Ein Mittagessen mit La Mettrie

Kleine Flaschenpost an Martin Walser

Von Ursula Pia JauchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Pia Jauch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lieber Martin Walser, lieber Gottlieb Zürn, lieber Wendelin Krall,

erlauben Sie mir, dass ich nach längerer Funkstille ein paar Zeilen an Sie richte. Einer von Ihnen dreien wird sich sicher erinnern: Es war im Frühherbst 1996, ein Mittagessen auf dem Schlösschen Ottoberg, mitten im Thurgauischen Apfelland gelegen, um die zwanzig Luftlinienkilometer südlich vom Überlingersee. Wir waren eine fröhliche Tafelrunde von einem Dutzend Menschen, und der Zufall - von dem La Mettrie sagt, dass wir nur seine geheimen Gesetzmäßigkeiten noch nicht kennen - hatte uns nebeneinander gesetzt. Leuchtendes Asterngelb auf den Tischen (für Sonnenblumen war's schon zu spät), Sie waren mein Tischherr, ich saß zu Ihrer Rechten, und übrigens trug ich weder ein geblümtes Kleid noch Schlangenlederschuhe.

Aber sonst gab es viele Passungen. Ich war etwas schüchtern, neben dem berühmten Martin Walser zu sitzen. "Ohne seine Schüchternheit wäre der Schüchterne verloren", so der erste Satz Ihres Bändchens "Über die Schüchternheit". Das freilich konnte ich damals noch nicht gelesen haben, es erschien erst 1999. Trotzdem kamen wir schnell ins Gespräch, in ein gutes und dichtes Gespräch. Ein paar Erinnerungsfetzen aus meiner Kindheit bei einer Tante im zauberhaften Bodman (nicht Langenargen), ein häretischer Scherz über den Deckenspiegel im Birnauer Kirchenschiff, mit dem auch ein katholisches Kind etlichen Unfug treiben konnte: Danach war das Eis gebrochen. Wir sprachen über den Romanisten Victor Klemperer, über sein "LTI", über seine "Tagebücher", die damals gerade wieder erschienen waren. Ich hatte Klemperers Tagebücher für die NZZ besprochen, und natürlich hatte ich das "Prinzip Genauigkeit" gelesen, Ihre kluge und empathische Laudatio auf Victor Klemperer. "Ich kenne keine Mitteilungsart, die uns die Wirklichkeit der NS-Diktatur fassbarer machen kann, als es die Prosa Klemperers tut", schrieben Sie da etwa. (Wie viele von denen, die Sie seit Ihrer Frankfurter Friedenspreisrede mit Verdacht bewerfen, haben diese 50 Seiten wohl gelesen?)

Wir sprachen über Spiel und Anspielung, über Geistesblitz und Ironie, über Bodenseefelchen und Außenseiter, über Prügelknaben, getürkten Messwein und was weiß ich. Dazwischen becherten wir reichlich. Keinen Calvados, aber einen samtenen Rotwein, die Gastgeber hatten Geschmack. Und natürlich sprachen wir über Julien Offray de La Mettrie, den philosophischen Querulanten und Meisterironiker. Seit 1992, seit meiner kalifornischen scholarship, arbeitete ich an meiner Habilitation (nicht Dissertation) über den verfemten "Maschinisten", der so ganz anders war als jene üblen Gerüchte, welche die deutsche Philosophiegeschichte über ihn feilbot. Das alles erzählte ich Ihnen. Auch, dass mein Buch eigentlich fertig war. Die universitären Hürden hatte ich erstaunlicherweise recht intakt hinter mich gebracht. Man ließ den alten Querulanten durch und mich mit ihm.

Vielleicht war es dieser schon etwas herbstliche 19. Oktober 1996, an dem Martin Walser zu Wendelin Krall fand. Vielleicht auch nicht. Vielleicht war es später. Oder sogar sehr viel später. 1998, nach der Paulskirchenrede, oder 2001, an La Mettries 250. Todestag? Wir werden es nie wissen. Der Dichter hat alle Freiheiten der Imagination. Wer ihn hier auf Daten und Fakten, auf echte Verhältnisse und falsche Amouren behaften wollte, der betreibt Erbsenzählerei, und die gehört ins Beichtbrevier, nicht aber in die Literatur. Lieber Martin Walser, es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen getafelt zu haben. Lieber Wendelin Krall, es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen über Ihre pseudonymen Frühschriften gesprochen zu haben. "Alles eins" und "Vor Rousseau war La Mettrie" - sofern Sie noch einen Sonderdruck haben: Senden Sie ihn mir zu.

