Im Nebel ruhet noch die Welt

Ein Handbuch und zwei Biografien über Eduard Mörike

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie in diesem Jahr bei Kant und Tschechow und im nächsten Jahr bei Schiller wurde auch bei Mörike das Jubiläumsjahr 2004 zum Anlass für die Veröffentlichung einiger grundlegender Monografien und Handbücher genommen. Der Leser der Biografien ist vor allem aufgefordert, sein vorhandenes Vorurteil von einem biedermeierlichen Mörike zu korrigieren. Allerdings fragt man sich, welcher Leser mit diesem Wissensstand eine umfangreiche Biografie über den Dichter zur Hand nehmen sollte. Im Falle des vorliegenden Handbuches lässt sich diese Frage leichter beantworten, ist ein "Handbuch" doch schon für den Literaturwissenschaftler oder den interessierten Leser konzipiert.

Das von Inge und Reiner Wild im Metzler Verlag herausgegebene Mörike-Handbuch beschreibt im Untertitel "Leben - Werk - Wirkung" zentrale Inhalte und damit auch die Gliederung des Bandes. Der Abschnitt "literatur- und kulturhistorisches Umfeld" ordnet Mörikes Biografie in seine Zeit ein und baut ein Beziehungsgeflecht auf. Anschließend folgen die Abschnitte "Werk" und "Wirkung und Rezeption". Die Werke sind nach Gattungen gegliedert, innerhalb der Gedichte die entsprechenden erläuternden Artikel chronologisch. Hier hätte man sich vielleicht auch eine durchgehend chronologische Betrachtungsweise vorstellen können. Eine entsprechende Strukturierung wäre vom Leser zu leisten. Das wissenschaftlich gut gemachte und am Ende jedes Abschnittes mit einem Literaturverzeichnis auch zum wissenschaftlichen Arbeiten geeignete Handbuch wird sowohl an den Universitäten zur Standardlektüre avancieren und in keinem Mörike-Seminar außer Acht gelassen werden können. Darüber hinaus ist es dem literaturgeschichtlich interessierten Mörike-Leser ein hilfreiches Nachschlagewerk.

Warum sollte die ebenfalls 2004 erschienene Mörike-Biografie von Veronika Beci mit ihrer biografischen Betrachtung des Schriftstellerlebens den Leser bereichern? Allein deshalb, weil Beci, wie schon in ihren Arbeiten über Schubert und Zola, einen gut lesbaren und gut recherchierten Text vorgelegt hat. Der Ansatzpunkt für die Betrachtung Mörikes wird von der Autorin leicht ironisierend und pädagogisch geschickt genutzt: "Eduard Mörike, den kennen wir doch. Wir glauben es zumindest. Auf Weniges beschränkt sich unser Bild des Dichters: Vor uns steht ein gemütlicher, etwas weltfremder und müder Biedermeiermensch im Habit des evangelischen Pfarrers, ein Idyllenschreiber und Einsiedler, der zurückgezogen und etwas unbeholfen in seiner weltabgeschiedenen Pfarre getreulich, mitunter ein bisschen nachlässig seinen Dienst versieht. Kaum mag man glauben, dass Mörike ein verheirateter Mann war, Vater zweier Töchter - Zeugungskraft passt nicht zum Bild des ein Leben lang von allerlei Krankheiten und Kränkeleien geplagten Träumers."

Anschließend wird der Leser dann auf die Reise durch das Leben des Dichters Mörike vorbereitet: "Alles ist Idylle. Grüne taufrische Natur umgibt die malerischen Dörfer und Städte, die Jagst-, Neckar- und Donauufer säumen, sich in die waldreichen Täler schmiegen, zu Füßen mächtiger Burgen, den Zeugen vergangener ritterlicher Kultur. Württemberg bietet abwechslungsreiche, vielgestaltige Landschaftsbilder. Sonnenbeschienene Uferauen am beinahe mediterranen Bodensee, blühende Obsthaine im fruchtbaren Unterland, grüne Weinterrassen, auf denen Trollinger und Schwarzriesling, die Lieblingsweine der schwäbischen Zecher, gedeihen. Das Land bewahrt urwüchsige Naturszenerien wie den Wasserfall bei Urach, den Blautopf von Blaubeuren, die schilfreiche Riedlandschaft um den Federsee, die herben Wacholderheiden der Schwäbischen Alb, Heimat der Wanderschäfer." Die bei Beci manchmal etwas zu 'blumenreichen' Ausschmückungen überdecken aber nicht die Kontextinformationen, die die Zwischentöne der Biografie Mörikes illustrieren. Durchweg werden biografische Details mitgeteilt, die das vermeintliche Bild von der ländlichen Dichteridylle trüben. Dazu vergleiche man etwa den Abschnitt über die innerfamiliären Probleme, die Mörike mit und gegen seine Brüder bestehen muss. Auch ist der Eintritt des Vierzigjährigen in den Pensionsstand von Geldsorgen begleitet und bringt ihm nicht wirkliche Entlastung für sein schriftstellerisches Schaffen: "Wenn der Geldmangel nicht wäre, könnte Mörike sich kein besseres Leben vorstellen, als seinen Steckenpferden nachzugehen, Ausflüge in die Natur zu machen, zu träumen, zu schreiben und Solbäder zu genießen. Rentnerleben mit vierzig! Stattdessen muss jeder Heller zweimal umgedreht werden, und dennoch leistet Eduard seinem wieder einmal arbeitslosen Bruder Ludwig Bürgschaft."

