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Monika Czernin beleuchtet in einem eindrucksvollen Bildband "Duino, Rilke und die Duineser Elegien"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rilkes "Duineser Elegien", nach des Dichters Auffassung die in zehn großen Lehrgedichten geordnete Summe seines dichterischen Denkens, sind nach dem Ort benannt, wo die beiden ersten Elegien entstanden und wo auch der Zyklus als ganzer konzipiert wurde: nach dem Schloss Duino bei Triest, das die Fürstin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe dem Dichter zur Verfügung stellte. In ihren "Besitz" übereignete dann auch, laut Widmung, der dankbare Dichter die nach über einem Jahrzehnt im Februar 1922 abgeschlossene Elegien-Dichtung.

Die Elegien sind nachdrücklich durch Orte und Landschaften bestimmt, Orte, an denen sich Rilke mit ihnen in Gedanken trug oder Orte, die im Text und durch den Text erinnert werden. Schon die Reisen mit Lou Andreas-Salomé in Russland haben ihre Spuren in den Elegien hinterlassen. Erfahrungen aus der Ägyptenreise von 1911 sind in die Gedichte eingegangen: "Der Sphinx" in der siebenten oder in der zehnten Elegie ist ein Reflex unmittelbar erlebten Anschauens; ebenso wie der "Töpfer am Nil" in der neunten oder der Vergleich mit den "Bildern von Karnak" in der sechsten Elegie. Die vielleicht tiefste und zugleich am wenigsten sichtbare Spur in den Elegien hat Rilkes Spanienreise im Winter 1912 hinterlassen. Schon vor Beginn der Arbeit an den Elegien, Ende September 1911, hatte Rilke an die Fürstin geschrieben: "Wissen Sie, daß ich eine einzige Sehnsucht hätte: nach Toledo zu reisen". Vom Aufenthalt in Toledo, der Stadt El Grecos, hatte sich der Dichter erhofft, seine Elegien vollenden zu können. Stattdessen müssen der geschichtsträchtige Ort, die kastilische Landschaft und der Himmel über Toledo den Dichter so sehr überwältigt haben, dass sich seine poetische Konzeption der Welt-Verwandlung in der Gestalt des "Engels" hier vertiefend geklärt hat.

Trotz dieser vielschichtigen Mnemotopie, die den "Duineser Elegien" zugrunde liegt, ist die Geschichte dieser Texte, wie Monika Czernin in ihrem gerade erschienenen Bildband "Duino, Rilke und die Duineser Elegien" zutreffend bemerkt, stark mit ihrem Entstehungsort verknüpft. Die Verfasserin berichtet - orchestriert von den eindrucksvollen Fotografien Wolfgang Balks und einigen historischen Aufnahmen Duinos aus dem 19. Jahrhundert - über die Historie des Schlosses Duino, das sich bis heute im Besitz der Fürstenfamilie Thurn und Taxis befindet, und den Salon der Fürstin Marie von Thurn und Taxis als Ort der Geselligkeit und Welt der Schönheit, Archaik und Poesie. Die Fürstin erweist sich für Rilke nicht nur als Freundin und Gönnerin, sondern auch und vor allem als kosmopolitische Person, deren Bildung groß ist. Sie schreibt und malt selbst, ist eine hervorragende Literatur- und Kunstkennerin, beherrscht mehrere Sprachen und beginnt mit Rilke zum eigenen Vergnügen eine Übertragung von Dantes "Vita Nuova". Monika Czernin gelingt es eindrucksvoll, die Atmosphäre Duinos einzufangen: die erhabene Küstenlandschaft, das mit schönen Gemälden geschmückte Schloss, das außerdem über eine ausgezeichnete Bibliothek verfügt, in der Rilke sich häufig aufhält (u. a. wegen seiner geplanten Biografie über Carlo Zeno). Durch seine geografische Lage zwischen Österreich und Italien und dank der großzügigen Gastfreundschaft der Fürstin ist Duino stets ein geistiger Treffpunkt insbesondere für Wiener Autoren - Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Kassner gehören zu den regelmäßigen Gästen. Das Schloss stellt aus ästhetischen Gründen einen idealtypischen, weil offenen Raum für Rilke dar. Das literaturgeschichtlich markante Ereignis ist die im Januar 1912 erfolgte Niederschrift der ersten Elegie, deren Incipit ("Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?") ihm während eines Spaziergangs gleichsam 'diktiert' wurde. Die Kette der Engel-Figurationen beginnt also keineswegs erst in Toledo, sondern wird bereits in Duino ansichtig. Gleichwohl kommt der Ort selber darin nicht vor, doch werden immerhin "Kirchen zu Rom und Neapel" genannt und die venezianische Santa Maria Formosa wird als "neulich" besuchte bezeichnet, so dass der italienische Erlebnishintergrund als Raum des Kirchlich-Religiösen durchscheint.

