Aha, ein doppelter Boden

Jonathan Coe besichtigt "Das Haus des Schlafes"

Von Ulla BiernatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulla Biernat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Groteske Tempi im elften Kontrapunkt, finden Sie nicht auch?" Mit diesem verführerischen Satz - in knappem Schottisch dahingeworfen- gewinnt der Student Gregory das Herz seiner Kommilitonin Sarah und bald auch die Macht über ihren Schlaf. Ein Jahr später trennt sie sich von ihrem "energischen, aber auch unbeholfenen und unbefriedigenden Liebhaber" und zieht mit der ebenso energischen, lesbischen Veronica zusammen. Während dieser Affäre muß sie sich des schüchternen, aber hartnäckigen Robert erwehren, auch so eine Schlaftablette: Er kann seinen Freund Terry zwar für den verschollenen Film "Latrinendienst" interessieren, nicht aber für den eigenen Liebeskummer.

Der britische Autor Jonathan Coe (*1961) weiß, welcher plot zu einer Geschichte gehört, die Anfang der 80er Jahre in einem kalten und zugigen, verfallenen und viktorianischen Schloß namens Ashdown spielen soll. Die Handlung seines dritten Romans springt zwischen den Ereignissen der Jahre 1983/84 und 1996, zwischen den unterschiedlichen Perspektiven der vier Freunde Gregory, Sarah, Robert und Terry. Während ihrer Studienzeit lernen sie sich im Wohnheim Ashdown kennen und durchleben die üblichen Krisen und Höhepunkte eines Studentenlebens: peinliche Zusammenstöße im Badezimmer, gemütliche Schwätzchen über einer Tasse Tee in der Küche, Besäufnisse, nächtliche Streitereien. Zwölf Jahre später ist Ashdown eine Klinik für Patienten mit Schlafstörungen; und Terrys Rückkehr dient als Vehikel, um die Vergangenheit an das Leben der ausgewachsenen und um einige Ideale ärmeren thirty-somethings anzuschließen.

Terry stößt auf merkwürdige, aber wenig denkwürdige Zufälle vom Typ 'Aha, das Foto paßt ja großartig zu dem Traum, den sein Freund auf Seite Wo-war-das-noch hatte'. Wenn zunächst scheinbar nebensächliche Ereignisse, Menschen und Gegenstände eine neue, überraschende Bedeutung erhalten, ist die Verblüffung nur von kurzer Dauer: Sarahs dominanter Freund Gregory entpuppt sich als tyrannischer Leiter der Schlafklinik; Robert, der sich einmal als Student mit "ungeheurer Befriedigung" die Beine rasiert und sich dabei in den Knöchel schneidet, wird später an dieser Narbe wiedererkannt - obwohl er inzwischen eine Frau geworden ist.

Coe konstruiert den doppelten Boden seiner Geschichte routiniert, ohne ihn jedoch ausreichend mit Bedeutung auszustatten. Mit dem Motiv des Schlafes versucht er, eine Aura des Unheimlichen zu schaffen, um sie dann mit Witz und Bosheit zu unterlaufen. Diese beiden Funktionen überträgt er - gerecht verteilt - seinen Protagonisten Sarah und Terry. Die zerbrechliche Sarah ist Narkoleptikerin - sie schläft in psychischen Streß-Situationen plötzlich ein und kann nicht zwischen ihren Träumen und ihren tatsächlichen Erinnerungen unterscheiden. Sarahs ungewöhnliches Schlafgebaren fasziniert Gregory so sehr, daß er später davon besessen ist, die "Krankheit" Schlaf zu besiegen. "Ich sage Ihnen, warum: Weil man im Schlaf hilflos ist, machtlos. Im Schlaf sind selbst die stärksten Menschen den allerschwächsten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert."

Vorbild für den überspannten Schlaf-Forscher ist der zynische Terry, der seltsamerweise ohne Schlaf auskommt und die so gewonnene Zeit seinem Beruf als Filmkritiker widmen kann. Ausgerechnet dem bissigen Terry zieht Coe die Zähne, indem er ihn langsam wieder zu einem normalen Schlafverhalten zurückfinden und ihn gerührt die große Liebe Roberts für Sarah in ihren ganzen sentimentalen Ausmaßen begreifen läßt. Fazit: "Niemand lügt im Schlaf" - die Wahrheit wird dank freundlicher Ironie des Schicksals siegen.

Das Roman-Personal schwankt zwischen griffiger Typisierung und lauer Charakterstudie; aber vielleicht hat Coe das beabsichtigt, um die Grauzone zwischen Traum und Wirklichkeit auf die vier Hauptfiguren auszudehnen. Doch Coes Stärke liegt nicht in atmosphärischer Stimmigkeit oder der sozialkritischen Analyse der linken Szene in den 80er Jahren, sondern eindeutig in der Karikatur, der Parodie. Köstlich der absurde Krankenbericht von Sarahs Psychotherapeut, der in seiner Begeisterung für Lacan und dessen Sprachspiele des Unbewußten pfeilgerade an Sarahs Narkolepsie vorbeianalysiert: "Die Sprache ist eine Verräterin [...]. Sie ist ein Ingwerplätzchen, das zu lange in den Tee unserer Erwartungen getunkt wird, zerbröselt und sich in nichts auflöst." Und dann ist da noch Terrys Besprechung eines splatter-Films, den er seiner Leserschaft mit den boshaften Worten ans Herz legt: "Der Film ist lustig, er ist rebellisch, er ist ein erfrischender Schwall verbrauchter Luft. Kurz gesagt: ein Spaß für die ganze Familie."

Leider bleibt der Spaß am Roman auf der Strecke, da Coe seine Leser für Schlafkappen hält. Jede Informationslücke wird geschlossen, jedes Detail haarklein erläutert, selbst das zentrale Symbol wird gedeutet: "Der Traum ist sinnlich und intellektuell zugleich; er befördert Terry schwebend, mühelos auf Höhen körperlicher Lust und geistiger Erleuchtung. Nichts von dem, was er tagsüber erlebt, wird je an den Genuß, die Intensität, die Wonne dieses Traums heranreichen. Am Morgen wird er ihn fast völlig vergessen haben." Schade.

Titelbild

Jonathan Coe: Das Haus des Schlafes. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.
Piper Verlag, München 1998.
397 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3492039898

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