Grenzüberschreitungen

Monika Ficks "Lessing-Handbuch" in der zweiten, durchgesehenen und ergänzten Auflage

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lessing, der Reformator der deutschen Literatur, der scharfsinnige Theoretiker und Programmatiker eines bürgerlichen Trauerspiels, der Befreier vom französischen Regeljoch, der erste Literaturkritiker seiner Zeit, der unermüdliche Streiter für die Wahrheit, der unerbittliche Gegner religiöser Intoleranz - und wie die Schlagwörter und Etiketten auch alle lauten mögen, die Lessing im Laufe der Rezeptionsgeschichte angeheftet worden sind. Fest steht vor allem eins: Lessing war ein streitbarer Charakter, der wie kaum ein anderer Zeitgenosse des 18. Jahrhunderts den Habitus des intellektuellen Revolutionärs pflegte. Allenthalben war in den Debatten der literarischen Intelligenz der Revolutionsbegriff gegenwärtig, auch wenn er noch nicht direkt mit dem politischen Umsturz in Verbindung gebracht wurde. Die Kritik sucht im 18. Jahrhundert und vor allem bei ihrem prominentesten Vertreter als Kunst des Unterscheidens nach neuer Klarheit und erleuchteten Wegen und ist letztlich doch nichts anderes als ein Produkt der Krise. Bedenkt man allein die Wortbildung, so sind "Kritik" und "Krise" kaum zu unterscheiden, schreiben sie sich doch beide vom griechischen Verb krinein her, dessen Grundbedeutung "trennen, absondern" lautet und auf die Destruktion einer organischen oder anderswie beschaffenen Einheit zielt. Kritik und Krise sind also als irritierende Supplemente des aufklärerischen Optimismus zu begreifen. Der kritische Diskurs erhält auf diese Weise eine gedankliche und sprachliche Offenheit, die durch Lebendigkeit und Problemfülle besticht. Es sind dies Eigenschaften, die Lessing auf wohltuende Weise von den geschlosseneren und auf Systematik ausgerichteten Dichtungslehren früherer Autoren unterscheidet und ihn zu einem Vorläufer der Aufklärungskritik im 20. Jahrhundert bei Benjamin, Adorno, Horkheimer und Foucault macht. Und dennoch bleiben diese Kritiken nicht nur an zufälligen Textfunden und partikularen Lesarten haften. Sie können mit Recht auch als dichtungstheoretische Versuche gelesen werden.

Damit sei Peter J. Brenners pointierten Ansichten in seinem Lessing-Buch (Stuttgart 2000) widersprochen, denen zufolge Lessing als Experimentator und Spieler erscheint, als der ewige Unruhige und Unruhestifter, der aus der Lust am Widerspruch heraus gestritten habe; unverbindlich und beliebig seien die von ihm bezogenen Positionen geblieben, oft beruhe seine Rhetorik auf Blendwerk, ein Beispiel für eine beispiellose "Ästhetik der Frechheit". Dem gegenüber bezieht das nun bereits in der zweiten, nahezu unveränderten Auflage vorliegende "Lessing-Handbuch" von Monika Fick (vgl. auch literaturkritik.de 08/2002) Lessings Widersprüche in Anlehnung an Conrad Wiedemann auf epochale Zusammenhänge und akzentuiert das Polemische als einen Grundzug des Zeitalters der Aufklärung, der im Wesentlichen aus der "Aufwertung der Sinnlichkeit" resultiert: "Es gibt kaum einen Gedanken Lessings, für den man keine historischen oder zeitgenössischen Parallelen finden kann, er greift teils anerkannte, teils gewagte Ideen seiner Epoche auf oder knüpft an alte, vergessene Traditionen an. Auf der anderen Seite suggeriert seine Sprache eine Energie, einen Impuls, der über die einzelnen Inhalte hinausschießt und ihnen eine neue Zielrichtung verleiht". Zu Recht verweist Monika Fick in ihrer Einleitung zur zweiten Auflage auf die diesbezüglich zu konstatierenden Grenzverschiebungen in der Re-Lektüre der Texte Lessings. Prominentes Beispiel ist Lessings Drama "Nathan der Weise", das zum einen im Kontext des 11. September 2001 eine Neuakzentuierung erfahren hat, zum anderen als Initialtext für eine dekonstruktivistische und posthermeneutische Transponierung Lessings in die Postmoderne fungiert, wie sie der Verfasser dieser Rezension bereits 1998 und dann Daniel Müller Nielaba in seiner "Nathan"-Analyse versucht hat. Diese Transponierung transgrediert gleichsam die in der theologisch-ästhetischen Forschung zu Lessing angelegte Tendenz, einen "Kern" der Texte frei zu legen und diesen dann jenseits aller bestimmbaren Inhalte nur in den sprachlichen Bildern zu fassen, die eine thematische Fixierung verweigern. Entfällt jedoch die Sinnreferenz des - wie auch immer gearteten - "Religiösen", so bleibt bei Lessing - und ganz ausdrücklich nicht nur im "Nathan" - das unbegrenzte Sprachspiel, bleiben, wie Monika Fick unterstreicht, "die semantischen Verschiebungen mit ihren nicht abschließbaren Sinnproduktionen".

