Das Leben unterm Seziermesser
Zur von Peter Urban zusammengestellten "Cechov Chronik"
Von Michaela Willeke
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Du fragst: was ist das Leben? Das ist, als wollte man fragen: was ist eine Mohrrübe? Eine Mohrrübe ist eine Mohrrübe, mehr ist darüber nicht zu sagen." Diese Worte, die Anton Cechov (1860-1904) drei Monate vor seinem Tod gegenüber seiner Frau Olga Knipper äußerte, fungieren als Motto zu der von Peter Urban zusammengestellten und herausgegebenen "Cechov Chronik" mit Daten zu Leben und Werk dieses bedeutenden und vielleicht mehr denn je aktuellen russischen Autors. In der Tat konnte das Motto nicht treffender gewählt sein, denn in jenem lakonischen Ausspruch spiegelt sich sowohl die unprätentiöse Schlichtheit als auch die zeitdiagnostische und erzählerische Treffsicherheit Cechovs. All die Jahre seines literarischen Schaffens, während derer er zeitgleich als Arzt tätig war, nahm er das Leben seiner Umwelt genau unter die Lupe, um in Zeitungsartikeln, Humoresken und Satiren, in Erzählungen, Novellen, Romanen, Reiseberichten und Theaterstücken nicht nur die soziale und politische Wirklichkeit des damaligen Russland, sondern auch und vor allem die existenzielle Tiefenschicht des Lebens selbst auszuloten und darzustellen. Als Arzt so begabt wie als Autor, gelang es ihm, die Tiefe und Abgründigkeit des alltäglichen Daseins einzufangen und ihm mittels einer so schnörkellosen wie bestechenden Sprache vor dem geistigen Auge seiner Leser Gestalt zu verleihen.
Peter Urban, der sich schon seit Jahren um die osteuropäische und insbesondere russische Literatur verdient macht, hat sich gemeinsam mit dem Züricher Diogenes Verlag auch für die pünktlich zum 100. Todestag (2. Juli 1904) erschienene Ausgabe der Werke Cechovs verantwortlich erklärt und als Übersetzer und Herausgeber so schöne wie solide Bände produziert, die dem deutschsprachigen Leser nahezu alle Arbeiten Cechovs zugänglich machen. Die Fülle verschiedenster Texte, die Cechov in seinem vergleichsweise kurzen Leben geschaffen hat, zeugt von seiner großen Sensibilität und vielseitigen Erfahrung, die den Leser zuweilen denken lässt, der Autor müsse eigentlich schon um die achtzig Jahre alt sein (so z. B. wenn man Cechovs Erzählung "Eine langweilige Geschichte" liest, die er im Alter von 29 Jahren schrieb!). Und so wird man unweigerlich neugierig auf das Leben dieses Autors selbst, weshalb eine "Cechov Chronik" viel verheißt, vor allem, weil es bislang erst eine Biografie zu Cechov gibt.
Die geweckten Erwartungen werden allerdings eher enttäuscht. Die "Cechov Chronik" erweist sich in der Tat hauptsächlich als eine umfassende Zusammenstellung von Daten zu Leben und Werk. In chronologischer und akribisch recherchierter Ordnung reihen sich Informationen zu Cechovs eigenem Werdegang und Lebensalltag, zu seinen Familienmitgliedern, Freunden und Kollegen, seinen Publikationen, Reisen und anderweitigen Beschäftigungen als Arzt und Autor. Eingefügt in diese zumeist tabellarisch aufgelisteten Informationen finden sich außerdem zahlreiche Selbstaussagen und Tagebuchnotizen Cechovs sowie Zitate von Freunden und Kollegen, Pressestimmen und Auszüge aus dem Werk. Diese lockern den spröden Stil zwar auf, von Lesevergnügen kann jedoch kaum die Rede sein.
