Eingeschränkte Verdunklungsgefahr

Antje Rávic Strubels brillanter Roman "Tupolew 134"

Von Oliver GeorgiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Georgi

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Berlin im Sommer 1978. Nur ein knappes Jahr nach dem spektakulären Kapern der "Landshut" durch ein palästinensisches Kommando wird erneut ein Flugzeug entführt. Diesmal jedoch von DDR-Bürgern, die eine Maschine auf dem Weg von Danzig nach Berlin-Schönefeld in einer Übersprungshandlung zur Landung in West-Berlin zwingen.

Antje Rávic Strubel hat diese reale Flugzeugentführung zum Anlass für ihren neuen Roman "Tupolew 134" genommen, um das deutsch-deutsche Verhältnis tief im Kalten Krieg und das Scheitern einer Utopie zu beschreiben, deren Hoffnungslosigkeit normale Menschen zum Äußersten treibt. Doch das historisch Verbürgte bietet nur die Folie für eine Handlung, die die junge Autorin nach eigenem Gutdünken ergänzt. Sie erzählt die Geschichte der jungen Katja Siems, die in einem LKW-Kombinat arbeitet und, mehr und mehr desillusioniert von leeren Versprechungen des Systems, den Westdeutschen Meerkopf kennen lernt. Beide werden ein Paar, und Meerkopf verspricht Katja und deren Kollegen Lutz Schaper, sie mit falschen Pässen über die Ostsee in den Westen zu schleusen. Doch zur verabredeten Zeit ist Meerkopf nicht am Treffpunkt in Danzig, und Katja und Lutz fliegen mit dem Flugzeug zurück nach Berlin ...

Strubel knüpft die Romanhandlung ambitioniert an drei Erzählsträngen auf, die die Vorgeschichte, die Tage von Entführung und Gerichtsverhandlung sowie die Erinnerungsarbeit 25 Jahre später schildern. Dabei ordnet sie die verschiedenen Ebenen auch raumbildlich übereinander an - "ganz unten", "unten", "oben". Einen "Schacht" nennt sie diese Installation denn auch ganz programmatisch. Auf und zwischen diesen verschiedenen Erzählplateaus, die nach unten hin immer "dunkler", also undurchsichtiger werden, springt der Text hin und her, wechselt abrupt von den Kindheitstagen Katjas zum Verhör durch die alliierten Amerikaner nach der gescheiterten Entführung auf dem Rollfeld in Berlin. Im wortwörtlichen Sinne soll der Leser so in den Schacht aus verschiedenen Zeitebenen und Gedankenfragmenten hinabsteigen, um sich aus dem entstehenden Mosaik ein eigenes Bild zu machen. Erinnerungsarbeit ist das, was Strubel hier auf faszinierende Weise betreibt, Erinnerungsarbeit, die nicht chronologisch funktioniert wie im klassischen Drama, sondern chaotisch und ungeordnet wie in unser aller Köpfe. Jede Wahrheit ist bei Strubel relativ, und das eigene Leben "nie vollständig auslotbar, wie die dunkle Tiefe eines Schachts".

"Tupolew 134" ist ein außergewöhnlicher Roman, der auf formal bestechende Weise einen Ausschnitt der jüngsten Geschichte beider deutscher Staaten behandelt. Dass die jeweiligen Motivationen der Protagonisten trotz "irrlichternder Erzählerin" auf verschiedenen Raumplateaus bis auf die phantomhafte Figur Meerkopfs nur wenig im Schacht verborgen bleiben, mag hinter solchem Einfallsreichtum zurücktreten. Hinter einer blendenden Form steht so eine beachtliche Aufarbeitung gegensätzlicher Ideologien, falscher Hoffnungen, verratener Liebe zwischen den Systemen und politischem Kalkül in einer Zeit, in der sich niemand vorstellen konnte, dass die Mauer irgendwann fallen würde. Kann Schuld definiert werden in einem Verhältnis zweier deutscher Staaten, die auf entgegengesetzten Wertvorstellungen fußen? Ist eine, wenn auch gewaltsam herbeigeführte, Flucht aus einem Unrechtsstaat in die BRD legitim, juristische Milde also angebracht? Bei Strubel verschwimmen all diese Konturen - weil es Antworten kaum geben kann. "Keine Wahrheit", heißt es am Ende. Hoch, runter, ganz runter. Was sonst."

Titelbild

Antje Rávic Strubel: Tupolew 134. Roman.
Verlag C.H.Beck, München 2004.
319 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3406521835

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