Böse Menschen kennen keine Lieder

Lisa Tuckers Debütroman "Song Reader"

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Haben Sie sich schon einmal dabei ertappt, dass sie ein bestimmtes Lied im Supermarkt vor sich hinsummten oder laut beim Hausputz sangen? Haben Sie einen Lieblingssong, der Sie durch ihr Leben begleitet hat? Ja? Und haben Sie sich auch schon einmal gefragt, warum Sie sich gerade dieses Lied ausgesucht haben und kein anderes? Falls Sie auch diese Frage bejahen können, ist "Song Reader" von Lisa Tucker das richtige Buch für Sie.

"Meine Schwester Mary Beth war Songdeuterin", erklärt Leeann. "Das sei so ähnlich wie Handlesen, sagte sie, aber statt der Handlinien benutzte sie Musik, um im Leben der Menschen zu lesen. Deren Musik. Die Songs, die ihnen irgendwann mal wichtig waren. Die sie im Autoradio lauter drehten und dann ein bißchen schneller fuhren. Die sie unter der Dusche sangen und dabei gern dem Klang ihrer eigenen Stimme lauschten. Und natürlich die Songs mit der einen bestimmten Zeile, die niemand sonst traurig fand, sie aber immer zum Weinen brachte."

Die Menschen um Mary Beth halten ihr Talent für eine Gabe oder behaupten sogar, es sei übersinnlich. Die junge Frau bringt ihre Kunden dazu, sich mit alten Erinnerungen auseinander zu setzen und ihre Traumata aufzuarbeiten, und klärt, fast nebenbei, auch deren Beziehungsprobleme, je nachdem, welche Schlüsse Mary Beth aus den von ihr penibel aufgeschriebenen "Charts" von Lieblingssongs zieht: Ein paar Wortumstellungen in "Yesterday" kündigen eine Hochzeit an, ein gesummtes "Hungry Heart" dagegen bedeutet eine Trennung.

Mary Beth gelingt es immer wieder, das Leben ihrer Kunden in geregelte Bahnen zu lenken, vernachlässigt dabei aber ihre eigenen Probleme; sie ist so sehr für andere da, dass sie nie Zeit für sich selbst hat. Schließlich jedoch rät die Songdeuterin einer Kundin zur Konfrontation mit ihrer schmerzhaften Vergangenheit - und ruft damit eine Kette von Ereignissen hervor, die auch Mary Beths eigenes Leben verändert.

"Ein Song löst lebhafte Erinnerungen aus, so wie der Geruch von Kreide die Kindheit wachruft", meint Lisa Tucker - und könnte Recht damit haben. Nach der Lektüre ihres Romans erwischt man sich dabei, genau auf die Lieder zu achten, die einem im Kopf herumschwirren und sich selbst an Deutungen zu probieren. (Aber Vorsicht: Mary Beth warnt ihre Schwester nicht umsonst, sich nicht laienhaft im Songdeuten zu versuchen: "'Mit so etwas darf man nicht herumspielen. Was ist, wenn jemand dir glaubt?'") Die Idee, dass die Liedzeilen, an die sich jemand erinnert, dass die Melodien, die er nicht mehr loswird, Aussagen über ihn ermöglichen, ist zwar nicht neu, wird aber zumindest auf so originelle und charmante Art erzählt, dass sie allein einen Roman tragen könnte.

"Song Reader" offenbart darüber hinaus auch eine Familiengeschichte, beschreibt, wie zwei Schwestern sich entfremden und wieder zusammenwachsen, erzählt eine Liebesgeschichte und die Geschichte eines Geheimnisses, das Mary Beth lange hütet und das erst am Ende des Buchs ans Licht kommt - nichts davon ist besonders neuartig, auch nicht, dass der Roman das Erwachsenwerden von Leeann schildert, aus deren Perspektive erzählt wird.

In dieser Perspektive oder vielmehr in der Person der Erzählerin jedoch liegt das Besondere und Einzigartige des Buches: Die Autorin behauptet, dass Leeann während des Schreibens mit ihr gesprochen habe, dass sie ihr folgen und sehen musste, was das Mädchen ihr als nächstes zeigen würde - und der Leser ist geneigt, ihr zu glauben, erhält Mary Beths Schwester doch eine ihr ganz eigene, vollkommen authentisch wirkende Stimme. Im Roman wechseln humorvolle mit berührenden, beinahe kitschigen und traurigen Szenen ab - ganz, wie die Emotionen eines Teenagers sich rasend schnell ändern. Dennoch verliert der Text nie eine gewisse Leichtigkeit und Unbeschwertheit, die sich auch auf den Leser überträgt.

"Song Reader" ist ein liebenswertes Buch - beinahe möchte man es als 'nett' bezeichnen, wenn dies nicht so nichtssagend und abwertend klänge. Ein unbekümmert erzählter Debütroman, dem man die Freude der Autorin am Schreiben anmerkt.

Titelbild

Lisa Tucker: Song Reader. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Susanne Aeckerle.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
329 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-10: 3821857404

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