"Lebenswahrheiten" aus der Provinz

Der Band "Die Dame mit dem Hündchen" versammelt späte Erzählungen Anton Tschechows

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die russische Provinz steht im Mittelpunkt der sechszehn Erzählungen aus den Jahren 1896 bis 1903, mit denen die vierbändige Neuausgabe der Gesammelten Tschechow-Erzählungen in der Reihe "Winkler Weltliteratur" von Artemis & Winkler abschließt. In diese Zeit fallen Tschechows große Erfolge am Moskauer Künstlertheater: 1898 wurde, zwei Jahre nach der erfolglosen Uraufführung in Petersburg, "Die Möwe" wiederaufgeführt, 1899 folgte "Onkel Wanja", 1901 "Drei Schwestern" und 1904, in Tschechows Todesjahr, "Der Kirschgarten". Doch blieb Tschechow auch während dieser triumphalen Theatererfolge der Prosa, seinem "Eheweib", wie er einmal sagte, treu, trotz - oder gerade wegen - der "effektvollen, lärmenden, dreisten und ermüdenden Geliebte[n]", als die er das Drama bezeichnet hatte.

Allerdings hatten die Erzählungen sich seit den schriftstellerischen Anfängen verändert. Es waren nicht mehr die humorvollen, zuweilen ironisch-bissigen Geschichten, die "komischen kleinen Sachen" des Antoscha Tschechonte, des Spaßmachers, wie er sich selbst einmal benannt hatte. Die hier versammelten späten Geschichten zeichnet, ähnlich den Theaterstücken, eine melancholisch-traurige Ernsthaftigkeit aus. Zudem gibt es kaum etwas zu erzählen in diesen Erzählungen, weil nichts oder wenig geschieht in der russischen Provinz. Das gibt den Erzählungen einen ruhigen Grund, auf welchem Tschechow sich mit seiner ganzen Kunst auf die Personen, ihre Lebensschicksale, ihre Empfindungen und Erfahrungen konzentrieren kann. Weil er sich als genauer Beobachter jeder unmittelbaren Bewertung seiner Figuren oder ihrer Lebensumstände enthält, kann er umso intensiver jene "Lebenswahrheiten" beschreiben, die Thomas Mann einst in Tschechows Erzählungen bewunderte.

Zu diesen Lebenswahrheiten gehört dann freilich auch die soziale und politische Lage in der russischen Provinz. So spielt in nahezu allen Geschichten das kaum vorstellbare Elend der Landbevölkerung in diesen Jahren, nur kurze Zeit nach der Beendigung der Leibeigenschaft, ein Rolle. Ein gefährlicher Sog geht von diesem Elend aus. Heimkehrer aus der Stadt, wie sie in den Erzählungen "Bauern" oder "In der Heimat" vorgestellt werden, sind überfordert und hilflos den Umständen ausgeliefert. "Wenn er an seine Kindheit dachte," so erfahren wir in "Bauern" über Nikolai, der seine Stellung als Lakai in einem Moskauer Hotel verloren hat und nun gemeinsam mit Frau und Kind wieder zurück in sein Heimatdorf kommt, "stellte er sich sein Zuhause immer hell, gemütlich und angenehm vor, doch als er jetzt die Kate betrat, erschrak er, so finster war es, so eng und so unsauber." Auch in der Erzählung "In der Heimat" idealisiert die ihr Erbe antretende Wera Iwanowna Kardina die Provinz: "Man brauchte nicht zu leben, man brauchte nur mit dieser prachtvollen Steppe, die grenzenlos und gleichmütig war wie die Ewigkeit, mit ihren Farben, ihren Hünengräbern und ihrer Weite zu verschmelzen, dann wäre alles gut ..."

