Der "Neue Mensch" - eine Obsession des 20. Jahrhunderts

Zwei Ausstellungskataloge aus dem alten Jahr

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Neue Mensch, das ist eine Hoffnung, eine Versprechung, die im 20. Jahrhundert an allen möglichen Orten der kulturellen Kräftefelder auftaucht, in verschiedensten Variationen und Konstellationen. Wer dem Motiv nachgeht, sieht sich überhäuft von einer Fülle von Material. Er mag an die Verlagsreihe "Die Neue Frau" denken, erinnert sich an Peter Handkes unsägliches Stück "Die langsame Heimkehr", in dem am Ende eine Figur mit dem sprechenden Namen "Nova" einen zukunftsvisionären Monolog hält. Er liest in Ingeborg Bachmanns Erzählung "Drei Wege zum See" von der Enttäuschung einer Frau, die in dreißig Jahren nicht den richtigen Mann gefunden hat und sich damit tröstet, daß es den Typus des "neuen Manns", den sie sucht, noch gar nicht gibt.

Der "Neue Mensch" ist eine Leerformel, doch diese wurde aufgefüllt von Sehnsüchten, Wunschträumen unterschiedlichster Art. Als Leitbild stand er "Diktatoren und Schlächtern" ebenso wie "Revolutionären, Aufklärern und Humanisten" vor Augen, wie es im Vorwort zum Katalog der Ausstellung "Der Neue Mensch" heißt. Er trägt den Untertitel "Obsessionen des 20. Jahrhunderts". Der Katalog zeigt einmal mehr etwas von der Vielfalt der Ideen vom Neuen Menschen. Der Neue Mensch, das kann der durchschaubare, züchtbare, optimal funktionierende oder auch der beseelte, religiös erweckte Mensch sein. Es kann ein künstlicher Mensch sein, die dynamische, kraftvolle, perfekt funktionierende Maschine Mensch, von der die italienischen Futuristen phantasierten, oder der Mensch, dessen Naturwüchsigkeit aus der Hülle gesellschaftlicher Konventionen und diskursiver Ordnungen hervorgebrochen ist. Der Kreis um Stefan George gab, wie der Beitrag von Gert Mattenklott über George und Jünger zeigt, die Parole von der "Neubeleibung" des Menschen aus, die den Menschen nicht als Gehirn, sondern in seiner Gesamtheit respektiert wissen wollte. Ernst Jünger konzipierte, in seinem Essay "Der Arbeiter", den Neuen Menschen als heroischen Kämpfer, als Typus des "kaltblütigen Kriegers", als Menschen, der den Tod, das Grauen, die apokalyptischen Katastrophen kalt lassen. Jünger steht damit in der Tradition jener Selbsterhebungen des autonomen Subjekts, die im 18. Jahrhundert unter dem Begriff des "Erhabenen" vorgenommen wurden.

Der Neue Mensch ist in der Tat eine "Obsession des 20. Jahrhunderts". Als Motiv und Idee ist er allerdings ein schon älteres Konstrukt. Zu Beginn der Neuzeit wurde der Neue Mensch, so führt der Aufsatz von Barbara Bauer aus, durch den Naturforscher repräsentiert. Er war es, der neue Wege zur Erkundung von Himmel und Erde beschritt. Und er war das Erziehungsideal der Humanisten. In der von ihnen konzipierten Schule sollte er ausgebildet werden. Peter Sloterdijk hat unlängst erst die begrenzte Wirkung humanistischer Anthropotechniken zur Domestizierung der Menschentiere beklagt. Die lächerlich gewordenen Erziehungswerkzeuge des Humanismus seien, so legt das Ende seiner berüchtigten Rede über die "Regeln für den Menschenpark" dar, durch wirkungsvollere zu ersetzen. Die humanistischen Domestizierungsleistungen seien gentechnologisch zu perfektionieren. Die Debatte um diesen Vortrag war eine der letzten in diesem Jahrhundert. Und es ist symptomatisch, dass sie sich an den so produktiven wie abgründigen Ideen vom "Neuen Menschen" entzündete.

