Der Bücherfresser

Ein Handbüchlein versammelt Elias Canettis Aufzeichnungen "Über die Dichter"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der mehr als einmal zitierte Satz aus Elias Canettis Aufzeichnungen "Das Geheimherz der Uhr": "Die bescheidene Aufgabe des Dichters ist am Ende vielleicht die wichtigste: das Weitertragen des Gelesenen", könnte als Motto über einem jüngst bei Hanser erschienenen und mit einem Vorwort von Peter von Matt versehenen Bändchen stehen, das Aussagen Canettis "Über die Dichter" versammelt. Der Lektüre-Kosmos des 1994 verstorbenen Literaturnobelpreisträgers zeichnet sich durch eine geradezu enzyklopädische Weite aus: Von Aristophanes und Sophokles zu Dante und Cervantes, von der Bibel und den jüdischen Sagen zu John Donne und Nietzsche, von Goethe und Lichtenberg zu Stendhal und Büchner, von Flaubert und Dickens zu Kafka und Robert Walser reichen die Spuren der Lektüre Canettis, die sich nicht selten als Subtexte in seine eigenen Texte eingeschrieben und diese dadurch entscheidend mitkonstituiert haben.

Canettis Leseakte stehen im Spannungsfeld zweier Entwürfe dessen, was die "Lesbarkeit der Welt" zu sein vermag: Hans Blumenbergs Auffassung von der Lesbarkeit der Welt als einer Metapher, die die Form der Erfahrung von Wirklichkeit liefert und Paul de Mans Begriff des "Lesens" als einem unvermeidlichen Sich-Verlesen, einer Dekonstruktion von realer Gegenwart im Leseakt. Canettis Lektüren haben an der sich abzeichnenden Gebrochenheit und Fragilität der Vorstellung einer Lesbarkeit der Welt teil und arbeiten sich gleichzeitig an ihr ab. Es ist nicht zuletzt ein Feld problematisierter Wahrnehmung, das sich auf der Schnittstelle zwischen zwei unterschiedlichen Lektüren aufrichtet: dem Akt menschlichen Zeichenerwerbs einerseits und jenem Akt autobiografischer Selbstvergewisserung andererseits, der seit Augustinus zum Kernargument menschlicher Selbstfindung und -vergewisserung in der Welt gehört. Die Lebensgeschichte Canettis ist die Geschichte eines Menschen, der im Spiel der Zeichen die Wahrnehmung der Welt erlernt: als ein Lesen des Selbst und ein Lesen des Anderen, das ihm begegnet. Von nichts anderem sprechen die drei Bände der Autobiografie Canettis, sein monumentales Werk über "Masse und Macht", aber auch sein grandioser Roman "Die Blendung".

Treffend spricht Peter von Matt in seinem Nachwort von der Körperlichkeit der Lektüre Canettis, dessen "Verehren ein Verzehren" und dessen "Verabscheuen ein Ausspeien" war, um auch auf den rituellen Charakter von Canettis Umgang mit Dichtung und Dichtern, Denkern und Gedanken zu verweisen. Dies verdeutlicht etwa eine Aufzeichnung aus der Sammlung "Das Gewissen der Worte", in der Canetti vom "wahre[n] Dichter" als dem "Hund seiner Zeit" spricht und die der Anthologie vorangestellt ist: "in alles steckt er die feuchte Schnauze, nichts wird ausgelassen, er kehrt auch zurück, er beginnt von neuem, er ist unersättlich; im übrigen schläft und frißt er, aber nicht das unterscheidet ihn von den anderen Wesen, was ihn unterscheidet, ist die unheimliche Beharrlichkeit in seinem Laster, dieses von Laufen unterbrochene innige und ausführliche Genießen; so wie er nie genug bekommt, bekommt er auch nicht rasch genug; ja es ist, als hätte er für das Laster seiner Schnauze eigens laufen gelernt". Eigentlich unnötig darauf hinzuweisen, dass Canetti sich mit dieser Figur selbst porträtiert.

In den drei hier versammelten großen Essays über Büchner, Kraus und Kafka thematisiert Canetti vor allem die Verwandlung des Ich in der und durch die Lektüre als Modell für das, was zwischen Canetti und den Dichtern sowie zwischen Canetti und den Büchern dieser Dichter stattfindet. Das Ich wird zum Anderen in einer nie ganz zu erklärenden Verschmelzung, die aber die unabdingbare Voraussetzung dafür ist, dass der Andere im Akt der Trennung der wirklich Andere des Ich sein und bleiben kann. In der Büchner-Rede heißt es diesbezüglich über das Verhältnis von Büchner und Lenz: "Ein Stück seines brüchigen Lebens ist er mit Lenz gegangen, in ihn verwandelt und zugleich sein Begleiter, der ihn als Anderer unbeirrbar von außen sah. Ein Ende gab es dafür nicht, nicht für die Ausgestoßenheit, nicht für die Flucht, es gab nur dasselbe immer weiter".

Canettis Lektüren sind von jener streunenden Neugierde bestimmt, von der die Hundemetapher spricht. Sie sind willkürlich, keineswegs systematisch und in ihrer Bewertung fast ausschließlich superlativisch, weil sie nur die Extreme der Verehrung oder des Verabscheuens kennen. Als Leser steht man vor Canettis Aufzeichnungen seiner Lektüren - wie von Matt anschaulich beschreibt - wie vor "der Landschaft eines rastlosen, leidenschaftlichen Geistes. Sie hat sich herausgebildet über die Eruptionen von Entzücken und Abscheu. Die Vielfalt der Formen gewinnt sie aus der Sprachnot der Leidenschaft, die zu Paradoxen zwingt, zu verwegenen Bildern und orakelhaften Verkürzungen".

Die hier vorgelegte Auswahl aus den Aufzeichnungen und Essays des verzehrenden und verdauenden Jahrhundertlesers und Bücherfressers Elias Canetti bereitet nicht nur höchstes Lesevergnügen, sondern dürfte jedem nach Hintergründen suchenden Canetti-Leser zukünftig als unentbehrliches Handbüchlein dienen.

Titelbild

Elias Canetti: Über die Dichter.
Mit einem Nachwort von Peter von Matt.
Carl Hanser Verlag, München 2004.
136 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3446204709

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