Jesus-Literatur im interkulturellen Vergleich

Karl-Josef Kuschels "Jahrhundertbilanz in Texten und Einführungen"

Von Reinhard GörischRSS-Newsfeed neuer Artikel von Reinhard Görisch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Gestalt Jesu in der Literatur widmet der Tübinger Theologe Karl-Josef Kuschel seit langem besondere Aufmerksamkeit. In einer neuen, voluminösen Publikation macht er auf knapp 800 Seiten mit acht deutschsprachigen und 19 fremdsprachigen (übersetzten), durchweg namhaften Autoren (darunter gerade mal zwei Autorinnen: Anna Seghers und Toni Morrison) und jeweils einem Text von ihnen bekannt, in welchem die Gestalt Jesu in unterschiedlichsten Sichtweisen literarisch vergegenwärtigt ist. Verteilt auf sieben typisierende Abschnitte werden die Autoren nach festem Schema jeweils mit einer "Einführung", Literaturangaben "zur Vertiefung" und schließlich ihrem Text selbst vorgestellt; bei diesen handelt es sich teils um abgeschlossene Erzählungen, oft jedoch um einschlägige Auszüge aus Romanen, in denen die Gestalt Jesu oder eine ihrer Adaptationen durchaus nicht immer im ganzen werkbestimmend sind (zum Beispiel in Th. Manns "Zauberberg"). Das zeitliche Spektrum reicht von um die Jahrhundertwende datierenden Zeugnissen (France, Wilde, Gide) bis zu aktuellen Werken (Saramagos "Evangelium nach Jesus Christus" von 1991, Mailers "Jesus-Evangelium" von 1997).

Obwohl es Kuschel natürlich auf die verbindende Grundstruktur in aller Vielfältigkeit ankommt, hat die Konzeption des Buchs den Vorteil, daß man sich ohne weiteres auch einzelne Kapitel bzw. Autoren separat und in der Reihenfolge der eigenen Interessen vornehmen kann, während über Problemstellung, den historischen Rahmen und die Spannweite der Thematik ein überschaubarer "Prolog" informiert. Kuschel wählt bewußt eine "Mischform (...) zwischen Monographie und Anthologie (...): eine mit ausführlichen Verstehenshilfen versehene Textsammlung", die (in den stark selbstreferentiellen Schlußhinweisen des Buchs) gleichsam als Summa früherer, spezialisierterer Publikationen Kuschels erscheint: einer Monographie von 1978 und einer Anthologie von 1983, die noch vorwiegend auf die deutschsprachige Literatur ausgerichtet waren, verbunden mit einem 1997 aufgenommenen Ansatz, "die Jesus-Literatur im interkulturellen Vergleich darzustellen" und damit nun überwiegend fremdsprachige Autoren zu präsentieren.

Was Kuschel in den Einführungen (die diese Bezeichnung wirklich verdienen) an biographischen und werkbezogenen Informationen und Erläuterungen zu seinen so unterschiedlichen Autoren aus aller Welt bietet, ist insgesamt beeindruckend. Trotzdem übt er sich in problematischer Selbstbescheidung: Es gehe ihm in diesen Einführungen nur darum, "den dokumentierten Text immanent besser verstehen [zu] lehren, die Motivation der Autorinnen und Autoren transparent [zu] machen", nur deren "Anwalt" wolle er sein; hingegen verzichtet Kuschel ausdrücklich und kategorisch auf jegliche "theologische Auseinandersetzung" mit den dargebotenen Texten, die zwar "dringend geboten" sei, aber "anderswo erfolgen" müsse. Wenigstens Ansatzpunkte solcher Auseinandersetzung von Fall zu Fall darzulegen, wäre dem Leser (sofern er nicht Theologe ist) doch ebenso hilfreich wie ein immanentes Verständnis der Texte. Und entspricht es wirklich dem "neuesten Forschungsstand", um den Kuschel bemüht ist (wobei er sich auch für fremdsprachige Autoren weitgehend nur auf "deutschsprachige Forschung" bezieht), wenn theologische Auseinandersetzung ausgespart bleibt?

Kuschel tritt mit dem Anspruch auf, eine weltliterarische Jahrhundertbilanz seines Themas zu bieten. Das erscheint in zweierlei Hinsicht etwas zu vollmundig. Zum einen spiegelt "Weltliteratur" die Gestalt Jesu nicht nur in Prosatexten, die diese Sammlung ausschließlich präsentiert; Lyrik und Drama, für das Thema gewiß nicht unerheblich, bleiben gänzlich ausgespart. Nebenbei bemerkt fallen offenbar dem Maßstab "Weltliteratur" deutschsprachige Autoren zum Opfer, die von der Sache (und der literarischen Qualität) her durchaus Interesse, zumal deutscher Leserinnen und Leser, verdient hätten: Herburger etwa, Patrick Roth oder Werner Koch, dessen Roman "Pilatus" (1959) immerhin in acht Sprachen übersetzt wurde. - Zum anderen fehlt in diesem Buch (bei aller Akzeptanz der ausgewählten Autoren) eine ganze Facette des Spektrums der Jesus-Literatur unseres Jahrhunderts, mit der Kuschel sich in seiner Monographie von 1978 noch ausführlich kritisch auseinandergesetzt hatte: der traditionelle Jesusroman und seine Seitenableger bis in die 60er Jahre (zum Beispiel Dobraczynski, Wallace, Ash, Greene, Bernanos, die - im Unterschied zu deutschsprachigen Autoren wie Brod und Schaper - auch an Kuschels definitorischen Bemerkungen gemessen weltliterarisch mitreden könnten). Diese Richtung hatte Kuschel damals wegen ihres mangelnden christologischen Problembewußtseins bzw. weitgehender Abstraktion vom spezifisch Christlichen für überlebt erklärt; aber eine "Jahrhundertbilanz", die keinen einzigen solchen Vertreter zu Wort kommen läßt, bilanziert unvollständig.

Titelbild

Karl-Josef Kuschel (Hg.): Jesus im Spiegel der Weltliteratur. Ein Lesebuch des 20. Jahrhunderts.
Patmos Verlag, Düsseldorf 1999.
767 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3491724236

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