Mit dem Begriff "Moderne" ist der "Neue Mensch" insofern eng assoziiert, als zu den Grundprinzipien dieser Moderne das der "Innovation" gehört. "Modern" und "neu" sind fast Synonyme. Die Begeisterung der Moderne für "Innovationen" aller Art erstreckt sich auch auf den Menschen. Damit werden jedoch nur altchristliche Vorstellungen ins Diesseits verlegt. "Legt den alten Menschen ab.... und zieht den Neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit." So steht es im Epheserbrief (4,22). Der Katalog erinnert daran. Der Aufruf zum Neuen Menschen ist mit dem Aufruf zur Bekehrung, zum Umdenken, zur geistigen Erneuerung eng gekoppelt. Sie ist Voraussetzung für ein neues Leben, das sich allerdings erst im Jenseits voll entfaltet. Die Moderne verlegte solche Heilserwartungen bekanntlich in das Diesseits. "Wir wollen hier auf Erden schon das Himmelreich errichten", heißt Heines berühmter Appell.

Die großen Erzählungen über den Neuen Menschen folgen in der Moderne alten Mustern. Metaphern von Tod und Geburt haben da ihren festen Platz. So auch im Umkreis des Expressionsimus, für den das Motiv in den zehner Jahren dieses Jahrhunderts charakteristisch wird. Ein großes Kapitel in dem Ausstellungskatalog "Expressionismus in Thüringen" trägt denn auch den Titel "Der neue Mensch". Obwohl auf Thüringen konzentriert, ist der intellektuell so anregende wie optisch ansprechende Katalog alles andere als provinziell. Und weitgespannt sind auch seine kulturgeschichtlichen Perspektiven. Sie beziehen (in dem Beitrag von Ulrich Herrmann) die Schulreformbewegung nach 1900 ebenso ein wie die Freikörperkultur (Bernd Wedemeyer), die Renaissance der Mystik (Meike G. Werner) ebenso wie die Propagandisten einer Sexualrevolution (Ulrich Linse). "Nicht die Neue Kunst, die Neue Dichtung, der Neue Geist, sondern der Neue Mensch!" Das proklamierte 1918 Karl Otten. "Versprengt in vielen, wie Keim einer neuen Seele eines neuen Menschen, leuchtet Hoffnung auf bessere Zukunft." Für den Expressionismus ist die Vorstellung typisch, daß etwas Altes zugrunde gehen muß, damit etwas Neues entstehen kann. Der Weg in eine bessere Zukunft führt durch individuelle oder kollektive Katastrophen. Bezeichnend dafür (und für die dahinter stehenden religiösen Traditionen) sind allein schon viele Titel expressionistischer Bücher oder Buchreihen. "Tod und Auferstehung" heißt ein Gedichtband Walter Hasenclevers. Die berühmteste expressionistische Buchreihe nannte sich "Der jüngste Tag". Und die berühmteste Gedichtanthologie des Expressionismus hieß "Menschheitsdämmerung". Dämmerung hatte dabei eine doppelte Bedeutung: Sonnenuntergang und Sonnenaufgang, das Ende eines alten Tages und der Beginn eines neuen. In solchen Titeln artikulieren sich apokalyptische Ängste und Hoffnungen auf einen Neubeginn zugleich. In Georg Heyms Großstadt- und Kriegsgedichten richten sich die Wünsche mit antizivilisatorischem Affekt auf mythische Urgewalten, deren apokalyptische Vitalität die toten Orte der Zivilisation in Glut und Asche zurückläßt.

Die expressionistische Literatur hat solche Erweckungs- und Wandlungserlebnisse in immer neuen Variationen erzählt und dramatisch in Szene gesetzt. Der Bruch mit gesellschaftlichen Konventionen oder falschen, verblendeten Einstellungen vollzieht sich hier nicht in Form einer kontinuierlichen Entwicklung, sondern vielmehr als Revolution, als plötzlicher Ausbruchs- und Befreiungsakt, als psychologisch oft nicht motivierter irrationaler Sprung vom uneigentlichen Dasein in eine eigentliche Existenz, wie Martin Heidegger es wenig später ausdrückte. Wie sehr die expressionistische Idee des neuen Menschen hierin von christlich-religiösen Denkformen geprägt ist, zeigt unter anderem der predigthafte Ton, das messianische Pathos, mit dem der einzelne zum Umdenken aufgerufen wird. In den sogenannten "Wandlungsdramen" nach dem Muster von Strindbergs "Nach Damaskus" hat die innere Revolution der Helden den Charakter religiöser Erweckungs- und Bekehrungserlebnisse. "Vor der Erneuerung wird eine große Bekehrung kommen müssen", schrieb Ludwig Rubiner in seiner expressionistischen Programmschrift "Die Erneuerung". Ernst Tollers Drama "Die Wandlung" ruft dementsprechend zu einer inneren Revolution auf, einer Revolutionierung des Herzens. Sie hat aller revolutionären Praxis vorauszugehen, soll diese nicht zu blindem, gewalttätigem Aktionismus verkommen. Der "Neue Mensch" ist nicht nur in einem Kapitel, sondern in dem gesamten Ausstellungskatalog präsent. Dieser trägt nicht umsonst den treffenden Untertitel "Facetten eines kulturellen Aufbruchs".