Gerade in dieser Frage nach der Rezeption Lessings für die Postmoderne behaupten die Darstellungen und Analysen des Lessing-Handbuchs ihre Aktualität und Dichte. Sie beleuchten "die Stelle, an der Modelle der Sinnstiftung zusammenprallen mit dem Individuellen, dem Emotionalen und Irrationalen, dem unbefriedigten Wünschen und Sehnen". Dabei steht vor allem die Kontextualisierung und Intertextualität der Texte Lessings im Zentrum, ihr "Zusammenhang mit den zeitgenössischen Denkmuster und Sprechweisen". Angesichts dieses vorzüglich gelungenen, die Lessing-Forschung der nächsten Jahrzehnte zweifelsohne auf solide Fundamente stellenden opus magnum mag man von Defiziten eigentlich nicht sprechen, zumal sie von Monika Fick selbst zugestanden werden, wenn sie konstatiert, dass Kapitel zu Lessings Briefwechseln, zur Rezeption im 19. Jahrhundert und zur Geschichte der Lessing-Inszenierungen fehlen, was in der Tat eher zu vernachlässigen ist. Weniger akzeptabel ist der Umstand, dass ein Bereich jedoch nach wie vor - gerade auch im Hinblick auf die Anlage des Handbuches - nicht die ihm zweifelsohne gebührende Aufmerksamkeit erfährt: die über Jahrzehnte verteilte Produktion der "Collectaneen", der Denk- und Schreibwerkstatt Lessings. Es gibt nur wenige Texte Lessings, in denen sich ein derart typisierendes Porträt der eigenen Arbeits- und Denkweise findet: Seine Art zu lesen und den gelesenen Stoff zu exzerpieren und die mitunter performative Struktur der Notizen, treten dabei in Konjunktion mit einer evidenten Vernarrtheit ins Detail, deren Problematik ihm allerdings stets bewusst ist. Mitunter exzessiv betriebene etymologische Ableitungen, willkürliche Textspekulationen, entlegene Überlieferungsvarianten, gewaltsame Konjekturen und mikrologische Wahrheitssuche machen den fragmentarischen und luziden Charakter der Texte, aber auch die ihnen inhärente Dialogizität aus, die für viele andere, 'komplettere' Texte Lessings paradigmatisch ist. Gerade die (erstmalige) Kommentierung der "Collectaneen" im zehnten Band der von Wilfried Barner herausgegeben Ausgabe der Werke und Briefe Lessings (Frankfurt am Main 2001) sollte verdeutlicht haben, dass es sich hierbei nicht nur um entlegene Gedankensplitter handelt, sondern um ein regelmäßig anwachsendes, mit Bedacht geführtes Schreibprojekt, das als geschlossenes Corpus betrachtet werden muss. Diese bedauerliche Lücke des "Lessing-Handbuchs" sollte die zu erwartende dritte Auflage des Handbuchs unbedingt schließen.

Titelbild

Daniel Müller Nielaba: Die Wendung zum Bessern. Zur Aufklärung der Toleranz in Gotthold Ephraim Lessings "Nathan der Weise".
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2000.
290 Seiten, 33,00 EUR.
ISBN-10: 3826018168

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Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. 2., durchgesehene und ergänzte Auflage.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2004.
524 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-10: 3476018857

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