Man bekommt einen Einblick in die schon früh begonnene Karriere Cechovs als freier Autor und Publizist; man erfährt von den Widrigkeiten des damaligen Alltags; von Cechovs schon früh ausgebrochener Tuberkulose-Erkrankung, die er - obwohl (oder gerade weil) selbst Arzt - lange Jahre verharmlost hat; und man ist erstaunt über den damals in Russland herrschenden Kulturbetrieb, der trotz der sozialen und politischen Spannungen eine enorme Produktivität hervorrief. Auch erfährt man viel über die Ansichten und Einschätzungen Cechovs zur damaligen Gesellschaft. Als Arzt hatte er unmittelbaren Einblick in die Zustände sowohl der ärmeren als auch der durchaus wohlhabenden Gesellschaftsschichten, während er als Schriftsteller die Fähigkeit und Möglichkeit hatte, das Gesehene der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und ihr vor Augen zu führen, dass Freuden und Sorgen, Krankheit und Tod, Angst und Einsamkeit quer zu den unterschiedlichen Schichten verlaufen und jeden in irgendeiner Form betreffen. Ebenso sind die von ihm präzise geschilderten Erlebnisse seiner Reise auf die Sträflingsinsel Sachalin von so bestechender wie bedrückender Aktualität, indem hier die Frage nach dem "Sinn" des Lebens, der Versuch, sich irgendwie mit den Widrigkeiten des Alltags zu arrangieren, und auch die politische Frage nach Bedeutung und Form des Freiheitsentzugs in ganz eigentümlicher Brechung zutage treten.
Neben derlei Auszügen aus dem Werk schlagen aber vor allem die aus Notizen und Briefen angeführten selbstreflexiven sowie zeit- und kulturkritischen Aussagen Cechovs den Leser in Bann. Kaum merkt man beim Lesen, dass diese Einschätzungen bereits über hundert Jahre alt sind, spiegelt sich doch in ihnen unsere heutige geistig-kulturelle Situation eigentümlich genau wider. Repräsentativ sei folgender Briefausschnitt aus dem Jahre 1892 erwähnt:
"Schriftsteller, die wir ewig oder einfach gut nennen und die uns betrunken machen, besitzen ein gemeinsames und sehr wichtiges Merkmal: sie kommen von irgendwo her und rufen Sie dorthin, und Sie spüren es nicht mit dem Verstand, sondern mit Ihrem ganzen Wesen, dass sie ein bestimmtes Ziel haben, so wie der Schatten von Hamlets Vater, der nicht ohne Grund erschienen ist und die Geister beunruhigt. Die einen haben, je nach Kaliber, nahe Ziele - die Leibeigenschaft, die Befreiung der Heimat, die Schönheit oder einfach den Vodka, die anderen haben Fernziele - Gott, das Leben nach dem Tode, das Glück der Menschheit usw. Die besten von ihnen sind Realisten und beschreiben das Leben so, wie es ist, auch noch dasjenige Leben, so wie es sein soll, und das fesselt Sie. Wir dagegen? Wir! ... Wir haben weder Nah- noch Fernziele, unser Herz ist wie leergefegt. Wir haben keine Politik, an eine Revolution glauben wir nicht, wir haben keinen Gott, haben keine Angst vor Gespenstern, ich persönlich habe nicht einmal Angst vor dem Tod oder dem Erblinden. Wer nichts will, auf nichts hofft und vor nichts Angst hat, der kann kein Künstler sein. Ob dies eine Krankheit ist oder nicht - es geht nicht um die Bezeichnung, sondern um das Eingeständnis unserer Lage."
Insgesamt verlieren sich solch bestechende Aussagen jedoch leider in der Fülle statistischer Informationen. Wer sich daher als unbedarfter Leser einen Einblick in Cechovs Leben und Werk, sein Denken, seine Zeit- und Kulturkritik erhofft, wird nicht gänzlich enttäuscht, verliert aber doch recht bald die Freude am Weiterlesen. Allzu sehr hat die "Cechov Chronik" den Charakter eines Nachschlagewerks mit vorbildlich angefertigtem und kommentiertem Anhang (Inhalt der ersten Cechov-Gesamtausgabe, Zeitgenössische Übersetzungen 1890-1904, Bibliografie) und Register (Werke, Personen, Zeitschriften, Zeitungen, Verlage). Daher ist die "Cechov Chronik" eher jenen zu empfehlen, die wahre Cechov-Fans sind und sich für jedes Detail interessieren; oder jenen, die sich aus wissenschaftlichem Interesse näher mit dem Leben und Werk Cechovs befassen wollen. Alle anderen sollten sich lieber zunächst den übrigen von Peter Urban im Diogenes Verlag herausgegebenen Bänden zuwenden, um in die literarische Welt Anton Cechovs einzutauchen, in der man sich dem eigenen Leben und der gegenwärtigen Welt nicht selten unerwartet schonungslos konfrontiert sieht. Die Ironie, Ehrlichkeit und Empathie, mit der Cechov als Arzt und Autor das Leben seziermessergenau erfasst hat, ist dabei so bestechend, dass man hier gerne weiterlesen wird.
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