Simplicissimus aus Australien

Les Murrays proletarisches Schelmenepos "Fredy Neptune"

Von Ute EisingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ute Eisinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er gilt als größter Dichter Australiens, der beleibte Mann mit den fünf Kindern, der auf der Farm seines Vaters in der unermesslich weiten Provinz Australiens lebt: Les Murray, der im selben Haus im geburtenschwachen Jahrgang 1938 geboren wurde, am Vorabend des Zweiten, auch für das entfernte Australien fatalen, Weltkrieges.

Dorthin hat es den Dichter nach einem großstädtischen Studium der Sprachen, darunter Germanistik, und Berufen, die allesamt mit Sprachen, Büchern und Übersetzen zu tun hatten, letztendlich zurückgezogen. Sein Bekenntnis zur Provinz kreiden ihm die intellektuellen Künstler des Inselkontinents allerdings an; sie wollen lieber eine australische Hochsprache als den Soziolekt der weißen Landarbeiter gedruckt sehen, und wenn jemand im Namen des White Trash von Aborigines als seinen "Cousins" spricht, hört man das nicht gern.

Dabei ist Les Murray alles andere als ein Dialekt- oder Heimatdichter. Zu Recht war er für viele der Favorit des Literatur-Nobelpreises; vor allem wegen der Haltung, die er dem Gedicht im 21. Jahrhundert gibt. Dichter sei man, so Murray, mit Leib und Seele. Prosa, das sei nichts für ihn. In seinem wohl bekanntesten Gedicht "Poetry and Religion" spricht er - wie der amerikanische Literaturwissenschaftler Harold Bloom - vom Glauben an das Gedicht wie an eine Religion; eine Haltung, die er mit Joseph Brodsky, Seamus Heaney und Derek Walcott teilt. Letzterer, namentlich seine Neue Odyssee "Omeros", ein Epos der Kolonialisten und Kolonialisierten der Karibik, hat den Australier Murray nach eigener Aussage - großartig, dass der Verlag seinen Essay über die Entstehung des Buchs mit abgedruckt hat - auch zu "Fredy Neptune" angestiftet. Mit der Einschränkung, dass er sich vorgenommen hatte, keinen alten Mythos neu zu schreiben, sondern einen neuen zu erfinden. Der Fund eines armenischen Gedichts von Atom Yarjanian sowie ein eigenes Gedicht über einen starken Mann, der an einer belebten Kreuzung in Sydney weinend über das Leid der Welt zusammenbricht, waren Anlässe für das 1998 fertig gestellte, seit letztem Jahr bei Ammann auf Deutsch vorliegende Jahrhundertepos "Fredy Neptune", das ein Kritiker treffend als australisches Pendant des amerikanischen Films "Forrest Gump" bezeichnet hat.

