Maßlose Poesie

Ana Miranda portraitiert Clarice Lispector

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Person, die sich Ana Miranda als Clarice Lispector imaginiert, ist mir sofort unsympathisch. Der Typ Frau, der sich durch unmäßigen Kaffee- und Zigarettengenuß selbst zerstört, der die Kippen über die Balkonbrüstung schnippt - und dem Nachbarn die Asche aufs Frühstück. Ähnlich wie Ingeborg Bachmann ist sie über einer glimmenden Zigarette eingeschlafen und im eigenen Bett fast verbrannt. Ihre Hand ist voller Narben, ein Bein ist entstellt, weil dort Gewebe für die verletzte Haut entnommen wurde.

Clarice Lispector, eine der bedeutendsten Erzählerinnen Brasiliens (1925 - 1977), wird von Ana Miranda als Heilige Mutter Gottes imaginiert, als "Wolke Clarice Lispector", als "Frau von flammend weiblicher Natur". Ihr Hund heißt Ulisses. In Brasilien ist sie eine Fremde. Sie sagen: "Sie hat einen merkwürdigen Akzent. Portugiesisch hat sie nie richtig gelernt." Sie ist "die Russin", geboren in der Ukraine. Ist sie überhaupt eine "normale Frau"? "Sie ist maßlose Poesie."

In kurzen Prosavignetten verstößt Ana Miranda (geboren 1951) gegen das Gebot: "Du sollst Dir kein Bildnis machen". Ihr Bildnis besteht aus vielen Facetten: die spröde, eigenwillige, unsichere, einsame Frau, die geheimnisvolle, verehrte, bewunderte, die verkitschte Ikone. Ana Mirandas Buch ist ein Mißverständnis. Ein Zwiegespräch zweier Schriftstellerinnen möchte es sein, Anmaßung ist es geworden.

Titelbild

Ana Miranda: Clarice Lispector. Der Schatz meiner Stadt. Aus dem Brasilianischen von Maria Ninguém.
Sans Soleil Edition, Bonn 1999.
94 Seiten, 12,70 EUR.
ISBN-10: 388030033X

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