Gegen vier ist die Tafel im Thurgauischen Ottoberg aufgehoben worden. Wir brachen auf, die einen Richtung schwäbisches Meer, die anderen Richtung Zürich. Im Ottoberger Gästebuch kann man noch heute zwei Einträge lesen: "Durch Freundlichkeit beschämt, aber auch durch Nachbarlichkeit beglückt. Sylvandre." Und, zurückhaltender: "Nach Dichterwort, da soll man schweigen - und danken. Thémire." Was für harmlose Anspielungen, doch welche Knacknüsse für die literarische Kriminalistik. Danach blieben wir, lieber Martin Walser, in einem kleinen Schriftverkehr. Ich sandte Ihnen, 1998, meinen La Mettrie im "Jenseits der Machine", nicht ganz ohne Anspielungen. Und ich erhalte nun, 2004, ihren "Augenblick der Liebe". Auch da mehr als nur eine Anspielung.

Ich muss Ihnen nicht sagen, dass mir Ihr Buch aus verschiedenen Gründen sehr wohl und sehr gut gefällt. Sie haben - neben vielem anderen, was zur Rahmengeschichte des Erzählens gehört - dem so oft missverstandenen und missinterpretierten Philosophen La Mettrie einen späten und schönen Gedenkstein in deutschen Landen gesetzt. Sie haben seine Schriften - nicht nur den "Homme machine" - gelesen, sein "Befreiungsevangelium" zu Kenntnis genommen und etwas davon in die Gegenwart umzusetzen versucht. Davon kann halten, wer und was er will. Was La Mettrie davon gehalten hätte, werden wir nie mit Sicherheit wissen, auch wenn wir die deutschen, französischen und amerikanischen La Mettrie-Forscher noch weitere zweieinhalb Jahrhunderte tagen lassen. Dass der kleine Bretone hingegen ein empfindsames Sensorium gehabt hat für diejenigen, die hoch denken und im Reden und Schreiben auch Einiges riskieren, das müssen wir nicht an den Fingern herzählen. Wie lautet doch einer seiner gern zitierten Sätze: "Was die andern betrifft, die freiwillig Sklaven der Vorurteile sind - ihnen wird es nicht mehr gelingen, die Wahrheit zu erreichen, als den Fröschen zu fliegen."

La Mettrie war allerdings ein enfant terrible der Aufklärung, der junge Lessing hat ihn geschmäht, der alte Diderot musste noch über ihn herfallen. Aber: An La Mettrie (und noch mehr an seiner Rezeptionsgeschichte) können wir exemplarisch begreifen, weshalb unter den Menschen das Missverständnis oftmals verbreiteter ist als das Verstehen und vor allem: das Verstehenwollen. Nicht nur deshalb hat Wendelin Krall in La Mettrie einen Leitstern, haben Sie in La Mettrie einen durch die Zeiten winkenden Leidensgenossen gefunden. Rezeptionsgeschichte hat nicht nur mit Kopf und Kenntnissen, sondern auch mit Empathie zu tun. Für mich jedenfalls ist Wendelin Krall ein La Mettrie-Forscher von Format, und gewiss hat der alte Haudegen aus St. Malo auch an den künftigen Herrn Krall gedacht, als er in der "Art de Jouir" schrieb: "Er verzichtet gern auf die langweiligen Gelehrten, die sich stets nur in Szene setzen wollen."

Grüßen Sie mir Anna, und grüßen Sie mir auch Gottlieb, dem ich ein bisschen zürne, dass er, ein LaMettrist der ersten Stunde, auf den Maschinen-Eros einer Beate Gutbrod so plump hat hereinfallen können. Und übrigens: "Was für ein Geschrei, wenn zwei Geschlechtsteile sich treffen. Welch ein Glück, wenn zwei Köpfe sich finden." Steht das nicht auch, irgendwo, bei La Mettrie?

Jedenfalls nicht bei Pascal. Von Zürich nach Nussdorf grüßt herzlich Ihre

Ursula Pia Jauch

Titelbild

Martin Walser: Der Augenblick der Liebe. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2004.
254 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3498073532

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