Order in Variety

Henry Fieldings "Tom Jones" in der "Manesse Bibliothek der Weltliteratur"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Lebensgeschichte eines jungen Mannes, der "gewiß für den Galgen geboren" wurde, sich in die hübsche Tochter des benachbarten Gutsbesitzers verliebt, infolge einer Intrige das Haus seines Pflegevaters verlassen muss, ein vagabundierendes, mit allerlei erotischen und sonstigen Abenteuern durchsetztes Leben auf der Landstraße führt, in London zeitweilig von einer älteren Kokotte ausgehalten wird und schließlich im Gefängnis landet, bis die Gunst Fortunas ihm wieder zugeneigt ist und er privates Glück findet sowie eine sozial angesehene Position einnimmt - ein Schelmenroman? Wohl eher nicht, da die Gemeinsamkeiten zwischen dieser Lebensgeschichte, dem Aufbau und der Thematik des pikaresken Romans primär oberflächlicher Natur sind.

Der Protagonist in Henry Fieldings 1749 erschienenem Roman "Tom Jones. The History of a Foundling" ist zunächst einmal nicht identisch mit dem Erzähler seiner Geschichte. Im Gegensatz zu den moralisch doch einigermaßen zwielichtigen Figuren des Schelmenromans steht die moralische Integrität des Protagonisten bei Fielding trotz mancher Anfechtungen niemals ernsthaft in Frage. Der im Schelmenroman geschilderte Kampf ums Überleben, das tägliche Sich-Durchschlagen-Müssen, das nur mit erfindungsreicher List, Betrügerei und einem gewissen Maß an Rücksichtslosigkeit gelingen kann, ist ebenso wenig ein tragendes Motiv des "Tom Jones" wie das dahinter stehende zynisch-pessimistische Weltbild des pícaro, dem man beispielsweise in Alemáns "Guzmán de Alfarache" oder in Grimmelshausens "Simplicissimus" begegnet. Schließlich ist auch die geordnete und beziehungsreiche Konstruktion des Romans nicht mit der lockeren Aneinanderreihung ereignisreicher Episoden im pikaresken Roman vergleichbar.

Henry Fieldings Roman gehört nicht nur zu den großen Werken der englischen Erzählkunst des 18. Jahrhunderts, sondern auch zu den erfolgreichen, wurden in den ersten Monaten doch immerhin drei Auflagen mit etwa 10.000 Exemplaren gedruckt. Die breite Zustimmung, die der Roman beim Publikum gefunden hatte, wurde von der Kritik allerdings nicht durchgängig geteilt; wohlwollende Bewertungen wechselten sich mit scharfzüngigen Polemiken und persönlichen Verunglimpfungen des Autors ab. Als besonderen Vorzug priesen die Kritiker wiederholt die Konstruktion der Handlung in 18 Büchern an, die einen wohl durchdachten Grundriss erkennen lasse. Samuel T. Coleridge äußerte sich begeistert über die Vollkommenheit der Komposition, die ihn an Sophokles' "Oedipus Tyrannus" und Ben Jonsons "The Alchemist" erinnerte. William M. Thackeray bezeichnete den Bau der Romanhandlung gar als "ein Wunder". In das strukturelle Triptychon des Handlungsaufbaus sei eine Zweiteilung eingeschrieben, die dem Eindruck der mechanischen Regelmäßigkeit entgegenwirke und im Übrigen dem klassizistischen Schönheitsideal entspreche: "Order in Variety."

Fielding gewinnt seine Romanform, indem er ständig Stilelemente des klassischen Epos parodiert. An pointierter Stelle spricht der Erzähler einmal von der Heldin dieses "heroic, historical prosaic poem", an anderer Stelle von "prosai-comi-epic writing". Der Anspruch auf Begründung eines neuen Genres wird paradoxerweise in Formulierungen vorgetragen, die in eklektisch anmutender Weise traditionelle Gattungen miteinander verknüpfen. In manchen Details sind Bezüge zwischen "Tom Jones" und dem klassischen Epos intendiert, etwa in der Parodie auf Homerische Schlachtenschilderungen in Molly Seagrims handgreiflicher Auseinandersetzung mit den aufgebrachten Dörflerinnen oder dem Musenanruf im ersten Kapitel des XIII. Buches, der im hohen Stil gehalten ist, und in dem der Erzähler zwar nicht die Unterstützung der antiken Schutzgöttinnen der Kunst erfleht, doch dafür um die Hilfe von Genie, Menschlichkeit, Wissenschaft und Erfahrung bittet. Rhetorisches Pathos schlägt unvermittelt in nüchterne Alltagssprache um: "Twelve times did the iron register of time beat on the sonorous bell-metal, summoning the ghosts to rise, and walk their nightly round. - In plainer language, it was twelve o'lock ..."

Gleichwohl handelt es sich natürlich keineswegs um ein Epos redivivus des 18. Jahrhunderts, das Fielding im Sinne hatte. Obwohl gewisse Anklänge an die Homerische Gattung bestehen, sind doch die Unterschiede größer. Die Handlung des Romans spielt nicht in einer weit zurückliegenden Zeit, sondern in der zeitgenössischen, nach Klassen und Schichten differenzierten Gesellschaft des Jahres 1745. Den stark individualisierten und am Wertekatalog von benevolentia und prudentia ausgerichteten Figuren, die weder der Mythologie noch der nationalen Geschichte entstammen, fehlt es an heroischer, "übermenschlicher" Dimension, die den Helden der klassischen Epen eigen ist. Fielding hat somit etwas geschrieben, was möglicherweise innovativer, in jedem Fall aber folgenreicher für die weitere Entwicklung der Gattung war: eine Kontrafaktur des Epos, eine "bürgerliche Epopöe", die seinen Roman vor allem für die deutsche Rezeption so interessant machte. Auf die Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzende Entwicklung des deutschen Romans übte "Tom Jones" daher nachhaltigen Einfluss aus. Für Lichtenberg war Fieldings Roman "gewiß eines der besten Werke, die je geschrieben worden sind", Wieland und Musäus gehörten zu den Ersten, die mit ihrer Prosa an Fielding anknüpften, und auch Goethe äußerte sich in seinem "Versuch über die Dichtungen" wohlwollend: "Zu zeigen, wie ungewiß das Urteil sich auf den äußern Schein gründe, zu zeigen, welches Übergewicht die natürlichen Eigenschaften über jene Reputationen haben, denen nur die Rücksicht äußerer Verhältnisse zu Gute kommt, dieses hatte der Verfasser des Tom Jones vor Augen, und es ist einer der nützlichsten und mit Recht berühmtesten Romane". Die gerade bei Manesse erschienene, gewohnt prächtig ausgestattete Neuausgabe mit der hervorragenden Übersetzung von Eike Schönfeld ist ein willkommener Anlass für die erneute Lektüre eines der witzigsten Romane der Weltliteratur.

Titelbild

Henry Fielding: Tom Jones. Roman. 2 Bände.
Übersetzt aus dem Englischen von Eike Schönfeld.
Manesse Verlag, Zürich 2004.
1664 Seiten, 53,80 EUR.
ISBN-10: 3717501089

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