Die Dichterin der Einfachheit

Anna Achmatowas erster Lyrikband "Der Abend"

Von Mechthilde VahsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mechthilde Vahsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anna Achmatowa war zusammen mit ihrem ersten Ehemann Nikolaj Gumilev, Ossip Mandelstam und einigen anderen russischen Lyrikern Mitbegründerin des Akmeismus und strebte in ihrer Lyrik nach einfacher, klarer Sprache und dem Wert des Alltäglichen. In dieser Zeit, so um 1910, hatte der russische Symbolismus sich bereits theoretisch überholt, Futurismus und Akmeismus leiteten den Wechsel zu einer neuen Ästhetik ein. Ein Umbruch in der russischen Literatur, der europaweit Beachtung fand.

Anna Achmatowa, Jahrgang 1889 und geboren bei Odessa, hieß Gorenko mit Familiennamen und veröffentlichte unter Pseudonym. 1912 erschien im Kontext der "Lyriker-Gilde", der Vereinigung des Akmeismus, ihr erster Gedichtband "Der Abend" in kleiner Auflage und wurde zum ersten Erfolg der noch jungen Lyrikerin. Die darin enthaltenen Gedichte thematisieren Liebe und Trennung, Abschied und Schmerz, sie sind durchzogen von einem melancholischen Ton, der nur manchmal von Fröhlichkeit abgelöst wird.

Leben und Schreiben der Dichterin sind geprägt von der russischen Geschichte. Nach der Revolution hat sie lange Publikationsverbot. Doch Exil kommt für sie, im Gegensatz zu anderen Mitgliedern des Akmeismus-Kreises, nicht in Frage. Erst 1940 erscheint eine Auswahl aus ihrem Werk. Ihr "Requiem", zwischen 1935 und 1940 unter schwierigsten Bedingungen entstanden, wird hingegen erst 1987 publiziert und gilt als wichtiges Zeugnis von Verfolgung und Terror.

Dem Barbara Staudacher Verlag ist es zu verdanken, dass nun der erste Lyrikband einer der bedeutendsten Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts ins Deutsche übertragen und veröffentlicht wurde, zusammen mit der Haupttitelseite der ersten Ausgabe von 1912 und mehreren Aktskizzen, die Achmatowas Freund Modigliani 1911 in Paris von ihr zeichnete. Mit diesem schlichten, aber wunderschönen Buch liegt eine kleine Kostbarkeit vor, da es diese erste Publikation der Achmatowa bisher nicht in vollständiger Übersetzung gab - was verwundert, angesichts der Vielzahl an Literatur über diese russische Dichterin, die erst spät in ihrem Leben Ehrungen und Preise erhielt.

Begrabe mich, Wind, begrab mich!
Von Verwandten ließ keiner sich sehn.
Um mich her ist der irrende Abend
und der stillen Erde Wehn.

Wie du bin ich frei gewesen,
hab zu sehr nach dem Leben gegiert.
Nun erkalte ich schon, und niemand,
der mich hinüberführt.

Deck zu diese schwarze Wunde
mit Abenddunkelheit,
die Psalmen für mich zu lesen
sei der blaue Nebel bereit.

Damit ich ein wenig leichter
fortgeh zur letzten Ruh,
bewege, Wind, die Gräser,
vom Frühling sprich immerzu.
(1909, Kiev)

Es lohnt sich, diese tiefsinnigen, melancholischen Gedichte zu entdecken oder neu zu lesen.

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Anna Achmatowa: Der Abend.
Herausgegeben von Kay Borowsky.
Übersetzt aus dem Russischen von Kay Borowsky.
Verlag Barbara Staudacher, Horb-Rexingen 2003.
71 Seiten, 11,00 EUR.
ISBN-10: 3928213121

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