschiebungen. Lorenz hat als Sohn des Verwalterehepaares Kühnholz, das die Erdbebenwarte am Feldberg betreibt, ein inniges Verhältnis zum doppelt so alten Erdbebenforscher Luis entwickelt.
Durch ein Erdbeben hat er sogar seine Ehefrau Selma kennen gelernt. Sie rief verängstigt in der Station an, Lorenz verliebte sich in ihre Stimme und lag noch am gleichen Abend in ihrem Bett. Dieses Arrangement der "glücksbringenden Katastrophe" mutet ein wenig wie Brechstangensymbolik an.
Die Geschichte der beiden Protagonisten Luis und Lorenz liest sich herrlich spannend, aber dennoch fühlt man sich vom Autor allzu stark durch die Handlung gehetzt. Die klare Komposition, die Kurbjuweits Novelle "Zweier ohne" auszeichnete, ist einem ausschweifenden Erzählstrom mit vielen Handlungsschlenkern gewichen.
Luis ist ein pensionierter Seismologe, der auf der Erdbebenwarte auf dem Kleinen Feldberg im Taunus alle Ausschläge mit buchhalterischer Akkuratesse aufzeichnet. Er hat immer davon geträumt, Erdbeben voraus sagen zu können und damit Menschenleben zu retten.
Während Luis wie ein Eremit in seiner Station hockt, geht es mit Lorenz kurvenreich auf und ab. Als vehementer Euro-Gegner verirrt er sich im Nebel der Währungsunion, auch seine Ehe bekommt einen Knacks, er macht Schulden, verkauft sein Insiderwissen an eine Fondsgesellschaft und stürzt ganz tief ab. Es ist mehr als ein "Nachbeben", das Lorenz' Leben erschüttert. Auf einer Geschäftsreise in Albanien überfährt er einen kleinen Jungen und sieht sich darauf hin Rachefeldzügen ausgesetzt.
Für einen Roman von etwas mehr als 200 Seiten ist das reichlich Stoff, zumal uns Kurbjuweit auch noch bei einem seiner epischen Schlenker mit den aus seinem Sachbuch "Unser effzientes Leben" gewonnenen Erkenntnissen aus der Welt der Wirtschaft vertraut macht.
Journalistische Lorbeerkränze sind Dirk Kurbjuweit schon geflochten worden. Zweimal erhielt der 42-jährige "Spiegel"-Reporter bereits den Egon-Erwin-Kisch-Preis. Mit seinem Roman "Schussangst" (1998) und der Novelle "Zweier ohne" (2001) hat er überdies mehr als beachtliche literarische Talentproben vorgelegt. Mit seinem vierten literarischen Werk will Kurbjuweit nun ganz hoch hinaus. Er strebt eine allegorische Verquickung von Naturkatastrophen und privaten Schicksalsschlägen an, breitet eine erzählerische Einführung in die "Währungsgeschichte" aus und verleiht seinem Roman überdies noch mysteriöse, leicht thrillerhafte Züge.
Am Ende gibt es noch zwei Tote in der Einöde des Kleinen Feldbergs, und zuvor nur diffus im Nebel erkennbare biografische Parallelen erhalten klarere Konturen. "Nachbeben" handelt nicht nur von den leichten Verschiebungen der Erdkruste, sondern auch von biografischen Zäsuren und ökonomischen Einschnitten. Alles bebt, alles schwebt, alles befindet sich (manchmal etwas zu symbolisch geraten) durch unterschiedliche Impulse in einem eruptiven Zustand. Nur der alte Luis verharrt wie ein erratisches Monument in seiner Erdbebenstation.
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