"Die Erzeugung sozial, geistig und moralisch minderwertiger Menschen verhüten"

Thomas Huonkers Studie zur 'Rassenhygiene' im Dienst der Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie von 1890 bis 1970

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn man von Zwangssterilisation, 'Rassenhygiene' und Eugenik hört, denkt man sogleich an die Verbrechen der Nationalsozialisten. Zu Recht! Doch wurden sie seit Beginn des 20. Jahrhunderts unter Bezugnahme auf sozialdarwinistische Argumente auch von linken Sozialisten propagiert. So sah etwa Paul Flüger 1917 die "wichtigste Aufgabe" darin, "die Erzeugung sozial, geistig und moralisch minderwertiger Menschen zu verhüten". Dies diene der "Bekämpfung der Trunksucht, des Dirnenwesens, der Wohnungsnot, der Verwahrlosung der Jugend". Auch wurden Zwangssterilisation und -kastration nicht nur in Nazideutschland durchgeführt, sondern auch in etlichen Rechtsstaaten wie etwa den USA, England, Frankreich, den skandinavischen Staaten und auch in der Schweiz. Hier sogar bis weit in die 80er Jahre des gerade zu Ende gegangenen Jahrhunderts. So sind in den Jahren von 1980 bis 1987 nicht weniger als 24 'geistig behinderte' Frauen und Mädchen im Alter von 17 bis 25 Jahren sterilisiert worden, davon 23 ohne dies zu wünschen.

Diesen Zeitraum fasst Thomas Huonkers Studie über Kastration, Sterilisation und 'Rassenhygiene' im Dienst der Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie zwar nicht mehr ins Auge, doch was sie für die Jahre 1890 bis 1970 zusammenträgt, ist nicht weniger erschreckend. Am Beispiel Zürichs und dessen nationaler wie internationaler "Ausstrahlung" zeigt Huonker, welchen Einfluss 'rassenhygienische' und eugenische' Theorien in diesem Zeitraum auf die Praxis von Fürsorge, Justiz und Medizin hatten. Sein besonderes Augenmerk gilt zunächst dem Kontrollapparat der Fürsorge-Institutionen, dessen so genannter "Erkundigungsdienst" in diesen 80 Jahren zwischen 100.000 und 200.000 Berichte über Einzelpersonen anfertigte, die selbst die "intimsten Details aus dem Leben unzähliger Einzelpersonen und Familien" nicht verschwiegen. Diese "Bespitzelungs- und Überwachungstätigkeit" wurde bis in das Jahr 1990 fortgeführt. Dann wurde sie abrupt beendet, oft "mitten in angefangenen Dossiers". Anlass für das Ende des Bespitzelungswesens dürfte, so vermutet Huonker, der - von ihm leider nicht weiter erläuterte - "Fichenskandal" gewesen sein.

Ziel der 'fürsorglichen' Aktivitäten war es, "soziale Probleme wie Alkoholismus, Kriminalität, Prostitution etc." zu beheben. Gemäß den "rassengesundheitlichen" Grundsätzen der Fürsorge-Institutionen zählten zu den ergriffenen Maßnahmen auch die Verhinderung der Zeugung "sozial, geistig und moralisch minderwertiger Menschen" etwa durch "Eheverbote, die mit ärztlicher Begutachtung verbunden waren", Sterilisation, Schwangerschaftsabbrüche und "Kastrationen mit Zwangscharakter".

Im Laufe des Untersuchungszeitraums sollten die vier Direktoren der bei Zürich gelegenen Klinik Burghölzli, August Forel, Eugen Bleuler, Hans Wolfgang Maier und Manfred Bleuler, Zürich zu einem europäischen "Knotenpunkt" der Eugenik machen. Forel, "in Theorie und Praxis ein profilierter Vertreter der 'Eugenik' und 'Rassenhygiene'", trauerte zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts der - wie er sagte - "guten alten Zeit" nach, in der man "mit unfähigen Menschen kürzeren Prozess als heute" gemacht habe: "Eine ungeheure Zahl pathologischer Hirne, die [...] die Gesellschaft schädigten, wurden kurz und bündig hingerichtet, gehängt oder geköpft; der Prozess war insofern erfolgreich, als die Leute sich nicht weiter vermehren und die Gesellschaft mit ihren entarteten Keimen nicht weiter verpesten konnten", schwärmte Forel.

Zwar beschloss die 36. Jahresversammlung der Schweizer "Irrenärzte" 1905 einstimmig, dass die Sterilisation bzw. Kastration von "Irren" wünschenswert sei, doch der Gesetzgeber lehnte Forels Entwurf einer entsprechenden Gesetzesvorlage ab. So fanden die der Eugenik anhängenden Mediziner andere Wege, ihre Vorstellungen praktisch werden zu lassen: Sie veranlassten Eltern und Vormünder der für Kastrationen und Sterilisationen Vorgesehenen dazu, in die Maßnahme einzuwilligen, oder sie nötigten die Betroffen selbst unter Androhung lebenslanger Internierung im "Irrenhaus", einem solchen Eingriff zuzustimmen. Zudem stellten sie sicher, dass sie nicht nur bei medizinischen, sondern auch bei sozialen oder eugenischen Indikationen nicht von den zuständigen Justizbehörden vor Ort belangt wurden. Nicht nur "Irre" waren von Zwangssterilisation bedroht, sondern auch so genannte "Trinkerfrauen" oder Menschen mit körperlichen Gebrechen, wie etwa Gehörlose.

Etliche der über 1.000 "Fallgeschichten", deren Akten ihm zugänglich waren, stellt Huonker vor. Darunter besonders ausführlich die des 1896 geborenen Schriftstellers Friedrich Glauser, der von 1918 bis zu seinem Tod 1938 Mündel des 1. Zürcher Amtsvormunds war. Glausers Mündelaktendossier umfasst nicht weniger als 1756 Aktenstücke. Die über ihn im Laufe der Jahre verhängten Diagnosen lauteten auf "Hebephrenie", "Dementia praecox", "angeborene moral insanity", sowie ein "gemeingefährlicher Geisteskranker" zu sein und an "moralische[m] Schwachsinn" zu leiden. Auch wurde ihm schon mal "normales Verhalten" bescheinigt oder zwar "willensschwach", aber "nicht geisteskrank" zu sein. Die zur Verhinderung seiner Fortpflanzung ergriffenen Maßnahmen umfassten "Eheverbot, die Sterilisationsandrohung und das Verbot, Kinder zu haben".

Titelbild

Thomas Huonker: Diagnose: "Moralisch defekt". Kastration, Sterilisation und Rassenhygiene im Dienst der Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie 1890-1970.
Orell Füssli Verlag, Zürich 2003.
286 Seiten, 29,50 EUR.
ISBN-10: 3280060036

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