Beci spürt nicht vermutete erotische Seiten Mörikes auf, zieht Archivmaterialien, Fotografien und Werkinterpretationen hinzu, um in jeder Hinsicht ein komplexes Persönlichkeitsbild entstehen zu lassen. Die 'seltsame' Dreierbeziehung zwischen Mörike, seiner Ehefrau und seiner Schwester wird dabei nicht ausgespart. Ihr Fazit, das sie auf nahezu jeder Seite der Biografie im Auge behält, sieht den Dichter denn auch von nichts weniger als von der Idylle umhüllt: "Wenig in diesem Leben war idyllisch, wenig war ungetrübt. Jedes geschriebene Wort ist schwer dem drückenden Alltag, den körperlichen Schmerzen, zuweilen der eigenen Bequemlichkeit abgetrotzt worden. Das macht Mörikes Dichtungen für uns Nachgeborene jedoch nur um so kostbarer." Der geneigte Leser entscheide daher selbst, ob er Frau Becis illuminierende Betrachtungsweise benötigt, um aus dem Werk neue Erkenntnisse zu schöpfen.

Ehrenfried Kluckert nun legt eine wissenschaftlich fundierte Biografie zu "Leben und Werk" Mörikes vor. Ein Unterschied zwischen den Biografien fällt dem Leser sofort ins Auge. Die Kapitelüberschriften haben bei Beci einen oft poetischeren - wenn man es positiv formulieren möchte - Duktus, einen effekthascherischen, wenn man es negativ formulierte. Sie sind Indiz und Konzept der gesamten Darstellung. Ebenso wie Beci geht Kluckert zwar chronologisch vor, durchschreitet das Leben des Dichters allerdings in anderen Zeiträumen, gewichtet die Lebensabschnitte anders. Beide Darstellungen ergänzen sich in dieser Hinsicht und bieten jeweils eine modifizierte Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand. Bei Kluckert findet man über die biografische Darstellung hinaus noch einen Abschnitt "Forschung". Dieser ist in die Unterkapitel "Vorbemerkung", "Quellen und Biographien", "Wirkung und dichterische Leistung", "Gedichte und Balladen" und "Nolten-Roman und Erzählungen" unterteilt und gibt, neben einer kritischen Einleitung, einen hervorragenden und sehr informativen Einblick über den Forschungsstand zu Eduard Mörike und zur relevanten weiterführenden Literatur. Hier unterscheidet sich Kluckerts Arbeit von der Monografie Becis sehr positiv.

Was den Leser bei Kluckert besonders zur Lektüre motivieren könnte, würde er - wenn man ihn nicht im Vorfeld darauf hinwiese - erst am Ende der Biografie in einigen persönlichen Zeilen des Verfassers finden, in denen er sein Verhältnis zu Mörike beschreibt: "Mein Mörike-Bild, zumindest, was seine Dichtung betraf, war nicht fest gefügt, sondern dynamisch. Ich versuchte nicht einmal, ihn in ein literarisches Muster zu ordnen. Es wäre mir ohnehin nicht gelungen. Was ich mir schuf, war so etwas wie ein persönliches Assoziationsfeld: Mit der Prosa von Goethe und Schiller verband ich monumentale Figurenfriese antiker Tempel, und die Romane von Fontane dachte ich mir als gestanztes Filigranwerk neogotischer Kirchtürme. Dazwischen schwebte das Werk Eduard Mörikes - gleichsam wie ein zartes Rokoko-Ornament, das sich impressionistisch verflüchtigte. Das betraf nicht nur sein heiteres, höfisches Geselligkeitsszenarium, sondern auch seine Lyrik: 'O flaumenleichte Zeit der dunklen Frühe!'" So ist die Biografie Kluckerts vielleicht an manchen Stellen nicht so einfach zugänglich wie die von Beci, aber sie steht auf einer fundierteren wissenschaftlichen Grundlage und es gelingt ihr auch, dies in die Darstellung einzubringen.

Die Biografie von Beci ist sicherlich für den Einstieg in das Thema "Eduard Mörike" geeignet. Die Lektüre von Kluckerts Monografie schafft es ebenso, den Leser in die Welt Mörikes zu entführen, wobei hier die Darstellung wissenschaftlich kompetenter erscheint. Das Handbuch von Inge und Reiner Wild bietet die Vertiefung des Themas auf allen Ebenen und liefert das wissenschaftliche Material strukturiert aufbereitet für die jeweiligen Bedürfnisse verschiedener Lesergruppen - bis hin zum Forschungsseminar an der Universität. Für den Rezensenten war und ist das Handbuch sicherlich das hilfreichste der drei "Mörike-Bücher".

Titelbild

Ehrenfried Kluckert: Eduard Mörike. Sein Leben und Werk.
DuMont Buchverlag, Köln 2004.
304 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3832178465

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Veronika Beci: Eduard Mörike. Die gestörte Idylle. Biographie.
Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf 2004.
417 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-10: 3538071764

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Inge Wild / Reiner Wild (Hg.): Mörike Handbuch. Leben - Werk - Wirkung.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2004.
279 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-10: 3476018121

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