Rilke besucht Duino im Frühjahr 1914 zum letzten Mal, geht dann in Begleitung von Magda von Hattingberg nach Venedig, wo sich ihre Wege trennen. Nach dem Krieg kehrt er im Frühsommer 1920 noch einmal in die Stadt zurück, besucht die Kirchen, trifft die Fürstin und andere Bekannte, doch bei aller Freude über die Wiederbegegnung scheint ein bestimmter Stillstand, der Venedig kennzeichnet, Rilke nicht zu behagen, da er Veränderung, Weiterkommen und nicht pure Wiederholung will. Vieles an Rilkes brieflichen Äußerungen dieser Zeit erinnert an die Venedig-Atmosphäre in Thomas Manns Novelle "Tod in Venedig", die Rilke im Oktober- und November-Heft der "Neuen Rundschau" 1912 las. Nach anfänglich begeisterter Aufnahme ist seine Re-Lektüre jedoch schon bald von Ablehnung und Skepsis begleitet. Aufschlussreich für Rilkes ästhetisches Selbstverständnis zu jener Zeit der Entstehung der "Duineser Elegien" ist die Begründung seines negativen Urteils in einem Brief an Hedwig Fischer: "Gewiß mußte dies der Verlauf sein, auch daß da, in der verhängnisvollen Auflösung und Zersetzung, deren Phosphoreszieren gleichsam eine einzige Lichtquelle ist, in der, was sich abspielt, erkennbar wird -, auch daß die Konturen eigentlich nicht mehr zu geben waren, sondern nur Dünste, Gerüche, Trübungen, die sich ineinander hinüberschieben, alles das begreif ich ganz und gar, und doch, ich weiß nicht, es ist, als würde dem Leser kein Standpunkt mehr angewiesen, von dem aus er sich das alles gefallen lassen mag, so hoch die Kunst der Erzählung im ersten Teil war, dies hier [gemeint ist der zweite Teil der Novelle] ist nicht mehr erzählt, es fließt aus und durchtränkt alles und man sieht's größer werden wie verschüttete Tinte". Dieses Urteil ist vor allem deswegen so vielsagend, weil Rilke am "Tod in Venedig" etwas kritisiert, das er selbst im "Malte Laurids Brigge" in einem ungleich stärkeren Maße praktiziert hatte: Die Vervielfachung der Standpunkte und die Auflösung der Erzählstruktur. Offenbar vor den eigenen Mitteln des Modernismus erschreckend, wendet sich Rilke 1912/13 und in den Folgejahren lieber Erzählungen zu, die vom "Harmonischen ergriffen" und "von einer reinen, schöpferischen Liebe zum Darstellen geprägt sind", wie eben jenen, die sein Duineser Gesprächspartner Hofmannsthal in seiner Anthologie "Deutsche Erzähler" von 1912, der dieses Zitat entnommen ist, vorgestellt hatte.

Rilke verlässt Venedig 1920, ohne einen weiteren Impuls aus der Stadt erhalten zu haben und ohne den Wunsch nach einer Wiederkehr mitzunehmen. Es ist dies auch - sieht man von einer 1925 mit Baladine Klossowska unternommenen, schon am Lago Maggiore abgebrochenen geschäftlichen Reise nach Mailand ab - Rilkes letzte Begegnung mit Italien. Die "Duineser Elegien" finden bekanntlich erst in Schloss Muzot im Schweizer Wallis ihren Abschluss. Als der Dichter schließlich am 11. Februar 1922 Fürstin Marie von Thurn und Taxis die Vollendung seines "Herz-Werkes" ankündigen kann, ist er überzeugt, die entscheidende Leistung seines Genies vollbracht, seine eigentliche Aufgabe als Dichter erfüllt zu haben: "Endlich, Fürstin, endlich, der gesegnete, wie gesegnete Tag, da ich Ihnen den Abschluß - so weit ich sehe - der Elegien anzeigen kann: Zehn! Von der letzten, großen: (zu dem, in Duino einst, begonnenen Anfang: 'Daß ich dereinst, am Ausgang der grimmigen Einsicht, / Jubel und Ruhm aufsinge zustimmenden Engeln ...'), von dieser letzten, die ja auch, damals schon, gemeint war, die letzte zu sein, - von dieser - zittert mir noch die Hand! Eben, Samstag, den elften, um sechs Uhr abends, ist sie fertig! - Alles in ein paar Tagen, es war ein namenloser Sturm, ein Orkan im Geist (wie Damals auf Duino), alles, was Faser in mir ist und Geweb, hat gekracht, - an Essen war nie zu denken, Gott weiß, wer mich genährt hat. Aber nun ists. Ist. Ist. Amen".

Titelbild

Monika Czernin: Duino, Rilke. Und die Duineser Elegien.
dtv Verlag, München 2004.
152 Seiten, 18,50 EUR.
ISBN-10: 3423341084

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