Wo es um die Triebgewalten im Inneren der modernen Subjekte geht, deren Eruptionen als Katastrophen oder auch Befreiungen dargestellt werden können, beansprucht seit den Anfängen des 20. Jahrhunderts die Psychoanalyse besondere Kompetenzen. Und wo über das Motiv des Neuen Menschen geforscht und nachgedacht wurde, rückte man sie denn auch immer wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit. In seinem 1994 erschienen Buch "Der Neue Mensch" widmet Gottfried Küenzlen der Psychoanalyse ein eigenes Kapitel. Und auch in dem Buch, das unlängst Wilfried von Bredow zusammen mit Thomas Noetzel dem Thema, unter dem Titel "Zombies", gewidmet hat, erhält die Psychoanalyse einen exponierte Stellenwert. Ach ja, die Psychoanalyse! Sie ist exakt so alt wie dieses Jahrhundert und zweifellos ein für dieses Jahrhundert charakteristisches Phänomen. Dass sie den Charakter einer quasireligiösen Heilslehre annehmen konnte, ist inzwischen vielfach beschrieben und kritisiert worden. Freuds Skeptizismus stand allerdings den Instrumentalisierungen seiner Lehre zu Glücks- und Heilsversprechen entschieden entgegen. Vorstellungen von Erlösung kommen bei ihm nicht vor. Und so etwas wie Glück hielt Freud allenfalls als transitorische Erfahrung für möglich. Die "Absicht, daß der Mensch glücklich sei", schrieb er in "Das Unbehagen in der Kultur", ist in dem Plan der Schöpfung "nicht enthalten". Jede Fortdauer einer vom Lustprinzip ersehnten Situation ergebe nur ein Gefühl von lauem Behagen. Wir "sind so eingerichtet, daß wir nur den Kontrast intensiv genießen können, den Zustand nur sehr wenig. Somit sind unsere Glücksmöglichkeiten schon durch unsere Konstitution beschränkt."

Skeptizismus bewahrt vor zwei negativen Konsequenzen säkularisierter Heilslehren vom Neuen Menschen: vor großen Enttäuschungen zu hoch angesetzter Hoffnungen und vor den damit oft einhergehenden Versuchungen, das Heil gegen die widrigen Realitäten gewaltsam durchsetzen zu wollen. Dem ließe sich der Satz Ernst Tollers entgegenhalten: "Wer keine Kraft zum Traum hat, hat keine Kraft zum Leben." Ein Leben ohne Wünsche nach Neuem, auch nach Erneuerung des Menschen, vor allem der eigenen Person, ohne Illusionen, ohne Hoffnungen kann man sich nur als depressiven Zustand vorstellen. Oder als zynische Bejahung aller Widrigkeiten der Existenz. Nicht nur politisch führt er zu einem Einverständnis mit den gegebenen Verhältnissen, das ebenso fatal sein kann wie der Wille, sie nach seinen Idealen gewaltsam zu ordnen.

Titelbild

Nicola Lepp / Martin Roth / Klaus Vogel (Hg.): Der Neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts Katalog zur Ausstellung im Deutschen Hygiene-Museum Dresden, 22.4.-8.8.1999.
Hygiene Museum Dresden, Dresden 1999.
296 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3893229604

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Cornelia Nowak / Kai Uwe Schierz / Justus H. Ulbricht: Expressionismus inThüringen.
Glaux-Verlag, Jena 1999.
486 Seiten,
ISBN-10: 3931743268

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