Auf der Suche nach einem neuen Mythos schuf Murray darin die Gestalt des Friedrich Boettcher, der zu Beginn des Jahrhunderts von der väterlichen Farm in Dungog, Neu Süd-Wales, aufbricht, um sich als Matrose auf einem Frachter zu verdingen. Mit dem Vorteil, des Deutschen als der Sprache seiner Eltern mächtig zu sein, reist er um die halbe Welt und tritt auf einem kaiserlich preußischen Schiff unwillentlich in den Krieg ein. Im türkischen Trapezunt wird Fredy Zeuge eines Vorfalls im Rahmen des Genozids an den Armeniern, als er sieht, wie armenische Frauen bei lebendigem Leib verbrannt werden. Das Erlebnis verändert ihn. Fredy erkrankt an Lepra und stellt hinterher fest, dass seine Haut infolge des Schocks gefühlstaub geworden ist. Wie uns Fredy simpel und unreflektiert berichtet, gerät er unter allen möglichen Flaggen in alle Weltmeere und an allerhand interessante Menschen - darunter Lawrence von Arabien und Marlene Dietrich -, ständig auf der Flucht vor der Entdeckung seines Makels, für den er als unheimliches Faktotum, als vom Teufel besessen oder als Betrüger angesehen wird. Obwohl ihn seine Unempfindlichkeit gegen Flammen, Lasten und Insektenbisse Leben retten lässt und Fredy selbst in der Wirtschaftskrise als Muskelmann für Schwerarbeit, als Ringer oder im Zirkus zum Einsatz kommt, schafft ihm diese Abnormität keine Freunde. Zurück in Australien, muss Fredy feststellen, dass man seine Eltern als gebürtige Deutsche verjagt hat, der Vater tot ist und die Farm in fremden Händen. Fredy findet Freunde wie den verwitweten Familienvater Cos Morrison und die junge Kriegswitwe Laura, die ihn entgegen mancher Widerstände heiratet, als der gemeinsame Sohn drei Jahre ist. Sooft die Familie zu verhungern droht, zieht sie immer wieder kurzerhand in den Busch. Ein Aborigine-Kind, das Fredy in Vertretung des weißen Vaters, der es verleugnet, bei sich aufnimmt, bringt ihn in Schwierigkeiten, und nach einem weiteren Zwischenfall mit der Polizei muss sich Boettcher, der sich nun Fredy Neptune nennt, nach Amerika absetzen. Der Gangsterboss, den er eigentlich zurück nach Australien bringen sollte, macht Fredy zu seinem Schützling, eröffnet ihm seine Bibliothek und ein vergnügliches Leben. Mit Büchern kann der empfindungsunfähige Neptune nichts anfangen, von Frauen, nach deren Freundschaft er sich von Anfang an sehnt, fürchtet er, entlarvt zu werden. Nach dem Schwarzen Freitag 1929 geht die Truppe um seinen Wohltäter getrennter Wege, Fredy schlägt sich als Hobo bis nach Hollywood durch. Als Statist in "Im Westen nichts Neues" fällt er Marlene Dietrich auf, sie lässt ihn rufen, durchschaut ihn und liest ihm Gedichte von Rilke und Mörike vor. Im Zeppelin fliegt Fredy nach Europa zurück und besucht seine Mutter, die mit Australien endgültig abgeschlossen hat. Sie kommt später beim Bombardement von Dresden um. Fredy erlebt Glanz und Polizeistaat des Hitler-Reichs, ermordet einen alten Juden, indem er diesem zu Hilfe kommt und damit die Wut seiner Peiniger auf ihn lenkt, und kann einen behinderten Jugendlichen vor den Mühlen der Euthanasiegesetze retten. Kurzerhand nimmt er den von seiner Familie im Stich gelassenen Hans - der Dichter Les Murray hat selbst einen autistischen Sohn - mit nach Australien, was ihm wieder Schwierigkeiten mit den Nachbarn und den Behörden einbringt. Noch einmal trifft er seinen alten Freund und Mentor Sam, einen Australier, der halb Jude und halb Aborigine ist und es in Paris zum Chef eines Nobelrestaurants gebracht hat. Sam ist mittlerweile bekennender Mosaist und hat Heimweh nach Australien. Nachdem er dem Rassenwahn entkommen ist, schifft sich Sam tatsächlich dorthin ein, doch kapituliert er vor der Küste Australiens und stürzt sich von Bord. Selbstmord hat Fredy zwar nicht begangen, doch erscheint sein Leiden der Gefühlstaubheit als ein Gegenstück zu Sams Selbstaufgabe. Wie Fredy wird auch sein Sohn Joe einberufen und erlebt im Pazifik den Zweiten Weltkrieg. In Neuguinea, während der letzten Kriegstage, entgeht er haarscharf einem Gemetzel; dagegen kehrt Joe als physisch und vor allem psychisch Versehrter heim, ohne dass der Vater seinem Sohn helfen könnte. Auf gewisse Weise steht der angenommene Hans Fredy stets näher als der eigene Sohn. Doch fasst Joe wieder Fuß und heiratet, die Tochter Lou beginnt zu studieren, Fredy und seine Frau Laura haben einen Lebensabend vor sich, an dem sie noch oft mit Freunden plaudernd auf der Terrasse sitzen werden. Da fällt, unspektakulär, die furchtbare Krankheit von Boettcher ab. Und so endet, nach seinem langen Lebensbericht, der Ich-Erzähler mit den Worten: "Aber das Leben ist zu groß; es lässt sich nicht beschreiben."