Aber nichts ist gut hier. Armut, Dummheit, Trägheit, Unterwürfigkeit und wodkabetäubte Passivität - all das quält nicht nur die Betroffenen, sondern auch die besseren Herrschaften. Manch einer von ihnen wünscht sich die Leibeigenschaft samt Prügelstrafe zurück, um den verstockten Bauern Beine machen zu können. Und haben die ihre Armut nicht selber zu verantworten? Auch solche Gutmeinenden wie der "Künstler" in der Erzählung "Das Haus mit dem Mezzanin" verzweifeln an der tumben Wodkasucht, dem ewigen Schmutz, dem Dreck in den elenden Behausungen und der passiven Leidenshaltung der Mushiks. Devot und betäubt erdulden sie ihr Dasein, unfähig zu eigener Aktion. In der Erzählung "Bauern" starren sie untätig auf ein brennendes Haus in ihrem Dorf. Erst als die 'Herrschaft' endlich dazukommt und Anweisungen erteilt, löst sich die Erstarrung, und sie helfen bei den Löscharbeiten.

Besonders eindringlich schildert Tschechow die soziale Lage und die damit einhergehende mentale Verfassung der Menschen in der Erzählung "Mein Leben". Die "Erzählung eines Provinzlers", die umfangreichste in diesem Band, ist ein Meisterwerk, voll rührender Menschlichkeit trotz ihrer tristen Perspektivlosigkeit. Der Ich-Erzähler ist eine Ausnahmefigur unter Tschechows Provinzlern. Der Sohn eines anerkannten Architekten verweigert sich allen Erwartungen seines Standes und lebt ein selbstbestimmtes Leben als Arbeiter in der Provinzstadt. Er lebt konsequent sein Außenseitertum und kann eben aus dieser Perspektive umso klarsichtiger das Leben um ihn herum beschreiben - eine Sozialgeschichte en miniature! Es ergibt sich das ziemlich desaströse Bild einer haltlosen dumpfen Gesellschaft, deren einer Teil in Verlogenheit und leerem Standesbewusstsein sich zu behaupten versucht, während der andere Teil wodka- und schlammbesudelt sein Elend als Bauer oder Arbeiter erträgt. Zugleich wird deutlich, dass beide Haltungen sich gegenseitig bedingen. Darin liegt die trostlose Hoffnungslosigkeit der Provinz. Nichts ändert sich aufgrund der selbstzufriedenen Dummheit.

Wie eine Zusammenfassung dieses Zustands der Provinz liest sich die Erzählung "Der Mensch im Futteral". Zwei Männer erzählen sich die Geschichte des Griechischlehrers Belikow, der mit seinem Motto: Nur Verbote schaffen Klarheit! Genehmigungen schaffen Risiken! seine Umgebung dominiert. Es herrscht ein Klima von Niedergeschlagenheit, dumpfer Furcht und langweiliger Passivität - und alle lassen es sich gefallen: "Ja. Denkende, anständige Leute, lesen Schtedrin, Turgenjew und noch andere, solche wie Buckle und so weiter, und haben sich doch geduckt, sich abgefunden ... Das ist es ja gerade." Nichts ändert sich: "Was tut man bei uns in der Provinz nicht alles aus Langeweile, wieviel Unnötiges und Unsinniges! Und das allein, weil man gerade, was nötig wäre, nicht tut."

Dennoch ist eine "Lebenswahrheit", das auch in dieser Lage jedes Leben lebenswert ist. Dafür steht die Liebesgeschichte in der titelgebenden Erzählung "Die Dame mit dem Hündchen" ebenso wie die vielleicht schönste Erzählung der Sammlung "In der Schlucht". In dieser behauptet sich das Leben einer Tagelöhnerin gegenüber dem skrupellosen materiellen Ehrgeiz einer neid- und missgünstigen Umgebung. Tschechow kontrastiert die Geschichte einer Kaufmannsfamilie immer wieder mit eindrucksvollen Naturschilderungen. Die Reinheit und Schönheit der Natur verweist umso drastischer auf den Verlust der Unschuld und die Seelenzerstörung in der Provinz. In eben diesem Sinne wird sie zur Verbündeten der Tagelöhnerin, die ebenso wie sie eine letzte stille Würde wahren kann.

Titelbild

Anton Tschechow: Die Dame mit dem Hündchen. Erzählungen 1896-1903.
Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf 2004.
520 Seiten, 44,90 EUR.
ISBN-10: 3538069816

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch