Kunst ist ein Privileg

Sascha Löschners Dissertation widmet sich dem Gesprächskünstler Heiner Müller

Von Paola QuadrelliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Paola Quadrelli

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Angesichts der zunehmenden Ausdifferenzierung und Spezialisierung der neueren Heiner Müller-Forschung beabsichtigt Sascha Löschner in seiner bei Frank Hörnigk an der Humboldt-Universität verfassten Dissertation, für das Werk Müllers eine neue Gesamtperspektive zu gewinnen. Grundlegend erscheinen ihm dabei die unzähligen Interviews und Gespräche, die Müller seit den 60er Jahren und insbesondere in den Jahren nach der Wende abgab. Die Leser der drei Bände der "Gesammelte[n] Irrtümer" kennen wohl die Bedeutung von Müllers Interviews für das Verständnis des Autors und seines Werks - wie Löschner treffend zusammenfasst: "Die Interviews/Gespräche sind Brief- und Tagebuchersatz, Selbstverständigung, Spiel mit den Medien, Performances, Bilanzierungs- und Analyseversuch, Materialsammlung und Anekdotenfundus, zuletzt Preisgabe persönlichster Erfahrungen im Scheitern und in der Verstrickung". Die vom Autor behauptete Vorherrschaft solcher Texte für das Verständnis des Müller'schen Œuvres erfolge aus der Unbestimmbarkeit einer Gattungseinteilung für viele der Texte unseres Autors; dem entsprechen Löschners Fragen: "ist BILDBESCHREIBUNG dramatischer Text oder Prosa, ist WOLOKOLAMSKER CHAUSSE ein Prosa-Gedicht, Lyrik oder Drama". Selbst die seit der Suhrkamp-Ausgabe von 1998 auch vom breiteren Publikum geschätzten Gedichte Müllers sind zumeist im Kontext des dramatischen Werkes zu verstehen, in den sie ursprünglich eingebettet waren. Die Geschlossenheit des Müller'schen Œuvres erfordert eben den schon anfangs genannten Überblick, während eine Reflexion über die problematische Gattungseinteilung zum Ergebnis führt, dass "wir es hier [mit den Interviews, A.d.V] mit der gattungsmäßig eindeutigsten Form im Müller'schen Œuvre überhaupt zu tun haben". Die Untersuchung des Autors geht raffiniert auf alle sprachlichen und stilistischen Aspekte der Interviews ein: ihre theatralische Seite, die sie in die Nähe der künstlerischen Performances rückt, ihr mündlicher Ton, mit den unfertigen Sätzen und den Unterbrechungen, die einen Anflug von Authentizität verleihen, die "Offenheit" eines Mediums, das sich für die Kommentierung einer sich rasch wandelnden Wirklichkeit besonders gut eignet: "Da die Wirklichkeit aber selbst sich wandelt, müssen Antworten immer neu gegeben werden. Eine Sichtweise, die Müllers explosionsartige Vermehrung der Interviews nach der Wende erklären hilft".

Im weiteren Verlauf befasst sich die Arbeit mit einer gesellschaftlichen, thematischen und zeitlichen Analyse der Interviews. Nach einer Analyse von Müllers Interviews mit vier repräsentativen Gesprächspartnern (der Philosoph aus Ost-Berlin, Wolfgang Heise, Ulrich Dietzel von der "Akademie der Künste", der Regisseur und Schriftsteller Alexander Kluge, der Literaturkritiker F. J. Raddatz), geht der Autor detailliert auf die gesellschaftliche Situation ein, die Müllers Interviews umrahmt: Daraus entsteht das vielleicht gelungenste Kapitel der Arbeit, in dem Löschner eine klare und differenzierte Darstellung der verschiedenen Stellungnahmen Müllers im Kontext der Kulturpolitik der DDR sowie die in den 80er Jahren beginnende Desillusionierung des Dichters im Hinblick auf das Schicksal der DDR erläutert. Müller stellt schon in den 70er Jahren das Versiegen des revolutionären Potenzials der sozialistischen Utopie und eine progressive Angleichung der DDR an die BRD fest, so dass beide als Regime der "repressiven Toleranz" betrachtet werden. In diesem Teil zeigt Löschner sowohl eine präzise Kenntnis der Tatsachen als auch Einfühlungsvermögen in der Schilderung der tiefen persönlichen Krise, die Müller mit dem politischen Scheitern der DDR durchmachte. Zur Erläuterung der "Schreibhemmung", an der der Autor in der Nachwendezeit litt, dienen ein letztes Kapitel über das "Schweigen" von Heiner Müller und ein Exkurs über das lange Gedicht "MOMMSENS BLOCK", in dem sich der Dichter mit der "Schreibhemmung" des berühmten Historikers vor der römischen Kaiserzeit identifizierte. Ansonsten widmet sich Löschner häufig den späten Gedichten Müllers und bietet dabei wichtige Textinterpretationen (von "Vampyr", "Leere Zeit", "Im ächten Mann ..."). Die im Werk Müllers immer wiederkehrenden geographischen Themen (das Schicksal Deutschlands, der Gegensatz USA/Sowjetunion usw.), sowie faszinierende und zugleich schwierige geschichtsphilosophische Metaphern (der "Kessel", der dialektische Gegensatz von Geschwindigkeit und Verlangsamung in der Weltgeschichte, das für die intellektuelle Welt Müllers konstitutive Motiv der "Mauer") werden in weiteren Kapiteln einer genauen Analyse unterzogen.

Im gesamten Buch ist allerdings eine übertriebene Nachsicht des Autors gegenüber den Äußerungen Müllers und der politischen und moralischen Haltung des Dichters hervorzuheben. Auf eine nicht immer überzeugende Art rechtfertigt Löschner auch die absurdeste und unhaltbarste Beteuerung des Dichters: Die für komplexe theoretische Argumentationen manchmal unangebrachte Mündlichkeit (viele Äußerungen Müllers leiden gerade an der Schnelligkeit der mündlichen Formulierung) wird grundsätzlich für ihre "Authentizität" - und samt Verweisen auf die Dialoge Platons - gelobt; die in den Interviews leicht feststellbaren Wiederholungen von Sätzen und Anekdoten werden schlechthin als "Hinweis auf eine Kontinuität gesellschaftlicher Stagnation" interpretiert; die irritierende Koketterie Müllers sei im Rahmen der "performativen" Qualität dieser Texte zu verstehen; nebelhafte, unverständliche und in jeder Hinsicht völlig unmoralische Äußerungen über Auschwitz, Hitler, den Terrorismus oder Drogen werden mit dem abgedroschenen Begriff der "Provokation" und des "Tabubruchs" gerettet. Schließlich wird dem Leser mitgegeben, sich nicht an den unleugbar politischen Ambiguitäten des Dichters zu stören: wie der Autor nämlich mit einer verblüffenden Vereinfachung betont, ist "Moral kein Kriterium für die Literaturwissenschaft", zumal Müller "die einzige Verantwortung gegen seine Literatur" empfunden habe (eine Behauptung, die auch als bequeme Lösung dafür erscheinen könnte, sich seiner öffentlichen moralischen Verantwortung als prominenter DDR-Autor zu entledigen).

Die Frage einer moralischen Beurteilung literarischer Texte hat eine eigene Diskurstradition und bleibt ungelöst: Vielmehr ergibt sich da die Frage, ob Interviews als literarische Texte zu werten sind, die Anspruch auf Autonomie erheben, oder ob sie eher argumentative Texte sind, die vor allem an der Triftigkeit der Äußerungen und an der Glaubwürdigkeit des Sprechers zu messen sind. Im zweiten Falle ist der Sprecher für seine Äußerungen verantwortlich und ein berühmter Schriftsteller darf nicht öffentlich behaupten: "Die einzige Freizeit ist die Zeit der Droge oder die Zeit der Kunst. Aber Kunst ist ein Privileg. Für Massen bleibt nur die Droge, wenn sie an freie Zeit herankommen wollen" ("Jenseits der Nation").

Die Frage nach der ideologischen Verortung des Schriftstellers Heiner Müller und nach der Beurteilung des Menschen bleibt also noch offen, während die Analyse der Interviews und Gespräche einer gewissen kritischen Distanz des Forschenden bedarf: Die ebenso übersichtliche wie aufschlussreiche Dissertation von Sascha Löschner ist auf jeden Fall als bedeutende Studie für jede künftige Untersuchung der gedanklichen Welt des Autors zu bewerten.

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Sascha Löschner: Geschichte als persönliches Drama. Heiner Müller im Spiegel seiner Interviews und Gespräche.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
270 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-10: 3631501218

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