Im Rausch totaler Intimität
Tim Parks packt Liebe und Politik bei den Hörnern
Von Ulla Biernat
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWenn ein Mann seine Plattensammlung komplett austauscht, sich "eine neue Brieftasche, einen neuen Aktenkoffer, einen neuen Mantel" kauft, kann dahinter eigentlich nur eine Frau stecken. Daran kann nur "sie" schuld sein. "Sie" gibt ihm ein neues Gefühl der Stärke und Jugend; ihr "vergnügungssüchtiger Sperrstundenblick", ihre "Tussi-Takelage" aus Reizwäsche und eleganten Kleidern verführen ihn dazu, zwanzig Jahre Ehe wegzuwerfen zugunsten einer Affäre, die ihn zwischen sado-masochistischen Qualen und religiöser Extase taumeln läßt.
"Sie" ist der Grund, warum der Fremdsprachenlektor Jerry Marlow diese Busreise von Mailand nach Straßburg macht, um dem Europäischen Parlament eine Petition zu übergeben. Der 45jährige ist Englischlektor an der Universität Mailand, und die Petition soll ihm und seinen Kollegen, "einem zusammengewürfelten Haufen nutzloser Ausländer", den Job auf Jahre hinaus sichern. Für Jerry ist nicht nur diese "heuchlerische Pilgerreise durch Europa" ein hirnrissiges Unterfangen - er hat auch seinen Beruf satt und seine Abhängigkeit von "ihr". Denn "sie" ist der größte Fehler seines Lebens, den er sofort wieder machen würde. Aber "sie" will nichts mehr von ihm wissen.
So nutzt Jerry die Reise, um sich Wut und Frust angesichts seines verbockten Lebens von der Seele zu denken - und einmal in Fahrt, ist dieser englische Grantler nicht mehr zu bremsen. "Schluß mit der Heuchelei!" ist sein Motto. Der Mythos der ewigen Liebe wird genauso abqualifiziert wie der erhebende Gedanke an eine Gemeinschaft aller europäischen Völker. Wenn schon "sie", eine Französin, und er, ein Brite, nur in einer amour fou zusammenfinden können, wie sollen sich Millionen von Menschen über ein politisches Ideal einigen, dessen Voraussetzung bedingungslose Selbstverleugnung ist?
In seinem achten Roman hat der britische Schriftsteller und Übersetzer Tim Parks (*1954) seine Technik perfektioniert, den Leser in den Kopf seines Protagonisten einzusperren und ihn durch ein Labyrinth von Assoziationen und Erinnerungen zu jagen. "Europa" ist ein Roman, der am Rande des Wahnsinns balanciert: Jerry leidet an "Gedankenverstopfung", seine vertrackten Satzschlangen winden sich unaufhörlich dem Leser in den Kopf. Mit psychologischer Genauigkeit beschreibt Parks den "Rausch totaler Intimität", den Jerry mit "ihr" erlebt und den er als geheime Sehnsucht aller Europa-Begeisterten fürchtet. Neurotische Liebe und realitätsferne Politik werden aufeinander bezogen: "Die Lira ist heute gegenüber der Deutschen Mark um fünfzig Punkte gefallen. Ich möchte wissen, welches leidenschaftliche Liebesspiel das rückgängig machen kann."
Nach dem Rausch bleiben nur ernüchternde "Wasserworte", Phrasen, konventionelles Gedankengut in Floskeln, die Vertrautheit vortäuschen, wo nur Fremdheit ist. Das trifft auf die Politik und die Liebe gleichermaßen zu. Trotz seines ununterbrochenen Selbstbespiegelungsmonologs wird man auch aus Jerry nicht so richtig schlau: Er gebärdet sich abwechselnd entnervt, "herrlich gockelhaft", melancholisch, desillusioniert, romantisch, zynisch, aber nie naiv: "Ich bin entsetzt, daß ich andauernd entsetzt bin." Parks hat mit dieser Mischung aus Philip Marlowe, Jerry Lewis und Christopher Marlowes "Doktor Faustus" das nuancierte Porträt einer Ver-rückten geschaffen, dessen Achterbahn-Fahrt durch die eigene Identität ihm fast den Kopf platzen läßt.
Dagegen fallen alle anderen Figuren ab: Vor Jerrys ungnädigem Misanthropen-Blick können weder seine Ehefrau noch seine Tochter bestehen - "diese Personen" seien "nicht besonders intelligent" - und seine deutschen, walisischen und griechischen Kollegen kommen als Karikaturen daher. Mit Esprit bedient und zerstört der Autor Geschlechter-Stereotypen und Klischees vom Nationalcharakter. In den politisch völlig unkorrekten "Chauvi-Schwätzchen" zwischen Jerry und seinem Landsmann Colin werden - ganz gentleman-like - nie Namen genannt: die besprochenen Damen laufen unter Bezeichnungen wie "Opern-Tussi", "Gipsbein-Tussi" und "Striptease-Tussi". Parks erzeugt eine grimmige und unpersönliche Atmosphäre, die es dem Leser stellenweise erlaubt, auf Distanz zu Jerrys unvorhersehbaren Gedanken-Salti zu gehen. Die Namen seiner Ehefrau erfahren wir nie, den seiner Tochter spät und "ihren" Namen erst im letzten Satz.
"Europa" läßt den Leser erschöpft zurück. Es ist erst ein Drittel des Romans gelesen, als die "Bumskutsche" in Straßburg ankommt, und Studentinnen und Lektoren in einem billigen Hotel absteigen. Was folgt, ist ein weiteres literarisches Gruppen-Experiment von Tim Parks, der seine sozial-psychologischen Studien gerne mit großen moralischen Fragen verbindet. Jerry erkennt seine Selbst-Entfremdung als inneren Riß in seiner konstruierten Identität. Europa und die Liebe erscheinen als kollektive Träume, deren Aussichtslosigkeit sie aber noch nicht disqualifiziert. Der walisische Kollege erhängt sich, im Roman breitet sich sanfte Resignation aus: "Unsere Koseworte gehen immer daneben." Tim Parks wollte das menschliche Grundübel wohl gar nicht beschönigen, das er an Jerry Marlow darstellt: "Ich bin weder leichtfertig, noch zynisch. Ich bin verloren." Unzufriedenheit ist charakteristisch für uns Menschen, aber zum Schluß darf auch Jerry lachen, auf eine neue Liebe hoffen - und wenigstens ein Geheimnis des Romans lüften: "Ich lache. Es ist ein wunderbares Gefühl, allein an einem öffentlichen Ort laut zu lachen. Hoffentlich heißt sie nicht Christine. Nicht noch einmal Christine."
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