Es gibt nichts Hintersinniges in diesem Gedichtepos in freien Versen. Der Abenteuerbericht eines einfachen und offenherzigen Mannes liest sich zügig, gibt sich ungeschminkt und wahr und lässt sich darum auch von Lesern verschlingen, die sonst kein Ohr für Dichtung und andere Raffinessen der Literatur aufbringen. Murray lässt seinen Fredy ohne viel Federlesens reden, und das ist das vielleicht Aufregendste an dieser Erzählung: Als Sohn Australiens ist Boettcher, das Kind einer deutschen Einwanderin und eines Australiers mit deutschen Eltern, mit einer Vielzahl von Sprachen ausgestattet. Auf seinen Seereisen und Landgängen trifft er nicht weniger einfache Burschen, die den Wortschatz des Landarbeiters mit Redensarten aus Frachthäfen der Welt erweitert haben, aber auch auf bodenständige Menschen, Zirkusleute, Spießer, Adelige, Möchtegern-Schauspieler, Ganoven und Militärs. Alle diese Begegnungen fließen in Fredys Sprache ein, die zwar meistens Englisch ist, doch je nach Gesprächspartner, -ort oder Dauer des Aufenthalts die Quantität ihrer (v. a. deutschen) Einsprengsel verändert oder in einer Syntax denkt, die mehr oder weniger Deutsch ist. Mit dem Resultat einer unglaublich plastischen Authentizität des Helden, die ein beredtes Zeugnis für die seelische Vielsprachigkeit seines Dichters abgibt: Les Murray, dessen Vorfahren vor sechs Generationen aus Schottland einwanderten, hat ein weites Herz, und Australien, so weit vom Schuss es uns Mitteleuropäern auch scheinen mag, verfügt über den unglaublich weiten Horizont aus allen möglichen Sprachen und Kulturen - es muss nur einer kommen, der diesen Schatz hebt, einer, der auch "Saubohnen" für einer Predigt wert hält oder mit den Kühen fühlt, die ohne es zu wissen ins Schlachthaus müssen.

Hut ab nicht zuletzt auch vor dem Übersetzer - Nachdichter - Thomas Eichhorn, der mit Fredy/Murray durch Dick und Dünn gegangen ist. Oder in welches Deutsch würden Sie das Englisch von Takis, einem griechischstämmigen Australier, den der Protagonist in der Türkei trifft, bringen? Ihn zum Kreuzberger anatolischer Eltern machen, der in Zypern kellneriert? So oder so ähnlich hat Eichhorn sich der Neptune'schen Sprache im Deutschen auch gestellt, gern läse man mehr darüber, als er, der Übersetzer, im Nachwort aus der Werkstatt verriet. Die deutsche Fassung hat freilich auch die Zufriedenheit - bei anhaltender Hilfeleistung - des Autors gefunden. Und so nimmt es nicht wunder, dass Les Murrays zweisprachige Lesungen hierzulande das Publikum in Erstaunen versetzt haben und der Sache der Poesie, wenn sie so offenherzig daherkommt, möglicherweise neue Freunde gewonnen haben.

Titelbild

Leslie Allan Murray: Fredy Neptune. Zweisprachige Ausgabe Englisch-Deutsch.
Übersetzt aus dem Englischen von Thomas Eichhorn.
Ammann Verlag, Zürich 2004.
514 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3250104752

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