Rebellin und Mode-Ikone der 20er Jahre

Julia Drosts "La Garçonne. Wandlungen einer literarischen Figur"

Von Stefanie HartmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Hartmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Deutschland ist sie kaum bekannt: die Figur der Garçonne. Was daran liegen mag, dass der erfolgreiche Roman Victor Marguerittes gleichen Titels in der deutschen Übersetzung den Namen "Die Aussteigerin" trug. Trug, weil das Buch 1993 das letzte Mal bei Suhrkamp erschien und seitdem nur noch antiquarisch erhältlich ist.

Der einen androgynen Frauentyp bezeichnende Begriff Garçonne tauchte 1892 erstmals in den Schriften des Schriftstellers Joris Karl Husymans auf und machte insbesondere durch Marguerittes Roman von 1922 Karriere, wobei sich die Assoziationen, die sich mit diesem Frauentyp verbinden, schnell wandelten. Marguerittes Protagonistin verkörpert den modernen, emanzipierten Frauentypus der Nachkriegszeit und hat - so Julia Drost in der vorliegenden Überarbeitung ihrer Dissertation "La Garçonne. Wandlungen einer literarischen Figur" - einiges gemeinsam mit den verstörten Kriegsveteranen, die sich aufgrund ihres persönlichen Schocks mit Sex und Drogen betäuben. Diese Phase durchlebt Monique Lerbier alias Garçonne, nachdem sie den konventionell-konservativen Familienverhältnissen und deren Ehevorstellungen, ermuntert durch ihre progressive Tante, hinter sich gelassen und sich in Affären, insbesondere homosexueller Art, stürzt. Dieser Lebensabschnitt wird durch ihr androgynes Äußeres versinnbildlicht: die kurzen Haare, die schlichte, männliche Kleidung. Ein Erscheinungsbild, das den Zeitgenossen durchaus vertraut war. Zudem war in der Pariser Gesellschaft der Name "Garçonne" bereits vor Erscheinen des Romans Synonym für die lesbische Frau und dabei eine der weniger pejorativen Bezeichnungen. Doch durch die Bekanntschaft mit zwei Männern, die bereit sind, sie als ebenbürtig zu betrachten, kommt es zur Wandlung. Garçonne geht mit einem von beiden eine Beziehung ein, die auf Gleichberechtigung beruht, lässt aber zum Zeichen ihrer Weiblichkeit (wie der Geliebte es wünscht) ihre Haare wieder wachsen. Victor Margueritte, der zuvor lange mit seinem Bruder Paul zusammen publizierte und dies stets mit einem politischen Anliegen, verficht hier emanzipatorische Interessen. Nichtsdestotrotz lässt er weibliche Homosexualität nicht als alternative Lebensform gelten.

Literarisch wird dem Roman wenig Bedeutung zugemessen, dennoch war die Debatte bei seinem Erscheinen immens. Frauenrechtlerinnen stritten, ob der Roman ihren Interessen mehr schade oder nutze; die oft recht deutlich beschriebenen sexuellen Ausschweifungen wurden als Pornographie angegriffen und Margueritte wurde beschuldigt, es gehe ihm nicht um Sozialkritik, sondern um Steigerung der Auflagenzahlen. (Dieser Verdacht wurde bestärkt, als Margueritte in den folgenden Jahren zwei weitere Romane folgen ließ, die er mit "Garçonne" zur Trilogie verband.) Und die Konservativen fürchteten nun den völligen Verfall der Sitten. So kam es, dass eine Verfilmung von 1923 in Frankreich nicht in die Kinos kam, aber in Belgien und Deutschland mit großem Erfolg lief, was wiederum die Kritiker in Frankreich darin bestärkte, in der Vorlage antifranzösische Propaganda zu wittern.

Während also auf der inhaltlichen Ebene scharfe Kritik geübt wurde, machte die Garçonne in der Modewelt weiter Karriere. Bereits durch die der zeitgenössischen Modegrafik angenäherten Illustrationen von Kees van Dongen (1925) weitgehend von ihrem emazipatorischen Anspruch befreit, wurde sie zum Sinnbild der modischen Frau mit "cheveux á la garçonne" (Bubikopf) und korsettfreier Kleidung, entworfen von Designern wie Paul Poiret und Coco Chanel. Die Garçonne steht für Konsum, Erfolg, Mobilität, davon zeugen auch die Werbegrafiken, die eine Frau mit Kurzhaarfrisur am Steuer eines Autos zeigen.

Wie sich dieser Wandel von der "Rebellin" zur Mode-Ikone vollzog, zeichnet Julia Drost anhand zahlreicher literarischer Beispiele nach, bindet aber auch Disziplinen wie Film, Theater und Kunst als Inszenierungsräume mit ein und vergisst nie, den dargestellten Frauentypus in die historische Situation einzuordnen und damit die Garçonne als typisches Nachkriegsprodukt zu definieren. Dies mag der Grund für den kurzen Erfolg des Margueritte-Romans sein. Wo die Garçonne nach den 20er Jahren rezipiert wurde, lässt die Dissertation von Drost offen, und dies könnte diese Arbeit auch gar nicht leisten. Dennoch wäre es eine interessante Fragestellung, die dem heutigen Leser eine erneute Romanlektüre interessant machen könnte. So bietet die Veröffentlichung dieser Arbeit eine gute Gelegenheit, "Die Aussteigerin" (diesmal vielleicht unter dem authentischen Titel) neu aufzulegen.

Titelbild

Julia Drost: La Garconne. Wandlungen einer literarischen Figur.
Wallstein Verlag, Göttingen 2003.
312 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-10: 3892446814

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